Agatha Dietschi

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Agatha Dietschi, auch bekannt als Hans Kaiser und Schnitter Hensli († nach 1547), wurde in Freiburg im Breisgau der Ketzerei angeklagt, weil sie sich als Mann ausgegeben hatte und eine Ehe mit einer Frau eingegangen war. Sie gilt als ein frühes Beispiel für die Strafverfolgung einer homosexuellen Frau.

Leben[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Dietschi stammte aus Wehingen und war dort mit einem Mann verheiratet. In Neidingen an der unteren Donau lernte sie später Anna Reuli kennen. Als sie dort zum ersten Mal erschien, trat sie als Mann in Begleitung einer Frau und eines älteren Kindes auf. Zwischenzeitlich verschwunden, kehrte Dietschi alleine nach Neidingen zurück und gab an, Frau und Kind seien gestorben. Unter dem Namen Hans Kaiser, genannt Schnitter Hensli, arbeitete Dietschi nachweislich seit 1538 als Landarbeiter im Donautal und heiratete schließlich – mit Zustimmung der Gemeinde – Anna Reuli.[1]

Nach acht Jahren Ehe ging Reuli eine Beziehung mit Marx Gross ein und entschied sich, die Scheidung von Dietschi/Kaiser zu verlangen. Zusammen mit ihrem Schwager, dem sie anvertraut hatte, dass ihr Ehemann in Wahrheit eine Frau sei, zeigte Reuli ihren Ehemann an. Dieser floh daraufhin nach Freiburg im Breisgau und wurde dort 1547 festgenommen. Im Scheidungsprozess leugnete Reuli, mit Dietschi/Kaiser in einem sexuellen Verhältnis gestanden zu haben. Gross, der Reuli vor Bestrafung schützen wollte, versicherte, dass sie beim ersten gemeinsamen Geschlechtsverkehr noch Jungfrau gewesen sei. Demgegenüber sagten Zeugen aus, Dietschi/Kaiser und Reuli beim gemeinsamen Liebesspiel beobachtet zu haben. Die Ermittlungen ergaben, dass Dietschi/Kaiser bereits mehrfach verheiratet gewesen war – als Mann und als Frau.[1] Dietschi/Kaiser behauptete vor Gericht, von einem „bösen Weib“ verzaubert worden zu sein, daher „in Mannskleidung gehen“ zu müssen und „auch keinen Mann mehr lieb gewinnen“ zu können.[2]

Entscheidend für die Anklage der Ketzerei war der Nachweis sexueller Handlungen zwischen Personen desselben Geschlechts. Bei Dietschi wurde ein phallisches Hilfsmittel, jnnstrument oder rüstung genannt, gefunden, das beim Akt zwischen Frauen verwendet werden konnte,[1] vergleichbar mit einem Strap-on-Dildo. Sie gestand, es zu Beginn ihrer Ehe mit Anna Reuli benutzt zu haben, was die Verhaftung Reulis nach sich zog. Für Reuli ist indes keine, für Dietschi eine vergleichsweise milde Strafe überliefert. Offenbar hatte man trotz vorhandener Indizien angenommen, dass die Penetration nicht erfolgreich war und daher die Ehe nicht vollzogen worden ist.[3] Die Verwendung des penisähnlichen Instruments stellte gleichwohl eine verbotene Verkehrung der Geschlechterhierarchie dar und wurde bestraft: Dietschi/Kaiser wurde 1548 mehrere Tage lang am Freiburger Münsterplatz an den Pranger gestellt und anschließend aus der Stadt verbannt.[4]

In einem ähnlichen Fall wurde Katherina Hetzeldorfer 1477 bei Speyer im Rhein ertränkt.[3] Homosexualität unter Frauen wurde wesentlich seltener strafrechtlich verfolgt als bei Männern: „Das Strafrisiko für Frauen stieg insbes[ondere] dort, wo sie sich männlicher Geschlechts- und Sexualrollen bedienten“.[3] Auch in Freiburg war der Prozess um Dietschi/Kaiser sehr ungewöhnlich.[4]

Nachwirkung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Agatha Dietschi aka Hans Kaiser
Ria Brodell, 2018
Gouache auf Papier
28 × 18 cm

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Das Freiburger Theaterkollektiv „RaumZeit“ inszenierte das Leben Agatha Dietschis bzw. Hans Kaisers mit dem Stück Hans Kayser auf der Flucht – eine wahre Lügengeschichte. Dabei wurden die Originaldokumente des Gerichtsverfahrens von 1548 aus dem Stadtarchiv Freiburg zugrunde gelegt.[5] Der digitale AudioguideQueere Geschichte*n Freiburg“ widmet dem Leben Dietschis und dem Gerichtsverfahren die knapp zehnminütige Station 5 am Freiburger Münster mit dem Titel „Hans Kayser, queer in der Frühen Neuzeit“.[4]

Ria Brodell, ein nicht-binärer amerikanischer Künstler, begann 2010 mit der Gemäldeserie Butch Heroes. Sie zeigt 28 Menschen, „who were assigned female at birth, had relationships with women and presented in a more masculine than feminine manner“ (Übersetzung: die bei der Geburt als weiblich eingestuft wurden, dokumentierte Beziehungen zu Frauen hatten und deren Erscheinung eher männlich als weiblich war).[6] Die Gemälde sind im Stile katholischer Andachtsbilder von Heiligen gefertigt und sollen auf diese Weise Menschen würdigen, die vielerorts vergessen sind und ausgegrenzt wurden.[7] Brodell malte „Agatha Dietschi aka Hans Kaiser“ bei der Arbeit als Erntehelfer bei der Getreideernte.[8]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Helmut Puff: Sodomy in Reformation Germany and Switzerland, 1400–1600 (= The Chicago Series on sexuality, history, and society). University of Chicago Press, Chicago 2003, ISBN 0-226-68505-5, S. 32–35.
  • Katharina Simon-Muscheid: Geschlecht, Identität und Soziale Rolle: Weiblicher Transvestismus vor Gericht, 15. / 16. Jahrhundert. In: Rudolf Jaun, Brigitte Studer (Hrsg.): Weiblich – männlich: Geschlechterverhältnisse in der Schweiz: Rechtsprechung, Diskurs, Praktiken (= Schweizerische Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Band 13). Chronos, Zürich 1995, ISBN 3-905311-81-X, S. 45–57.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. a b c Helmut Puff: Sodomy in Reformation Germany and Switzerland, 1400–1600 (= The Chicago Series on sexuality, history, and society). University of Chicago Press, Chicago 2003, ISBN 0-226-68505-5, S. 32–35.
  2. Lio Okroi: Queering History? Spannungsfelder des Erinnerns im Audioguide Queere Geschichte*n Freiburg. In: Invertito. Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten. Band 24. Männerschwarm Verlag, Berlin 2023, ISBN 978-3-86300-094-3, S. 22.
  3. a b c Helmut Puff und Claudia Jarzebowski: Homosexualität. In: F. Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit Online. Brill, 2019 (brillonline.com).
  4. a b c Lio Okroi: Queere Geschichte*n Freiburg. Audioguide que(e)r durch die Stadt. Feministisches Zentrum Freiburg e.V., abgerufen am 9. Mai 2024.
  5. Hans Kayser auf der Flucht. In: Theater Freiburg. Abgerufen am 9. Mai 2024.
  6. Leah Sandler: Trans artist Ria Brodell transports themself into multiple genders and histories. In: Orlando Weekly. 7. Februar 2018, abgerufen am 9. Mai 2024 (amerikanisches Englisch).
  7. Ria Brodell: About Butch Heroes. In: Ria Brodell. Abgerufen am 9. Mai 2024 (amerikanisches Englisch).
  8. Ria Brodell: Agatha Dietschi aka Hans Kaiser c. 1547 Germany. In: Ria Brodell. Abgerufen am 9. Mai 2024 (amerikanisches Englisch).