Adler am nordischen Weltenbaum

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Der Weltenbaum-Adler und der Habicht Vedrfölnir auf dem Baum Yggdrasil. Isländische Handschrift, 17. Jahrhundert.

In der nordischen Mythologie gibt es einen Adler am Weltenbaum Yggdrasil, dessen Name unbekannt ist.

Der Adler am Weltenbaum ist in der Lieder-Edda Gegenstand des Lieds Grímnismál:

„Ratatoscr heitir ícorni,
er renna scal
at asci Yggdrasils;
arnar orð
hann scal ofan bera
oc segia Níðhǫggvi niðr.[1]

Ratatosk heißt das Eichhörnchen,
das herumspringt
an der Esche Yggdrasil;
die Worte des Adlers
trägt es von oben herab
und sagt sie unten Nidhögg.[2]

Grímnismál, Stophe 32 (Übersetzung nach Arnulf Krause)

Das Gegensatzpaar Adler–Nidhöggr deutet darauf hin, dass auch diese Stelle des Lieds Völuspá den Weltenbaum-Adler meint, da man davon ausgeht, dass mit dem Nasenbleichen wohl Nidhöggr gemeint ist. Die Textstelle handelt vom Beginn der Ragnarök, der Endzeit der Götter.

„[...] enn ari hlaccar,
slítr nái neffǫlr [...][3]

„[...] der Adler schreit,
Tote reißt der Nasenbleiche, [...][2]

Völuspá, Strophe 50 (Übersetzung von Arnulf Krause)

Auch diese Stelle der Völuspá könnte vom Weltenbaum-Adler handeln. Sie bezieht sich auf die Zeit nach den Ragnarök, als die Erde am Ende wieder aus dem Meer aufsteigt und das Geschehen am Weltenbaum weitergeht.

„Sér hon upp koma ǫðro sinni
iorð ór ægi, iðiagrœna;
falla forsar, flýgr ǫrn yfir,
sá er á fialli fisca veiðir.[4]

„Sie sieht ein zweites Mal aufsteigen
die Erde aus dem Meer, die neu ergrünte;
Wasserfälle stürzen, darüber fliegt der Adler,
der auf dem Felsen Fische jagt.[2]

Völuspá, Strophe 59 (Übersetzung von Arnulf Krause)

Snorri Sturluson wusste mit diesen Völuspá-Stellen möglicherweise nichts mehr anzufangen. In seiner Prosa-Edda bezieht er sich lediglich auf das Lied Grímnismál und damit auf den Streit zwischen dem Adler und dem Drachen.

„Örn einn sitr í limum asksins, ok er hann margs vitandi
en í milli augna honum sitr haukr, sá er heitir Veðrfölnir.
Íkorni sá, er heitir Ratatoskr, renn upp ok niðr eftir askinum
ok berr öfundarorð milli arnarins ok Níðhöggs, [...]“

„Ein Adler sitzt in den Ästen der Esche, der hat manches Wissen
und zwischen seinen Augen sitzt der Habicht mit Namen Wedrfölnir.
Das Eichhörnchen, das Ratatosk heißt, springt an der Esche hinauf und hinunter.
Zwischen dem Adler und Nidhögg tauscht es Gehässigkeiten aus.[5]

Snorri Sturluson, Prosa-Edda: Gylfaginning, Kapitel 16 (Übersetzung von Arnulf Krause)

Der Adler gehört wie der Weltenbaum, auf dem er sitzt, zum mythologischen Erbe aus indogermanischer Zeit. Die indische Mythologie kennt einen Adler namens Garuda, der ebenso in der Krone eines Baumes lebt, an dessen Wurzeln Schlangen, die Nagas genannt werden. Im iranischen Weltenbaum, dem Saena-Baum, sitzt ein adlerartiger Vogel mit Namen Saena.[6]

Das Streitmotiv zwischen Adler und Drache könnte ebenso ein Motiv aus indogermanischer Zeit sein. Auch in der indischen Mythologie streiten sich der Adler und die Schlangen. In einer Fabel des römischen Dichters Phaedrus stiftet eine Katze an einem Baum Feindschaft zwischen einem Adler in der Höhe und einer Wildsau an den Wurzeln.[7] Der Streit zwischen Adler und Drache könnte den Widerstreit der aufbauenden mit den zerstörerischen Kräften der Welt symbolisieren, den Göttern und den Riesen, doch hält man das in der Wissenschaft nicht unbedingt für wahrscheinlich.[8]

  • Hræsvelgr, ein anderer Adler der nordischen Mythologie, der zuweilen mit dem Weltenbaum-Adler gleichgesetzt wird.

Einzelnachweise

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  1. Lieder-Edda: Grímnismál, Strophe 32. Textausgabe nach Titus Projekt, URL: http://titus.uni-frankfurt.de/texte/etcs/germ/anord/edda/edda.htm, aufgerufen am 9. April 2013
  2. a b c Übersetzung nach Arnulf Krause: Die Götter- und Heldenlieder der Älteren Edda. Philipp Reclam jun. Verlag, Stuttgart 2004, ISBN 978-3-15-050047-7
  3. Lieder-Edda: Völuspá, Strophe 50. Textausgabe nach Titus Projekt, URL: http://titus.uni-frankfurt.de/texte/etcs/germ/anord/edda/edda.htm, aufgerufen am 9. April 2013
  4. Lieder-Edda: Völuspá, Strophe 59. Textausgabe nach Titus Projekt, URL: http://titus.uni-frankfurt.de/texte/etcs/germ/anord/edda/edda.htm, aufgerufen am 9. April 2013
  5. Arnulf Krause: Die Edda des Snorri Sturluson. Philipp Reclam jun. Verlag, Stuttgart 1997, ISBN 978-3-15-000782-2
  6. Jan de Vries: Altgermanische Religionsgeschichte, Band 2: Religion der Nordgermanen. Verlag Walter de Gruyter & Co., Berlin, Leipzig 1937, § 328, bei ihm heißt der Baum jedoch Hom.
  7. Jan de Vries: Altgermanische Religionsgeschichte, Band 2: Religion der Nordgermanen. Verlag Walter de Gruyter & Co., Berlin, Leipzig 1937, § 328 – Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie (= Kröners Taschenausgabe. Band 368). 3., völlig überarbeitete Auflage. Kröner, Stuttgart 2006, ISBN 3-520-36803-X, S. 343 weist darauf hin, dass diese Parallelen keinen sicheren Schluss über das Alter des Streitmotivs erlauben.
  8. Henry Adams Bellows: The Poetic Edda. The Mythological Poems. Courier Dover Publications, Mineola NY 2004, ISBN 978-0-486-43710-1, S. 97, Anmerkung 32 Online Auszug