Benutzer:Herr Andrax/Die Dezivilisierung der Wikipedia

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Die Dezivilisierung der Wikipedia

Unfreiwillige Beobachtungen I

Schalte ich aus meiner zivilisierten Welt kommend, dem so genannten "RL", den Compi an und betrete die Wikipedia, trifft mich – und wem es von euch anders geht, der mache sich Sorgen – ein Kulturschock sondergleichen. Der Schock ist regelmäßig gewaltig und findet vor allem eine besondere Erklärung. Die Trennung von Privat und Öffentlich hat hier aufgehört zu existieren. Das ist der Wunschtraum und die Realität jedes Ethnologen [1] der westlichen Welt, seit dem diese sich dem Prozess der Zivilisierung seit dem 16. Jahrhundert ausgesetzt sieht und die Nebenwirkungen dieses Prozesse nur noch durch das Komasaufen am andere kompensieren kann. Im Anderen liegt die Wahrheit, im Anderen liegt das eigene verlassene Ich, denn im Anderen liegt die einzige Repräsentation sich so zu sehen, dass die zivilisierte Norm als universell erkannt werden kann … Die Trennung von Privat und Öffentlich hat für die User in der Wikipedia aufgehört zu existieren. Die Begriffe existieren hier nicht, in keinem Sinn. Es herrscht wieder die ursprüngliche animalische Welt. Der Schock ist jedoch ein doppelter, ein dialektischer. Nahezu alle verhalten sich nicht nur zwanghaft animalisch, sondern auch umso zwanghafter zivilisiert. Wie ein letzter Strohalm erfolgt die Überidentifizierung mit allen Normen der Zivilisation, nur wird sie gnadenlos ins animalische gekippt und kann hier gar nicht anders gelebt werden. Die Zivilisation trifft uns hier in seiner brutalsten Realität und das Animalische in seinem wärmsten Odeur. Doch erscheint das, was vor der Nase liegt, als völlig geruchlos. Ein ganz offensichtliches Beispiel: Überall waten wir hier in Männerpisse, aber nirgends würden wir sie wahrnehmen. Wozu auch, wir schwimmen in ihr.[2] Es gibt hier Fallschirmspringer, die keinen Fallschirm benötigen. Der Andere ist hier immer der Andere und das Ich ist ein anderes, auch ein anderes. Der Strohalm wird das letzte Flackern zwischen Umwelt hier und da. Eigentlich weiß hier niemand, wie er hier lebt und lebt hier. Er lebt sich aus. Nur Denis Diderot kann helfen.

  • Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation, 2 Bd. (1939) (Sinngemäß: bürgerliche Radikalisierung der Peinlichkeitsgrenze; Privatisierung des Peinlichen; entsp. radikale Trennung zwischen öffentlich und privat.)
  • Giselher Rüpke: Der verfassungsrechtliche Schutz der Privatheit. Zugleich ein Versuch pragmatischen Grundrechtsverständnisses. Baden-Baden 1976. (Rüpke definiert Privatheit als "Unversehrtheit der Kommunikation")
  • Claude Lévi-Strauss: Tristes Tropiques, 1955. (Sinngemäß: Forschungsreisen sind nicht allein eine Ortsveränderung, sie vollziehen sich in der sozialen Hierachie. Vgl. Julio Mendívil)
  • Julio Mendívil: Das >zivilisierte Denken<: Reflexionen eines peruanischen Musikethnologen über eine Feldforschung in den >traumatischen Tropen< Deutschlands. In: Kien Nghi Ha, Nicola Lauré al-Samarai, Sheila Mysorekar (Hg.): re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland. Münster 2007.
  • Michel Foucault: Überwachen und Strafen, 1994. (Sinngemäß: Macht und Wissen schließen einander unmittelbar ein. Es gibt keine Machtbeziehung, ohne dass sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert. Es gibt kein Wissen, dass nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert.)
  • Laura Nader: "Up the Anthropologist—Perspectives Gained from Studying Up". In: Dell H. Hymes (Ed.) Reinventing Anthropology. New York, Pantheon Books, 1972 [1]
  • Claudio Franzius und Matthias Kötter: Netzwerke verändern die (Sicht der) Welt. In: fundiert. Das Wissenschaftsmagazin der Freien Universität Berlin. [2] (Sinngemäß: Die Unübersichtlichkeit wird zum Programm. *Notiert*. Denn tatsächlich stellen sich hier neue Herausforderungen an eine unfreiwillige Beobachtung) Zitat: Die Veränderung der Staatenwelt ist eng verknüpft mit der sich wandelnden Welt der Begriffe, die zu ihrer Beschreibung eingesetzt werden und sie normativ beherrschbar machen sollen. (...) Ist der Akteur als Teil eines Netzwerks zu verstehen oder nicht? Hat er wenigstens einen Anspruch auf diskriminierungsfreie Entscheidung über seine Teilnahme am Netzwerk? Folgt das Handeln einer spezifischen Netzwerklogik?
  • Das junge Wiki Magazin. Hg. Bundesministerium für Netzordnung, Netzwesen und Netzbau. Gütersloh 2018.
  • Wikiforum. Das Journal für ein nachhaltiges Wiki. Hg. Senatsverwaltung für Wikientwicklung, Wikischutz und Technologie. Urbane Integration - Soziale Wikientwicklung. Nr. 30. Berlin, Juni 2014.

Einzelnachweise

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  1. Staden, Hans: Warhafftige Historia unnd Beschreibung einer Landschafft der wilden, naketen, grimmigen Menschenfresser Leuthen, in der newen Welt America gelegen. Franckfurdt, 1556
  2. Noch heute haben die Yanomami (=Menschen, vielleicht auch WPs?) große Angst davor, tiefe Gewässer zu durchqueren. O-Ton aus einer bekannten deutschsprachigen Enzyklopädie.