Benutzer:Mautpreller/Journal

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Nichtleser, Diskussionsseiten und Lektüreanreize. Die Offenheit der Wikipedia ist eine einnehmende und zugleich tückische Sache. Sie fördert Auseinandersetzung in einem Maß, das nirgendwo sonst zu haben ist. Eine eher enervierende Diskussion auf der Diskussionsseite zu Ilja Ehrenburg hat mir das wieder mal gezeigt: die Möglichkeit, mit Leuten offen zu streiten, mit denen man sonst nie an einen Tisch käme, ebenso wie die Grenzen. Ich hab wieder mal was über den Typus des Nichtlesers gelernt, der das Scannen passender "Stellen" benutzt, um eine bereits vorher bestehende ideologisch gefestigte Auffassung zu untermauern, sich aber prinzipiell auf das Abenteuer nicht einlassen mag, einen fremden Text zu lesen und zu verstehen. Und auf der anderen Seite hat mir die letztlich sinnlose Debatte Hinweise auf neue Lektüren gegeben. Die schöne Ehrenburg-Biografie von Anatol Goldberg, "unwissenschaftlich" bis zum Gehtnichtmehr, aber mit Verve, Sympathie und dem nötigen Schuss Ambivalenz geschrieben, hätte ich sonst wohl nicht in die Finger gekriegt - und nicht gesehen, wie weitgehend Goldberg den Ton gesetzt hat z.B. für Rubensteins Arbeit, die vollgesogen mit hochinteressanten Quellen ist, aber dem "récit" Goldbergs in den Grundzügen sehr weitgehend folgt ... Und ich wäre niemals auf die Idee gekommen, mir den Briefwechsel von André Gide und Jean Malaquais anzugucken: ein Zeitdokument, an dem mich vor allem die Figur Gides beeindruckt, der dem jungen Schriftsteller Malacki ausführliche Korrekturvorschläge für sein erstes Buch übermittelt (ein selten anzutreffendes Musterbeispiel für gelungenes Lektorat), ihn mit Geld unterstützt und sich auch noch mit dessen Empfindlichkeiten und "fierté" rumzuschlagen hat. Dass es was genützt hat, ist an Malaquais' "Notes et Notules" über Gide abzulesen, die den Schluss des Bändchens bilden. Wikipedia ist eben nicht nur Enzyklopädie, sondern vielleicht noch mehr Diskussionsforum und "Abstoßpunkt" für Lektüre. Ihre diskursvernetzende Kraft ist beispiellos. Es ist ein Jammer, dass das ihre Protagonisten weitgehend gar nicht sehen und an einem eher öden, kataloghaften, naturwissenschaftlich-ingenieursmäßig inspirierten Bild von Enzyklopädie festhalten.

Notizen für eine Zukunftswerkstatt Wikipedia: Das größte Elend der Wikipedia ist die Seriositätshuberei. Wir wollen wer sein! Dabei hat Wikipedia so viel zu bieten. Drei Ecksteine kann man festhalten: Babel-Rhizom - WP vernetzt Spezialdiskurse und den Interdiskurs in einzigartiger Weise, und zwar eben nicht-hierarchisch, "rhizomatisch". Diskursplattform - WP bringt in der kooperativen (und konfrontativen) Arbeit Diskussionen zwischen Leuten zustande, die nirgendwo sonst miteinander diskutierten. Bildungsmedium - WP ist eine wahrhaft freie Schule des Ausdrucks, des Recherchierens, des Verstehens, des Präsentierens, des Streitens. Prämissen sind: Rücknahme der Trennung zwischen Rezipient und Produzent. Freie Assoziation als Basis, dh zentrale Rolle der "Community" - WP wäre nicht das Gesamtkunstwerk, das sie ist, ohne die Talk Pages und den Metakram. Ein nicht zu unterschätzendes Problem sind die "Grundsätze der WP" - keiner von ihnen ist logisch haltbar, aber sie bilden die pragmatische Basis, die für die drei großen Leistungen unverzichtbar ist. Nur werden die gern als Anweisungen interpretiert, und das ist die größte Gefahr für die Wikipedia. So gibt es Tendenzen zur Hierarchisierung/Respektabilität, die das Babel-Rhizom ihrerseits untergraben und ihm wieder den altgewohnten dysfunktionalen Kategorienbaum überstülpen. So gibt es Tendenzen zur Exklusion von Abweichenden, Störern und dergleichen, die die Plattformen verarmen lassen. So gibt es Tendenzen zur Kanonisierung der Bildungsinhalte - und eine Neigung zum esoterischen Anwendungskram, sodass die Bildung sich oftmals mehr auf Inklusionsprozeduren nach dem Motto "So wird das bei uns gemacht" verirrt.