Ideästhesie

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Ein Beispiel für Graphem-Farb-Assoziationen, für die die Bezeichnung „Ideasthesie“ zutreffender ist als „Synästhesie“

Ideasthesia (alternativ auch Ideaesthesia) bezeichnet ein Wahrnehmungsphänomen am Berührungspunkt zwischen konzeptuellen und sensorischen mentalen Vorgängen. Dabei ruft ein aktiviertes Konzept, der sog. Auslöser (englisch inducer) eine sensorische Empfindung hervor, die sog. Begleitempfindung (englisch concurrent). Ein Mensch mit dieser Fähigkeit nimmt zum Beispiel eine Farbe (etwa rot) wahr, wenn er einen Buchstaben (z. B. ein A) erkennt. Der Begriff „Ideasthesia“ stammt aus der englischsprachig dominierten internationalen Synästhesie-Forschung und bezeichnet einen Teilbereich aller synästhetischen Phänomene. Analog zur Synästhesie würde man ihn als Ideasthesie[1] oder Ideästhesie eindeutschen. Er stammt aus dem Griechischen, „idea“+„aisthesis“, und bedeutet Konzepte wahrnehmen oder Ideen spüren.[2] Das heißt, ein abstraktes Konzept wird durch die Begleitempfindung sinnlich erfahrbar. Der Hauptgrund für die Einführung des neuen Begriffs „Ideasthesie“ war die Häufung empirischer Befunde, die zeigten, dass der Begriff „Synästhesie“ in vielen Fällen eine fehlleitende Erklärung für die damit bezeichneten Phänomene suggeriert: Häufig als „Verbindung von Sinneskanälen“ oder „Vermischung der Sinne“ übersetzt, impliziert „Synästhesie“, dass Auslöser und Begleitempfindung beide von sensorischer Qualität sind und sich gleichberechtigt verbinden, ohne dass die kognitive Verarbeitungsebene dafür relevant wäre. Dagegen zeigt die jüngere Forschung, dass die meisten „synästhetischen“ Wahrnehmungen an semantische Repräsentationen, also die Bedeutung des auslösenden Konzeptes, gebunden sind.[3][4][5][6] Demgegenüber spielen die sensorischen Eigenschaften eines Auslösers (z. B. die Aussprache eines Buchstabens) eine nachrangige Rolle. Die folgende Tabelle zeigt die unterschiedlichen theoretischen Annahmen, die „Ideasthesie“ und „Synästhesie“ implizit über das Wesen von „Inducer“ und „Concurrent“ machen:

Inducer Concurrent
Synästhesie sensorisch sensorisch
Ideasthesie semantisch sensorisch

Beispiele und Belege

Ein Beispiel für Zeiteinheit-Raum-Synästhesie/Ideasthesie (klicke auf das Bild, um eine vergrößerte Version anzuzeigen)
Welche der beiden Formen heißt „Buba“ und welche „Kiki“? Darüber sind sich die allermeisten Leute sofort einig. Dies ist ein Beispiel für Ideasthesie, da die Konzeptualisierung des Stimulus eine zentrale Rolle spielt.[7]

Eine häufige Form der Ideasthesie ist die Verbindung von Graphemen und Farben wie im oben genannten Beispiel. Sie wird häufig als Grapheme-Farb-Synästhesie bezeichnet: Für Menschen mit dieser Form der Ideaesthesie ruft jeder Buchstabe des Alphabets eine eigene lebhafte Farbempfindung hervor. Studien zeigen, dass nicht etwa die Reizkonfiguration, also die Linienform des Buchstabens, dafür ausschlaggebend ist, sondern dass die wahrgenommene Farbe vom Kontext abhängt, also davon, welche Bedeutung dieser Linienkonfiguration beigemessen wird. So kann ein zweideutiger Reiz „5“ entweder als „S“ oder „5“ interpretiert werden, je nachdem, in welchem Kontext er erscheint. Als Teil einer Zahlenreihe wird er als „5“ interpretiert werden und die Begleitfarbe dieser Zahl tragen. Als Teil eines Wortes wird er hingegen als „S“ interpretiert werden und ruft die dazu passende Farbe auf.[3]

Die Annahme, dass Buchstaben-Farb-Verbindungen ein ideasthetisches Phänomen sind, wird außerdem durch den experimentellen Befund belegt, dass die Buchstaben-Farb-Verbindungen sehr schnell, d. h. innerhalb von Minuten, entstehen können. In einer Studie zeigte man Buchstaben-Farb-Ideasthetikern glagolithische Buchstaben, die sie nie zuvor gesehen hatten. Zwischen lateinischen und glagolithischen Buchstaben existiert eine Eins-zu-eins-Zuordnung. Die syn-/ideaesthetischen Studienteilnehmer lernten in schriftlichen Übungen die glagolithischen Buchstaben anstelle der lateinischen zu verwenden – d. h. sie erwarben die Bedeutung der neuen Grapheme. Die glagolithischen Buchstaben „erbten“ daraufhin die Farben der entsprechenden lateinischen Buchstaben, sobald die Ideasthetiker mit ihrer Bedeutung vertraut geworden waren.[4]

Auch im Falle von Wort-Geschmacks-Synästhesie deutet alles darauf hin, dass dem Phänomen ideasthetische anstelle von synästhetischen Prozessen zugrunde liegen. Bei Wort-Geschmacks-Synästhesie führt die Verbalisierung oder das Hören eines Wortes zu geschmacklichen Begleitempfindungen. Es konnte jedoch gezeigt werden, dass nicht etwa das Wort selbst die Geschmacksempfindung auslöst, sondern dass es wiederum die Bedeutung des verbalisierten Konzeptes ist, das die ideaesthetische Wahrnehmung hervorruft.[5]

Ein weiteres Beispiel für Ideasthesie ist die sog. „Schwimmstil-Synästhesie“. Hier sind die vier Grundschwimmstile (Kraul, Rücken, Brust und Delfin) mit jeweils einer eigenen Farbe verbunden.[6] Schwimmstil-Synästhetiker, bzw. –Ideaesthetiker erleben diese Farbempfindung jedoch nicht nur beim Schwimmen selbst, sondern auch, wenn sie nur ans Schwimmen denken oder entsprechende Bilder sehen. Weder die motorische Ausübung noch die propriozeptive Rückmeldung des Schwimmens sind also notwendig, um diese Ideaesthesie zu bewirken, es genügt, das Konzept des Schwimmstils zu aktivieren.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. D. Nikolić, U.M. Jürgens: Sinfonie in Rot. In: Gehirn & Geist, 6/2011, S. 58-63.
  2. D. Nikolić: Is synaesthesia actually ideaestesia? An inquiry into the nature of the phenomenon. Proceedings of the Third International Congress on Synaesthesia, Science & Art, Granada, Spain, April 26–29, 2009.
  3. a b M.J. Dixon, D. Smilek, P.L. Duffy, P. M. Zanna, P. M. Merikle: The Role of Meaning in Grapheme-Colour Synaesthesia. In: Cortex, 42, 2006, S. 243-252.
  4. a b A. Mroczko, T. Metzinger, W. Singer, D. Nikolić: Immediate transfer of synesthesia to a novel inducer. Journal of Vision, 9, 2009, S. 2521-2528.
  5. a b J. Simner, J. Ward: The taste of words on the tip of the tongue. In: Nature, 444, 2006, S. 438.
  6. a b D. Nikolić, U.M. Jürgens, N. Rothen, B. Meier, A. Mroczko: Swimming-style synesthesia. In: Cortex, 47(7), 2011, S. 874-879.
  7. E. Gómez Milán, O. Iborra, M.J. de Córdoba, V. Juárez-Ramos, M.A. Rodríguez Artacho, J.L. Rubio: The Kiki-Bouba effect: A case of personification and ideaesthesia. In: The Journal of Consciousness Studies. (in press)