Integrales und summatives Rechtsstaatsverständnis

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 29. Oktober 2015 um 02:11 Uhr durch HRoestTypo (Diskussion | Beiträge) (Tippfehler entfernt: eingenständig -> eigenständig; kosmetische Änderungen). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Integrales und summatives Rechtsstaatsverständnis bezeichnet mit den Bestandteilen integral und summativ zwei gegensätzliche Ansätze zur Interpretation des Grundgesetzes (GG) unter dem Gesichtspunkt des Rechtsstaats.

Das integrale Verständnis und seine Begründung

Das herrschende, vom Bundesverfassungsgericht und der überwiegenden Ansicht in der Rechtswissenschaft vertretene Verständnis ist ein integrales.[1] Als integral wird jenes Rechtsstaatsverständnis bezeichnet, nach dem das Rechtsstaatsprinzip sich nicht in Einzelbestimmungen wie beispielsweise den Grundrechtsnormen oder Art. 20 Abs. 3 GG erschöpft, sondern einen darüber hinausgehenden, eigenständigen Inhalt hat.[2] Nach dieser Auffassung ist das Rechtsstaatsprinzip nicht nur von rechtsphilosophischer und rechtspolitischer Bedeutung, sondern kann als Begriff des geltenden Rechts der Bundesrepublik als „Grundlage für […] im Grundgesetz nicht erwähnte – unbenannte – Einzelgewährleistungen“ dienen.[3]

Für dieses Verständnisses werden verschiedene Begründungswege vertreten.[4] Zum einen wird das Prinzip am Wortlaut des Grundgesetzes festgemacht, so an Art. 20 Abs. 3 GG [5] Art. 20 Abs. 2 GG [6] sowie Art. 28 Abs. 1 GG [7]. Losgelöst vom Wortlaut wird das Prinzip als Teil der „Gesamtkonzeption des Grundgesetzes“ aufgefasst [8], dessen Geltung auch bei den Beratungen während der Verfassunggebung vorausgesetzt worden sei.[9]

Vertreter des integralen Ansatzes sehen das Rechtsstaatsprinzip als subsidiär zu den konkretisierenden Bestimmungen des Grundgesetzes an.[10][11]

Das summative Verständnis und seine Begründung

Als summativ wird jenes Rechtsstaatsverständnis bezeichnet, das das Wort „Rechtsstaat“ (als Begriff des geltenden Rechts der Bundesrepublik) ausschließlich als Namen beziehungsweise „Sammelbezeichnung einzelner im Text des Grundgesetzes belegbarer rechtsstaatlicher Gewährleistungen“ ansieht.[12]

Diese Auffassung stützt sich darauf, dass die Bundesrepublik im Grundgesetz nicht ausdrücklich als Rechtsstaat bezeichnet werde. Die Erwähnung der Rechtsstaatlichkeit Art. 28 GG wird so interpretiert, das dort ausschließlich „Grundsätze des […] Rechtsstaats im Sinne dieses Grundgesetzes“ gemeint seien. Elemente oder Grundsätze von nicht in Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips in Einzelbestimmungen würden weder den Bundesländern durch Art. 28 GG verbindlich gemacht, noch seien sie für die Bundesebene juristisch relevant.

Literatur

  • Philip Kunig: Das Rechtsstaatsprinzip. Überlegungen zu seiner Bedeutung für das Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen, 1986. ISBN 3-16-645050-5
  • Katharina Gräfin von Schlieffen, geb. Sobota: Das Prinzip Rechtsstaat. Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Aspekte, J. C. B. Mohr, Tübingen 1997.

Einzelnachweise

  1. Huster/Rux, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), Beck'scher Online-Kommentar zum Grundgesetz, Stand: 1. Oktober 2011, Art. 20 Rn. 129.1.
  2. Bernd Grzeszick, in Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 62. Ergänzungslieferung 2011, Art. 20 Rn. 42.
  3. Frank Raue: Müssen Grundrechtsbeschränkungen wirklich verhältnismäßig sein?, in: Archiv des öffentlichen Rechts 2006, 79 - 116 (108 mit FN 99 f.)
  4. Überblick bei Huster/Rux, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), Beck'scher Online-Kommentar zum Grundgesetz, Stand: 1. Oktober 2011, Art. 20 Rn. 129.1.
  5. BVerfGE 108, 186, 234 f. = NVwZ 2003, 1241.
  6. BVerfGE 52, 131, 143 = NJW 1979, 1925.
  7. BVerfGE 108, 186, 234 f = NVwZ 2003, 1241.
  8. BVerfGE 45, 187, 246 = NJW 1977, 1525
  9. Bernd Grzeszick, in Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 62. Ergänzungslieferung 2011, Art. 20 Rn. 44 mit Verweis auf Rn. 16 ff.
  10. Eberhard Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrecht für die Bundesrepublik Deutschland. Bd. 2, Müller: Heidelberg, 2004, 541 - 612 (545, 546, RN 8 und 9): „Ist das Rechtsstaatsprinzip nur eine Sammelbezeichnung für einzelne Gewährleistungen des Verfassungsrechts oder existiert es als Prinzip mit einem eigenständigen dogmatischen Gehalt? Dieser Frage nach einem summativen oder einem integralen Rechtsstaatsverständnis ist Philip Kunig nachgegangen. Seine gründlichen Analysen zeigen, daß die Bezugnahme auf das Rechtsstaatsprinzip in Judikatur und Schrifttum vielfach nur bündelnde […] Bedeutung besitzt, während die Lösung in dem entsprechenden Kontext konkreteren Vorschriften entnommen wird. Kunig sieht sich dadurch zu der Meinung veranlaßt, alle rechtsstaatlichen Fragestellungen durch problemnähere Normen beantworten zu können, so daß der Rückgriff auf ein dahinterstehendes Prinzip ‚des’ Rechtsstaates methodisch verwehrt sei. Von einem solchen Vorgehen erhofft er sich klarere, rechtlich belegbare Lösungen; und in der Tat sticht sein Vorschlag wohltuend ab von jenen Grenzverwischungen zwischen Verfassungsrecht und politischer Programmatik, wie sie gerade im Zeichen des Rechtsstaatsprinzips oft vorkommen. […]. Allen auftretenden Fragen ist auf diese Weise jedoch nicht beizukommen. […]. ‚Das’ Rechtsstaatsprinzip besitzt folglich zwei Schichten, […]: Es wirkt deklaratorisch als Kurzform, wo spezielle Gewährleistungen bestehen, konstitutiv aber dort, wo es um den Ausdruck gerade des Allgemeinen und des Systematischen geht.
  11. Bernd Grzesick, [Kommentierung zu Art. 20 Abschnitt] VII. Art. 20 und die allgemeine Rechtsstaatlichkeit, in: Theodor Maunz / Günter Dürig et al., Grundgesetz. Kommentar, Beck: München, 1958 ff., hier: 48. Lfg., 2006 [Loseblattsammlung ohne durchgehende Paginierung; Umfang dieses Abschnittes: 62 Seiten], S. 22, RN 44 f.
  12. Vertreten wird dies insbesondere von Philip Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, Tübingen, 1986.