Protention (Philosophie)

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Protention ist bei Edmund Husserl der Ausdruck für eine Intention[1][EN 1] des Bewusstseins, die in einem Erlebnisfluss zeitlicher Objekte, z. B. einer Melodie, eine Erwartung von Zukünftigem beinhaltet. Sie bildet mit der aktuellen Wahrnehmung, die als Urimpression[2][EN 2], z. B. ein Ton, bezeichnet wird und mit der Retention eine Einheit. Die Protention ist als Inhalt noch unbestimmt und nur mitbewusst.

Protention bei Edmund Husserl

Akt-Aufbau eines temporalen Objekts(C-Dur Tonleiter)
C-Dur Tonleiter Analogie

Unser Alltagsleben richtet sich weitgehend nach einer „messbaren objektiven“ Weltzeit. Phänomenologisch betrachtet muss jedoch durch eine Epoche die Gültigkeit der objektiven Zeit eingeklammert werden. Es stellt sich dann die Frage wie Zeit im Bewusstsein konstituiert wird. Für solche Untersuchungen benötigt man temporale Objekte. Husserl wählte wie sein Lehrer Brentano als Beispiel dafür das Hören einer Melodie.

Bei der Wahrnehmung wird die gesamte Melodie, Art und Aufeinanderfolge der Töne, in einem Aktkontinuum[3][EN 1], d. h. Aufeinanderfolgen von Urimpressionen und Retentionen, in immanenter Zeit bewusst. Als Entsprechung der Trias Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kommt eine Erwartung eines zukünftigen Aktes, bei dem ein ähnliches fehlendes Glied erwartet wird, in Form der Protention hinzu, deren Inhalt nicht festgelegt ist, vergleichbar der Wahrnehmung einer Gelbphase bei einer Verkehrsampel. Erwartet wird in dieser Situation eine Änderung, die jedoch Rotphase, Grünphase oder Dauerblinkphase bzw. Abschaltung beinhalten kann. Protentionen sind eine bestimmte Form von Antizipationen[4][EN 1]. Retention und Protention sind unselbständige gleichzeitig stattfindende Momente[5][EN 1] fundiert in einer Urimpression. Dynamisch gesehen kann man sagen, die Jetzt-Wahrnehmung eines Tones in einer Melodie ist die Erfüllung einer vergangenen Protention. Nur durch Protention und Retention wird aus einer Folge von Tönen ein Melodieerlebnis.

Bei der Erinnerung an eine gehörte Melodie, die in der Vorstellung wieder aufgerufen wird, erlebt man das Wahrgenommene noch einmal in der Phantasie, das gesamte zeitlich ausgedehnte Wahrnehmungsfeld samt Urimpression, Retention und Protention wird in objektiver Zeit reproduziert. Die erinnerte Melodie ist strukturell identisch der wahrgenommenen, aber die phänomenologische Qualität der Akte nicht. Wiedererinnerung liegt in der Freiheit des Subjekts, Retention und Protention gehören zur passiven Synthese des Wahrnehmungsaktes.

Die Melodie der C-Dur Tonleiter bei der Wahrnehmung und Erinnerung ist vergleichbar einer Matroschka Steckpuppe. Jede Puppe entspricht einem Ton der Tonleiter, ist eine Urimpression mit der Protention also Erwartung, dass noch ein weiterer Ton folgt bzw. eine weitere Puppe enthalten ist. Beim nächsten Tonerlebnis wird der vorhergehende Ton zur Retention. Die kleineren Puppen entsprechen Retentionen, die auch einmal Protentionen waren. Je kleiner die Puppe ist, umso länger liegt die Retention eines Tones in der zeitlichen Ordnung zurück. Dieser Zusammenhang des „Absinkens“ der Empfindungsretentionen in der Zeit wird üblicherweise durch einen Graphen[EN 3] dargestellt.

Gehirnforschung und Kommunikation

Beim Verstehensprozess spielen die planenden Hirnareale eine zentrale Rolle. Der gut-verstehende Hörer antizipiert den Sprecher (cf. adaptives Filtern). Diese 1,5 bis 3 Sekunden vorausgehende Hirnaktivität ist messbar, und je größer die Korrelation zwischen Hörer und Sprecher ist, desto besser wird verstanden. „Glückende Kommunikation ist also nicht rein passive Rezeption, sondern aktives Vorausplanen der in unmittelbarer Zukunft vom Sprecher geäußerten Bedeutungsgehalte durch den Zuhörer, [...]“ [EN 4].

Glossar

  1. Intention: Erlebnis, das Erfüllungsverhältnisse fundieren kann
  2. Urimpression: auch Urpräsenz; Bewusstsein der Jetzt-Phase
  3. Akt: intentionales Erlebnis
  4. Antizipation: Gattungsbegriff für alle Arten von Vorgriffen auf Zukünftiges
  5. Moment: Individuelle Momente sind wesenhaft an etwas Zugrundeliegendes gebunden

Siehe auch

Literatur

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b c d Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe. Hrsg. Helmut Vetter Felix Meiner Verlag Hamburg 2004 ISBN 3-7873-1689-2
  2. Dan Zahavi: Husserls Phänomenologie. S. 87; siehe Literatur
  3. Dan Zahavi: Husserls Phänomenologie. S. 88 Diagramm 2; siehe Literaturangabe
  4. Manfred Spitzer, in: Geist & Gehirn: Kommunikation. Sprecher, Zuhörer und deren Gehirne. Nervenheilkunde 4/2012 in Schattauer 2012, S.281 - http://www.schattauer.de/t3page/1214.html?manuscript=17470PB