Randgruppenstrategie

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Als Randgruppenstrategie wird eine theoretisch von Herbert Marcuse begründete Praxis der Außerparlamentarischen Opposition bezeichnet, wonach sozial Deklassierte ein besonderes revolutionäres Potential aufweisen, weil sie den Widersprüchen der kapitalistischen Gesellschaft am deutlichsten ausgeliefert seien.

Die Randgruppen wurden kurzzeitig zum revolutionären Ersatzobjekt, nachdem Agitation im Industriebereich völlig fehlgeschlagen war. In Westdeutschland manifestierte sich diese Strategie in der Heimkampagne sowie Projekten in anderen totalen Institutionen, wie Gefängnissen, und der politischen Obdachlosenarbeit. Auch die Randgruppenstrategie war kurzlebig, sie wurde ab 1970 nicht mehr verfolgt.

Theoretischer Hintergrund und politisches Scheitern

Im Fazit seines 1967 in deutscher Übersetzung erschienenen Buches Der eindimensionale Mensch hatte Herbert Marcuse befunden, dass die Volksmassen längst ihren Frieden mit der Gesellschaft gemacht hätten, nur die „Geächteten und Außenseiter“ seien revolutionär-oppositionell, wenn auch ohne revolutionäres Bewusstsein. Die Ausgebeuteten „anderer Rassen und Farben“, die Arbeitslosen und die Arbeitsunfähigen existierten außerhalb des demokratischen Prozesses. Ihr Leben bedürfe „am unmittelbarsten und realsten der Abschaffung unerträglicher Verhältnisse und Institutionen“.[1]

Diesem Theorieansatz folgten Aktivisten der Außerparlamentarischen Opposition (APO) in Deutschland für einige Zeit, wobei sie sich besonders im Rahmen der Heimkampagne auf die Fürsorgeerziehung konzentrierten, die „geradezu ideale Bedingungen“ bot, „da hier nicht nur sozial Benachteiligte zu finden waren, sondern die Praxis der Fürsorgeerziehung insgesamt als Symbol für die unterdrückte Gesellschaft angesehen wurde“.[2] Jugendliche Heiminsassen wurden aufgefordert, aus den Fürsorgeheimen zu fliehen und in den Wohngemeinschaften der Studenten unterzutauchen.[3] Die Strategie wurde nur kurzfristig verfolgt.

Bereits 1969 beschloss der Sozialistische Deutsche Studentenbund, die Randgruppenprojekte finanziell nicht zu unterstützen, da derartige Aktivitäten mit dem Lumpenproletariat keine revolutionär-erfolgversprechende Strategie seien.[2] Und 1970 wurde auf einem studentischen Kongress in Berlin das Ende der Randgruppenstrategie zugunsten von Stadtteil- und Betriebsarbeit verkündet.[4] Der Kongressbeschluss resultierte einerseits aus der Schwierigkeit, ehemalige Heimjugendliche zu Klassenkämpfern zu machen, und andererseits daraus, dass den APO-Aktivisten die Fürsorgezöglinge zur Last fielen, aufgrund psychischer Schwierigkeiten,[5] der praktischen Versorgung und des Abdriftens in Kriminalität und Drogensucht. Martin Schmidt illustriert am Beispiel der systemkritischen Release-Bewegung: Die aus den Fürsorgeheimen entlaufenen Jugendlichen, die in den Release-Projekten gelandet waren, „hielten den politischen Erwartungen nicht stand und konsumierten im Zweifelsfall eben doch lieber Drogen, als gegen die kapitalistischen Strukturen der Bundesrepublik zu kämpfen“.[6]

In der kritischen Sozialarbeit wurde an das Konzept angeknüpft, als über „Sozialreform oder Revolution“ diskutiert wurde.[7]

Thomas Trapper bemerkt kritisch, dass das subjektive Wohlbefinden der Betroffenen die Protagonisten der Randgruppenstrategie höchstens am Rande interessiert hatte. Generell wendet er gegen die von Marcuse ausgegebene Strategie ein, „dass gerade demjenigen, der unter beeinträchtigenden und krankmachenden Verhältnissen leidet, der Appell zur Änderung dieser Verhältnisse als nicht realisierbar erscheinen muss“.[7]

Einzelnachweise

  1. Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. 3. Auflage. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1998, S. 267.
  2. a b Leonie Wagner: Jugendbewegungen und Soziale Arbeit. In: Leonie Wagner (Hrsg.): Soziale Arbeit und soziale Bewegungen. VS-Verlag, Wiesbaden 2009, ISBN 978-3-531-15678-1, S. 137.
  3. Dietmar Süß: Kumpel und Genossen. Arbeiterschaft, Betrieb und Sozialdemokratie in der bayerischen Montanindustrie 1945 bis 1976. Oldenbourg, München 2003, ISBN 3-486-56597-4, S. 418.
  4. Rosemarie Bohle: Heimvorteil. Vom Freundeskreis für Familienkinderheime zum Verbund sozialpädagogischer Kleingruppen. 50 Jahre Erziehungshilfe in der Bundesrepublik Deutschland. Kassel University Press, Kassel 2010, ISBN 978-3-89958-814-9, S. 68.
  5. Albrecht von Bülow: Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland. Zum Wandel der Konzepte stationärer Erziehung. Profil, München 1987, ISBN 3-89019-195-9, S. 24.
  6. Martin Schmid: Drogenhilfe in Deutschland. Entstehung und Entwicklung 1970–2000. Campus-Verlag, Frankfurt am Main 2003, S. 137.
  7. a b Thomas Trapper: Erziehungshilfe. Von der Disziplinierung zur Vermarktung? Entwicklungslinien der Hilfen zur Erziehung in den gesellschaftlichen Antinomien zum Ende des 20. Jahrhunderts. Klinkhardt, Bad Heilbrunn 2002, ISBN 3-7815-1202-9, S. 110.