Under der linden
Under der linden (Lachmann 39,11) ist ein Lied von Walther von der Vogelweide. Es thematisiert das Liebeserlebnis eines anscheinend einfachen Mädchens mit ihrem höfischen Geliebten in der freien Natur. In dem Lied kommt der Topos des locus amoenus (schöner Ort) vor.
Text
Walthers sogenannte „Mädchenlieder“, deren bekanntestes dieses ist, lösen zeitlich wahrscheinlich die Phase seiner Jugendlieder ab, die stark vom klassischen Minnesang geprägt ist. Sie zeigen die Abkehr vom Ideal der „Hohen Minne“ des Ritters zur höhergestellten Dame, die unerfüllt bleibt. Walther hat in verschiedenen Liedern das Wesen von Hoher und Niederer Minne charakterisiert und schließlich das neue Ideal der „ebenen Minne“ – einer erfüllten Liebe von gleich zu gleich – entwickelt.[1]
Under der linden |
Unter der Linde |
dâ ‚da‘ (lokal). – mugen ‚können‘. – vinden ‚finden‘; ‚vorfinden‘, ‚erkennen‘. – schône ‚schön‘ (Adverb; zu gebrochen); hier ‚sorgfältig‘. – beide … unde ‚sowohl … als auch‘. – tandaradei von Walther für den Gesang der Nachtigall erfundenes lautmalendes Wort.
Ich kam gegangen |
Ich kam |
ouwe ‚Au‘; ‚wasserreiches Wiesenland; Wiese in der Nähe eines Gewässers; Wiese; Au‘. – dô ‚da‘ (temporal). – friedel ‚Geliebter‘. – ê ‚‚vorher‘; ‚eher‘. – wart ‚wurde‘. – hêr ‚hehr; vornehm; edel‘. – frouwe ‚Dame‘; ‚Herrin‘. hêre frouwe ‚edle Herrin‘ kann auch Anrede an die Muttergottes sein. Die Zeile ist für uns (sicher nicht für Walthers Zeitgenossen) dreideutig: 1. ‚ich, eine höfische Dame‘ (das ist die wörtliche Übersetzung. Dann wäre das Mädchen tatsächlich eine höfische Dame; diese Deutung widerspricht aber der Situation des Liedes: eine hochadlige Jungfrau wäre zu gut behütet, um sich mit ihrem Geliebten in der Au treffen zu können) 2. ‚ich wie eine höfische Dame‘ (dann wäre das Mädchen keine adlige Dame, aber der Geliebte hätte sie, durch die sorgfältige Vorbereitung von Rosen usw., wie eine solche behandelt; diese Deutung kann man sich gut vorstellen, aber sie erfordert die syntaktische Ergänzung des ‚wie‘, das nicht im Text steht). 3. Ausruf ‚Heilige Maria!‘. Mit dieser Deutung hat man weder eine interpretatorische Schwierigkeit (wie bei Deutung 1), da sich aus der Situation ein Ausruf gut verstehen ließe, noch eine grammatikalische (wie bei Deutung 2), da ein Ausruf im Vokativ keine weiteren Satzglieder erfordert. Deutung 3 war daher früher allgemein akzeptiert. Es wäre jedoch das einzige Mal, dass Walther diesen Ausruf verwendet; daher ist man heute skeptisch. Allerdings benutzt Walther (als Mann) hêrre got! auch als ungläubigen Ausruf (nicht nur in einem Gebet); da kann man ihn wohl das Mädchen Maria! als ungläubigen Ausruf benutzen lassen. Wie geläufig solche Ausrufe in der Alltagssprache tatsächlich waren, wissen wir nicht, da wir zu wenig Belege mittelalterlicher Alltagssprache haben.[2]
Dô het er gemachet |
Da hatte er aus Blumen |
rîche ‚reich; prächtig‘. – des ‚dessen‘; hier ‚darüber‘. – inneclîche ‚innig‘; ‚‘herzlich‘. – iemen ‚irgendjemand‘. – pfat ‚Pfad‘; ‚Weg‘. – bî ‚bei‘; ‚an‘. – mac ‚kann‘. – mirz = mir daz ‚mir das‘.
Daz er bî mir læge, |
Dass er bei mir lag, |
wessez = wesse ez ‚wüsste es‘. – en-welle ‚wolle nicht‘ (en-: proklitischer Verneinungspartikel). – pflæge zu pflegen ‚eine Tätigkeit ausüben‘. – wan ‚außer‘. – mac ‚kann‘. – getriuwe ‚treu‘. – ‚das kann wohl verschwiegen sein‘ = ‚versteht sich wohl auf Verschwiegenheit‘.
Einzelnachweise
- ↑ Zur Diskussion, welcher Gattung dieses und die ihm ähnlichen Lieder angehören, siehe den Hauptartikel Walther von der Vogelweide.
- ↑ Zu den Deutungen von hêre frouwe siehe Hermann Reichert: Walther: Schaf im Wolfspelz oder Wolf im Schafspelz? In: Der achthundertjährige Pelzrock. Walther von der Vogelweide – Wolfger von Erla – Zeiselmauer. Hgg. Helmut Birkhan und Ann Cotten, Wien 2005, S. 449–506. Anders reiht die Wahrscheinlichkeit der möglichen Deutungen z. B. Joachim Heinzle, der „die Interpretation von hêre frouwe als Zitat der Anrede“ für „nicht mehr akzeptabel“ hält: Mädchendämmerung. Zu Walther 39, 11 und 74, 20. In: Verstehen durch Vernunft. Festschrift für Werner Hoffmann, hg. Burkhart Krause (Philologica Germanica 19), Wien 1997, S. 157.
Maßgebliche Textausgabe
- Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche. Hrsg. von Christoph Cormeau. – 14., völlig neu bearb. Aufl. d. Ausg. Karl Lachmanns, mit Beitr. von Thomas Bein u. Horst Brunner. Berlin [u.a.]: de Gruyter, 1996. ISBN 3-11-013608-2.
Literatur
- Thomas Bein: Walther von der Vogelweide. Reclam, Stuttgart 1997, ISBN 3-15-017601-8
- Ingrid Bennewitz: "Vrouwe / maget": Überlegungen zur Interpretation der sogen. 'Mädchenlieder' im Kontext von Walthers Minnesang-Konzeption. In: Walther von der Vogelweide. Hrsg. Hans-Dieter Mück, 1989, S. 237-252.
- Andreas Kraß: Saying It With Flowers: Post-Foucauldian Literary History and the Poetics of Taboo in a Premodern German Love Song (Walther von der Vogelweide, Under der linden). In: Dagmar Herzog/Helmut Puff/Scott Spector (Hg.), After the History of Sexuality: German Genealogies With and Beyond Foucault, Oxford 2012.
- Friedrich Neumann: Walther von der Vogelweide, Under der linden... In: Die deutsche Lyrik. Form und Geschichte. Interpretationen. Vom Mittelalter bis zur Frühromantik. Hg. von Benno von Wiese. Bagel, Düsseldorf 1957, S. 71–77.
- Hermann Reichert: Walther von der Vogelweide für Anfänger. 3., überarbeitete Auflage. facultas.wuv, Wien 2009, ISBN 978-3-7089-0548-8
- Hermann Reichert: Walther. Schaf im Wolfspelz oder Wolf im Schafspelz? In: Der achthundertjährige Pelzrock. Walther von der Vogelweide – Wolfger von Erla – Zeiselmauer. Hgg. Helmut Birkhan / Ann Cotten, Wien 2005, S. 449–506.
- Manfred Günter Scholz: Walther von der Vogelweide. korr. u. bibliogr. erg. Aufl. (Sammlung Metzler 316) Metzler, Stuttgart [u.a.] ²2005, ISBN 3-476-12316-2
- Meinolf Schumacher: Einführung in die deutsche Literatur des Mittelalters, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2010, ISBN 978-3-534-19603-6, S. 126-128.
- Peter Wapnewski: Waz ist Minne, München 1975.
Hörbeispiel
- „Under der linden“, interpretiert vom Salzburger Ensemble für Alte Musik Dulamans Vröudenton