„Ich weiß, dass ich nichts weiß“ – Versionsunterschied

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Das Mittel dazu war sein stetiges, bohrendes Bemühen, den Dingen auf den Grund zu gehen und sich nicht mit dem Vordergründigen zufrieden zu geben. Er wollte den „besten Logos“ zur Sprache zu bringen, das von Zeit und Örtlichkeit unabhängige, sich gleichbleibende Wesen der Sache.<ref>Vgl. Pleger, S. 178 ff.</ref> Sokratische Philosophie bedeutet eine innere Bewegtheit, eine Haltung, die Denken und Dasein bestimmt, was sich in der Übersetzung des Wortes [[Philosophie]] als „Liebe zur [[Weisheit]]“ ausdrückt: Die [[Liebe]] sei das einzige, wovon er etwas verstehe.<ref>Vgl. Platon, ''Theages'', 128a</ref>
Das Mittel dazu war sein stetiges, bohrendes Bemühen, den Dingen auf den Grund zu gehen und sich nicht mit dem Vordergründigen zufrieden zu geben. Er wollte den „besten Logos“ zur Sprache zu bringen, das von Zeit und Örtlichkeit unabhängige, sich gleichbleibende Wesen der Sache.<ref>Vgl. Pleger, S. 178 ff.</ref> Sokratische Philosophie bedeutet eine innere Bewegtheit, eine Haltung, die Denken und Dasein bestimmt, was sich in der Übersetzung des Wortes [[Philosophie]] als „Liebe zur [[Weisheit]]“ ausdrückt: Die [[Liebe]] sei das einzige, wovon er etwas verstehe.<ref>Vgl. Platon, ''Theages'', 128a</ref>


Sokrates nennt in seiner Verteidigungsrede den Gott [[Apollon]] von [[Delphi (Stadt)|Delphi]] als Garanten für die Wahrhaftigkeit seines Philosophierens. Er wurde vom Gott zur Weisheit berufen und nicht als Weiser bezeichnet - so deutete er das Orakel. Er befragte deshalb andere, die als weise galten, um von ihnen zu lernen. So kam es zu den Streitgesprächen mit den [[Sophistik|Sophisten]], den Weisen seiner Zeit, den in öffentlichen Ämtern stehenden Athenern, Bekannten und Freunden. Im Gegensatz zu den Sophisten ließ er sich nicht für seine Lehrtätigkeit bezahlen. Für ihn war es wichtig, ein sicheres Fundament für menschliche Erkenntnisse zu finden. Er glaubte, dieses Fundament liege in der [[Vernunft]]. Er war der Ansicht, dass der, der wisse, was gut ist, auch das Gute tun werde. Er glaubte, die richtige Erkenntnis führe zum richtigen Handeln. Und nur wer das Richtige tue werde zum richtigen Menschen. Wenn ein Mensch falsch handelt, so tut er das aus Sokrates' Sicht nur, weil er es nicht besser weiß. Deshalb sei es so wichtig, die Weisheit zu vermehren.
Sokrates nennt in seiner Verteidigungsrede den Gott [[Apollon]] von [[Delphi (Stadt)|Delphi]] als Garanten für die Wahrhaftigkeit seines Philosophierens. Er wurde vom Gott zur Weisheit berufen und nicht als Weiser bezeichnet - so deutete er das Orakel. Er befragte deshalb andere, die als weise galten, um von ihnen zu lernen. So kam es zu den Streitgesprächen mit den [[Sophistik|Sophisten]], den Weisen seiner Zeit, den in öffentlichen Ämtern stehenden Athenern, Bekannten und Freunden. Im Gegensatz zu den Sophisten ließ er sich nicht für seine Lehrtätigkeit bezahlen. Für ihn war es wichtig, ein sicheres Fundament für menschliche Erkenntnisse zu finden. Er glaubte, dieses Fundament liege in der [[Vernunft]]. Er war der Ansicht, dass der, der wisse, was gut ist, auch das Gute tun werde. Er glaubte, die richtige Erkenntnis führe zum richtigen Handeln. Und nur wer das Richtige tue werde zum richtigen Menschen. Wenn ein Mensch falsch handelt, so tut er das aus Sokrates' Sicht nur, weil er es nicht besser weiß. Deshalb sei es so wichtig, die Weisheit zu vermehren. Dazu diente das von Sokrates eingeführte induktive Verfahren, in einem ergebnisoffenen Prozess in Form von Frage und Antwort zu lehren:

:''Im Sokratischen Reden und Denken liegt erzwungener Verzicht, ein Verzicht, ohne den es keine Sokratische Philosophie gäbe. Diese entsteht nur, weil Sokrates im Bereich des Wissens nicht weiterkommt und die Flucht in den Dialog antritt. Sokratische Philosophie ist in ihrem Wesen dialogisch geworden, weil das forschende Entdecken unmöglich schien''.<ref>Vgl. Figal, S. 97f.</ref>

Diese Gesprächsform war für ihn die Urform des philosophischen Denkens und der einzige Weg zur Verständigung mit anderen.<ref>Jaeger, ''Paideia'', S. 582</ref> Mahnung (''protreptikos'') und Prüfung (''elenchos'') bewegten sich bei ihm in der Frageform.<ref>Jaeger, ''Paideia'', S. 601</ref>. Ein gutes Beispiel dafür bietet seine Verteidigungsrede:

:''Ich bin euch, ihr Athener, zwar zugetan und Freund, gehorchen aber werde ich dem Gotte mehr als euch, und solange ich noch atme und es vermag, werde ich nicht aufhören, nach Weisheit zu suchen und euch zu ermahnen und zurechtzuweisen, wen von euch ich antreffe, mit meinen gewohnten Reden, wie: Bester Mann, als ein Athener aus der größten und für Weisheit und Macht berühmtesten Stadt, schämst du dich nicht, für Geld zwar zu sorgen, wie du dessen aufs meiste erlangest, und für Ruhm und Ehre; für Einsicht aber und Wahrheit und für deine Seele, dass sie sich aufs beste befinde, sorgst du nicht, und hierauf willst du nicht denken? Und wenn jemand unter euch dies leugnet und behauptet, er denke wohl darauf, werde ich ihn nicht gleich loslassen und fortgehen, sondern ihn fragen und prüfen und ausforschen. Und wenn mich dünkt, er besitze keine Tugend, behaupte es aber, so werde ich es ihm verweisen, dass er das Wichtigste geringer achtet und das Schlechtere höher. So werde ich mit Jungen und Alten, wie ich sie eben treffe, verfahren und mit Fremden und Bürgern, um so viel mehr aber mit euch Bürgern, als ihr mir näher verwandt seid. Denn so, wißt nur, befiehlt es der Gott. Und ich meinesteils glaube, dass noch nie größeres Gut dem Staate widerfahren ist als dieser Dienst, den ich dem Gott leiste. Denn nichts anderes tue ich, als dass ich umhergehe, um Jung und Alt unter euch zu überreden, ja nicht für den Leib und für das Vermögen zuvor noch überall so sehr zu sorgen als für die Seele.''<ref>Platon, ''Apologie des Sokrates'', 29d ff.</ref>

Um Klarheit herzustellen, bediente sich Sokrates einer eigenen Methode, die als ''[[Mäeutik]]'' – eine Art „geistige Geburtshilfe“ – bezeichnet wird: Durch Fragen - und nicht durch Belehren des Gesprächspartners, wie es die Sophisten gegenüber ihren Schülern praktizierten – sollte die eigene Einsichtsfähigkeit schließlich das Wissen um das Gute (''agathón'') und Edle (''kalón'') selbst „gebären“ bzw. hervorbringen. Dieses Ziel war jedoch nicht ohne [[Einsicht]] in die Fragwürdigkeit des eigenen [[Wissen]]s erreichbar.

:''Sokrates, der Lehrer, tritt regelmäßig als Schüler auf. Nicht er will andere belehren, sondern von ihnen belehrt werden. Er ist der Unwissende, seine Philosophie tritt auf in der Gestalt des Nichtwissens. Umgekehrt bringt er seine Gesprächspartner in die Position des Wissenden. Das schmeichelt den meisten und provoziert sie, ihr vermeintliches Wissen auszubreiten. Erst im konsequenten Nachfragen stellt sich heraus, dass sie selbst die Unwissenden sind''.<ref>Pleger, S. 57.</ref>

Sokrates’ [[Ironie]] war nicht darauf angelegt, den anderen lächerlich zu machen, sondern sollte ihm seine Unzulänglichkeit als etwas zu erkennen geben, worüber derjenige selbst lachen konnte, anstatt zerknirscht zu sein. Wie schwer, ja oft unmöglich das vielen seiner Gesprächspartner wurde, zeigen die platonischen Dialoge. Als wenig hilfreich empfanden die Angesprochenen es im Zweifel auch, in der Öffentlichkeit der Agora auf diese Weise demontiert zu werden, zumal auch Sokrates´ Schüler sich in dieser Form des Dialogs übten.

Das Ziel war nicht Bücherwissen sondern Weisheit. Sokrates verkündete die Selbstbefreiung, Selbstherrschaft und Selbstgenügsamkeit der sittlichen Persönlichkeit.<ref>Jaeger, ''Paideia'', S. 588</ref> Zu den von Sokrates erzielten Ergebnissen gehörte, dass richtiges Handeln aus der richtigen Einsicht folgt und dass Gerechtigkeit Grundbedingung des Seelenheils ist.

:''In der Frage nach dem Guten liegt eigentlich der Dienst für den delphischen Gott. Die Idee des Guten ist letztlich der philosophische Sinn des delphischen Orakels.'' <ref>Vgl. Figal, S. 71f.</ref>

Die Untersuchungen des Sokrates kreisten deshalb meist um Fragen der Ethik: Was ist Frömmigkeit? Was ist Selbstbeherrschung (Enkratie)? Was ist Besonnenheit? Was ist Tapferkeit? Was ist Gerechtigkeit? Diese Tugenden (Aretai) verstand Sokrates als Vortrefflichkeiten der Seele, so wie Kraft, Gesundheit und Schönheit Tugenden des Körpers sind. Körperliche und seelische Tugend ist eine Symmetrie der Teile, auf deren Zusammenwirken Körper und Seele beruhen. Die wahre Tugend ist unteilbar und eins, man kann nicht einen Teil von ihr haben und den anderen nicht.<ref>Jaeger, ''Paideia'', S. 634</ref> Im Guten erkannte Sokrates das wahrhaft Nützliche, Heilsame und Glückbringende, weil es die Natur des Menschen zur Erfüllung seines Wesens führt. Das Ethische ist der Ausdruck der richtig verstandenen menschlichen Natur. Frei ist der Mensch nur, wenn er nicht der Sklave seiner eigenen Begierden ist:<ref>Vgl. Xenophon, Memorabilien I 5, 5 - 6; IV 5, 2 - 5</ref>

: ''Du, Antifon, scheinst die Glückseligkeit in Üppigkeit und großem Aufwand zu setzen; ich hingegen bin überzeugt, daß nichts bedürfen etwas göttliches und also das Beste ist, und die wenigsten Bedürfnisse haben, das was dem Göttlichen am Besten am nächsten kommt.''<ref>[http://gutenberg.spiegel.de/?id=5&xid=3167&kapitel=5&cHash=592c66e1882 Übersetzung von Wieland im Projekt Gutenberg]</ref>

Der Mensch erreicht den Einklang mit dem Weltganzen nicht durch die Befriedigung seiner sinnlichen Bedürfnisse, sondern „nur durch die vollendete Herrschaft über sich selbst nach dem Gesetz, das er in seiner eigenen Seele durch Forschen findet.“<ref>Vgl. zum Ganzen Jaeger, ''Paideia'', S. 586 und S. 609 f.</ref> Das wahre Ziel des Lebens ist das Wissen des Guten (Phronesis).


== Siehe auch ==
== Siehe auch ==

Version vom 22. November 2007, 17:57 Uhr

„Ich weiß, dass ich nichts weiß“ ist ein geflügeltes Wort, das als verfälschende Verkürzung eines Zitats aus Platons Apologie dem griechischen Philosophen Sokrates zugeschrieben wird.

Bedeutung

Die geläufige Übersetzung von Vorlage:Polytonisch, oída ouk eidós, [oi̯da ou̯k ei̯dɔːs] trifft nicht den Sinn der Aussage. Wörtlich übersetzt heißt der Spruch „Ich weiß als Nicht-Wissender“ bzw. „Ich weiß, dass ich nicht weiß“. Mit dieser Aussage meint Sokrates also nicht, dass er nichts weiß, sondern dass er die Einsicht gewonnen habe, es gebe kein sicheres Wissen und man könne von seinen Ansichten nur überzeugt sein, aber nichts sicher wissen.[1] Aber auch diese Aussage ist paradox, da er ja dann auch nicht wissen kann, dass er nichts weiß. Dieses so genannte Münchhausen-Trilemma wird von Sokrates nicht aufgelöst.

Originalzitat

Das geflügelte Wort ist als Verkürzung der Verteidigungsrede des Sokrates entlehnt, die von Platon überliefert wurde:

Und ihr wißt doch, wie Chairephon war, wie heftig in allem, was er auch beginnen mochte. So auch als er einst nach Delphoi gegangen war, erkühnte er sich hierüber ein Orakel zu begehren - nur, wie ich sage, kein Grollen ihr Männer. Er fragte also, ob wohl Jemand weiser wäre als ich. Da leugnete nun die Pythia, daß Jemand weiser wäre. Und hierüber kann euch dieser sein Bruder hier Zeugnis ablegen, da jener bereits verstorben ist. Bedenket nun, weshalb ich dieses sage; ich will euch nämlich erklären, woher doch die Verleumdung gegen mich entstanden ist. Denn nachdem ich dieses gehört, gedachte ich bei mir also: Was meint doch wohl der Gott? Und was will er etwa andeuten? Denn das bin ich mir doch bewußt, daß ich weder viel noch wenig weise bin. Was meint er also mit der Behauptung ich sei der weiseste? Denn lügen wird er doch wohl nicht, das ist ihm ja nicht verstattet. Und lange Zeit konnte ich nicht begreifen was er meinte, endlich wendete ich mich gar ungern zur Untersuchung der Sache auf folgende Art. Ich ging zu einem von den für weise gehaltenen, um dort, wenn irgendwo, das Orakel zu überführen und dem Spruch zu zeigen: Dieser ist doch wohl weiser als ich, du aber hast auf mich ausgesagt. Indem ich nun diesen beschaute, denn ihn mit Namen zu nennen ist nicht nötig, es war, aber einer von den Staatsmännern, auf welchen schauend es mir folgendergestalt erging, ihr Athener. Im Gespräch mit ihm schien mir dieser Mann zwar vielen andern Menschen auch am meisten aber sich selbst sehr weise vorzukommen, es zu sein aber gar nicht. Darauf nun versuchte ich ihm zu zeigen, er glaubte zwar weise zu sein, wäre es aber nicht, wodurch ich dann ihm selbst verhaßt ward und vielen der Anwesenden. Indem ich also fortging, gedachte ich bei mir selbst, als dieser Mann bin ich nun freilich weiser. Denn es mag wohl eben keiner von uns beiden etwas tüchtiges oder sonderliches wissen, allein dieser doch meint zu wissen, da er nicht weiß, ich aber wie ich eben nicht weiß, so meine ich es auch nicht, ich scheine also um dieses wenige doch weiser zu sein als er, daß ich, was ich nicht weiß, auch nicht glaube zu wissen. Hierauf ging ich dann zu einem Andern von den für noch weiser als jener geltenden, und es dünkte mich eben dasselbe, und ich wurde dadurch ihm selbst sowohl als vielen Andern verhaßt. Nach diesem nun ging ich schon nach der Reihe, bemerkend freilich und bedauernd, und auch in Furcht darüber, daß ich mich verhaßt machte. Doch aber dünkte er mich notwendig des Gottes Sache über alles andere zu setzen, und so mußte ich denn gehen immer dem Orakel nachdenkend, was es wohl meine, zu Allen welche dafür galten etwas zu wissen.[2]

Scheinwissen, Nichtwissen und Weisheit

Sokrates führt mit dieser Aussage die Gedankengänge des Xenophanes (um 500 v. Chr.) weiter, der nur vom Scheinwissen ausgeht: Vorlage:Polytonisch, „Und ein Scheinwissen ist auf allem bereitet.“ Sokrates beschäftigt sich mit diesem Thema auch in Platons Dialog Menon, in dem er selbigem sagt: Vorlage:Polytonisch − […] du freilich wusstest vielleicht früher, bevor du mit mir in Kontakt getreten bist, jetzt freilich bist du ähnlich einem Nicht-Wissenden.[3] Auch hier spielt Sokrates auf das Ändern der Meinung Menons an, der von seiner Meinung überzeugt war und dessen „Wissen“ durch Sokrates zuvor widerlegt wurde. Ähnlich erging es Protagoras, der nach Einwänden Sokrates’ die gegenteilige Meinung zum zuvor Gesagten einnahm. Weisheit beginnt also auch für Sokrates mit der Entlarvung des Scheinwissens.

Das Mittel dazu war sein stetiges, bohrendes Bemühen, den Dingen auf den Grund zu gehen und sich nicht mit dem Vordergründigen zufrieden zu geben. Er wollte den „besten Logos“ zur Sprache zu bringen, das von Zeit und Örtlichkeit unabhängige, sich gleichbleibende Wesen der Sache.[4] Sokratische Philosophie bedeutet eine innere Bewegtheit, eine Haltung, die Denken und Dasein bestimmt, was sich in der Übersetzung des Wortes Philosophie als „Liebe zur Weisheit“ ausdrückt: Die Liebe sei das einzige, wovon er etwas verstehe.[5]

Sokrates nennt in seiner Verteidigungsrede den Gott Apollon von Delphi als Garanten für die Wahrhaftigkeit seines Philosophierens. Er wurde vom Gott zur Weisheit berufen und nicht als Weiser bezeichnet - so deutete er das Orakel. Er befragte deshalb andere, die als weise galten, um von ihnen zu lernen. So kam es zu den Streitgesprächen mit den Sophisten, den Weisen seiner Zeit, den in öffentlichen Ämtern stehenden Athenern, Bekannten und Freunden. Im Gegensatz zu den Sophisten ließ er sich nicht für seine Lehrtätigkeit bezahlen. Für ihn war es wichtig, ein sicheres Fundament für menschliche Erkenntnisse zu finden. Er glaubte, dieses Fundament liege in der Vernunft. Er war der Ansicht, dass der, der wisse, was gut ist, auch das Gute tun werde. Er glaubte, die richtige Erkenntnis führe zum richtigen Handeln. Und nur wer das Richtige tue werde zum richtigen Menschen. Wenn ein Mensch falsch handelt, so tut er das aus Sokrates' Sicht nur, weil er es nicht besser weiß. Deshalb sei es so wichtig, die Weisheit zu vermehren. Dazu diente das von Sokrates eingeführte induktive Verfahren, in einem ergebnisoffenen Prozess in Form von Frage und Antwort zu lehren:

Im Sokratischen Reden und Denken liegt erzwungener Verzicht, ein Verzicht, ohne den es keine Sokratische Philosophie gäbe. Diese entsteht nur, weil Sokrates im Bereich des Wissens nicht weiterkommt und die Flucht in den Dialog antritt. Sokratische Philosophie ist in ihrem Wesen dialogisch geworden, weil das forschende Entdecken unmöglich schien.[6]

Diese Gesprächsform war für ihn die Urform des philosophischen Denkens und der einzige Weg zur Verständigung mit anderen.[7] Mahnung (protreptikos) und Prüfung (elenchos) bewegten sich bei ihm in der Frageform.[8]. Ein gutes Beispiel dafür bietet seine Verteidigungsrede:

Ich bin euch, ihr Athener, zwar zugetan und Freund, gehorchen aber werde ich dem Gotte mehr als euch, und solange ich noch atme und es vermag, werde ich nicht aufhören, nach Weisheit zu suchen und euch zu ermahnen und zurechtzuweisen, wen von euch ich antreffe, mit meinen gewohnten Reden, wie: Bester Mann, als ein Athener aus der größten und für Weisheit und Macht berühmtesten Stadt, schämst du dich nicht, für Geld zwar zu sorgen, wie du dessen aufs meiste erlangest, und für Ruhm und Ehre; für Einsicht aber und Wahrheit und für deine Seele, dass sie sich aufs beste befinde, sorgst du nicht, und hierauf willst du nicht denken? Und wenn jemand unter euch dies leugnet und behauptet, er denke wohl darauf, werde ich ihn nicht gleich loslassen und fortgehen, sondern ihn fragen und prüfen und ausforschen. Und wenn mich dünkt, er besitze keine Tugend, behaupte es aber, so werde ich es ihm verweisen, dass er das Wichtigste geringer achtet und das Schlechtere höher. So werde ich mit Jungen und Alten, wie ich sie eben treffe, verfahren und mit Fremden und Bürgern, um so viel mehr aber mit euch Bürgern, als ihr mir näher verwandt seid. Denn so, wißt nur, befiehlt es der Gott. Und ich meinesteils glaube, dass noch nie größeres Gut dem Staate widerfahren ist als dieser Dienst, den ich dem Gott leiste. Denn nichts anderes tue ich, als dass ich umhergehe, um Jung und Alt unter euch zu überreden, ja nicht für den Leib und für das Vermögen zuvor noch überall so sehr zu sorgen als für die Seele.[9]

Um Klarheit herzustellen, bediente sich Sokrates einer eigenen Methode, die als Mäeutik – eine Art „geistige Geburtshilfe“ – bezeichnet wird: Durch Fragen - und nicht durch Belehren des Gesprächspartners, wie es die Sophisten gegenüber ihren Schülern praktizierten – sollte die eigene Einsichtsfähigkeit schließlich das Wissen um das Gute (agathón) und Edle (kalón) selbst „gebären“ bzw. hervorbringen. Dieses Ziel war jedoch nicht ohne Einsicht in die Fragwürdigkeit des eigenen Wissens erreichbar.

Sokrates, der Lehrer, tritt regelmäßig als Schüler auf. Nicht er will andere belehren, sondern von ihnen belehrt werden. Er ist der Unwissende, seine Philosophie tritt auf in der Gestalt des Nichtwissens. Umgekehrt bringt er seine Gesprächspartner in die Position des Wissenden. Das schmeichelt den meisten und provoziert sie, ihr vermeintliches Wissen auszubreiten. Erst im konsequenten Nachfragen stellt sich heraus, dass sie selbst die Unwissenden sind.[10]

Sokrates’ Ironie war nicht darauf angelegt, den anderen lächerlich zu machen, sondern sollte ihm seine Unzulänglichkeit als etwas zu erkennen geben, worüber derjenige selbst lachen konnte, anstatt zerknirscht zu sein. Wie schwer, ja oft unmöglich das vielen seiner Gesprächspartner wurde, zeigen die platonischen Dialoge. Als wenig hilfreich empfanden die Angesprochenen es im Zweifel auch, in der Öffentlichkeit der Agora auf diese Weise demontiert zu werden, zumal auch Sokrates´ Schüler sich in dieser Form des Dialogs übten.

Das Ziel war nicht Bücherwissen sondern Weisheit. Sokrates verkündete die Selbstbefreiung, Selbstherrschaft und Selbstgenügsamkeit der sittlichen Persönlichkeit.[11] Zu den von Sokrates erzielten Ergebnissen gehörte, dass richtiges Handeln aus der richtigen Einsicht folgt und dass Gerechtigkeit Grundbedingung des Seelenheils ist.

In der Frage nach dem Guten liegt eigentlich der Dienst für den delphischen Gott. Die Idee des Guten ist letztlich der philosophische Sinn des delphischen Orakels. [12]

Die Untersuchungen des Sokrates kreisten deshalb meist um Fragen der Ethik: Was ist Frömmigkeit? Was ist Selbstbeherrschung (Enkratie)? Was ist Besonnenheit? Was ist Tapferkeit? Was ist Gerechtigkeit? Diese Tugenden (Aretai) verstand Sokrates als Vortrefflichkeiten der Seele, so wie Kraft, Gesundheit und Schönheit Tugenden des Körpers sind. Körperliche und seelische Tugend ist eine Symmetrie der Teile, auf deren Zusammenwirken Körper und Seele beruhen. Die wahre Tugend ist unteilbar und eins, man kann nicht einen Teil von ihr haben und den anderen nicht.[13] Im Guten erkannte Sokrates das wahrhaft Nützliche, Heilsame und Glückbringende, weil es die Natur des Menschen zur Erfüllung seines Wesens führt. Das Ethische ist der Ausdruck der richtig verstandenen menschlichen Natur. Frei ist der Mensch nur, wenn er nicht der Sklave seiner eigenen Begierden ist:[14]

Du, Antifon, scheinst die Glückseligkeit in Üppigkeit und großem Aufwand zu setzen; ich hingegen bin überzeugt, daß nichts bedürfen etwas göttliches und also das Beste ist, und die wenigsten Bedürfnisse haben, das was dem Göttlichen am Besten am nächsten kommt.[15]

Der Mensch erreicht den Einklang mit dem Weltganzen nicht durch die Befriedigung seiner sinnlichen Bedürfnisse, sondern „nur durch die vollendete Herrschaft über sich selbst nach dem Gesetz, das er in seiner eigenen Seele durch Forschen findet.“[16] Das wahre Ziel des Lebens ist das Wissen des Guten (Phronesis).

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Michael Stokes: Apology of Socrates, Warminster: Aris & Phillips, 1997, Seite 18
  2. Platon, Apologie 21 St, Übersetzung von Friedrich E. D. Schleiermacher; Vorlage:Polytonisch, „Dieser meint irgendetwas zu wissen, obwohl er es nicht weiß, aber ich, wie ich es nun nicht weiß, glaube es auch nicht.“
  3. Platon, Menon 80d.
  4. Vgl. Pleger, S. 178 ff.
  5. Vgl. Platon, Theages, 128a
  6. Vgl. Figal, S. 97f.
  7. Jaeger, Paideia, S. 582
  8. Jaeger, Paideia, S. 601
  9. Platon, Apologie des Sokrates, 29d ff.
  10. Pleger, S. 57.
  11. Jaeger, Paideia, S. 588
  12. Vgl. Figal, S. 71f.
  13. Jaeger, Paideia, S. 634
  14. Vgl. Xenophon, Memorabilien I 5, 5 - 6; IV 5, 2 - 5
  15. Übersetzung von Wieland im Projekt Gutenberg
  16. Vgl. zum Ganzen Jaeger, Paideia, S. 586 und S. 609 f.

Literatur

  • Manfred Fuhrmann: Apologie des Sokrates, mit einem Nachwort, Stuttgart: Reclam, 1986. ISBN 3-15-008315-X
  • Wolfgang H. Pleger: Sokrates. Der Beginn des philosophischen Dialogs. Reinbek 1998
  • Michael Stokes: Apology of Socrates, Warminster: Aris & Phillips, 1997. ISBN 0-85668-371-X