Quelltext der Seite Tiguriner

<!--schweizbezogen-->
Die '''Tiguriner''' ({{laS|Tigurini|grc=Τιγουρίνοι}}) waren einer der vier [[Gau]]e (''[[Pagus|pagi]]'') des [[Kelten|keltischen]] [[Helvetier]]-Stammes.
[[Datei:Charles Gleyre Les Romans p.jpg|mini|Die Helvetier zwingen bei Agen im Jahr 107 v. Chr. die Römer unter dem Joch hindurch. [[Historienmalerei|Historiengemälde]] des 19. Jahrhunderts von Charles Gleyre.]]
[[Datei:Historische Karte CH Helvet.png|mini|Keltische und Rätische Besiedlung der heutigen Schweiz im 1. Jahrhundert v. Chr.]]

== Geschichte ==
Das Siedlungsgebiet der Tiguriner lag im Gebiet um [[Avenches|Aventicum]] in der [[Romandie|Westschweiz]]. ''Tigurini'' entstammt der [[Gallische Sprache|gallischen Sprache]] und bedeutet «Herren» ({{gaS|tigern}}) respektive «Herr» ({{cyS|teyrn}}).

Historisch in Erscheinung treten die Tiguriner und die [[Tougener]] mit den [[Kimbern]], mit denen sie im Rahmen der [[Kimbernkriege]] das südliche [[Gallien]] verwüsteten. 107 v. Chr. gelangten sie in das Gebiet der [[Volcae|Volker]] im heutigen Südfrankreich und schlugen unter der Führung von [[Divico]] im Gebiet der [[Nitiobrogen]]<ref>[[Titus Livius]]: ''Periochae.'' 65.</ref> das [[Römisches Reich|römische]] Heer des [[Consulat|Konsuls]] [[Lucius Cassius Longinus (Konsul 107 v. Chr.)|Lucius Cassius Longinus]] und dessen Legaten [[Lucius Calpurnius Piso Caesoninus (Konsul 112 v. Chr.)|Lucius Calpurnius Piso Caesoninus]]. Lucius Cassius wurde zusammen mit einem Grossteil der Truppen von den Kimbern getötet, sie nahmen Geiseln und zwangen die Gefangenen unter das Joch, wie [[Gaius Iulius Caesar|Caesar]] überliefert. In der erhaltenen Epitome von Livius’ Geschichtswerk [[Ab urbe condita (Livius)|Ab urbe condita]] wird diese Episode jedoch nicht erwähnt.<ref>Dort heißt es nur: {{" |Sprache=la |Text=L. Cassius cos. a Tigurinis Gallis, pago Helvetiorum, qui a civitate secesserant, in finibus Nitiobrogum cum exercitu caesus est. Milites, qui ex ea caede superaverant, obsidibus datis et dimidia rerum omnium parte, ut incolumes dimitterentur, cum hostibus pacti sunt.}} Livius, ''Periochae.'' 61–65, LXV.</ref> Der genaue Ort der Schlacht ist nicht überliefert, er dürfte aber an der [[Garonne]] bei [[Agen]] gelegen sein, weshalb gemeinhin von der [[Schlacht bei Agen]] die Rede ist. Bei [[Orange (Vaucluse)|Orange]] schlugen die Tiguriner wieder gemeinsam mit den anderen Stämmen 105 v. Chr. ein weiteres römisches Heer.

Um 102/101 v. Chr. folgten die Tiguriner den Kimbern auf ihrem Zug über die [[Alpen]], drangen aber nicht in Italien ein, sondern verblieben beim [[Brennerpass]].<ref>[[Florus]]: ''Epitoma de Tito Livo.'' 1,38,18.</ref> Nachdem die Kimbern 101 v. Chr. in der [[Po-Ebene|Poebene]] [[Schlacht von Vercellae|bei Vercellae]] von den Truppen des [[Gaius Marius]] und des [[Quintus Lutatius Catulus (Konsul 102 v. Chr.)|Quintus Lutatius Catulus]] besiegt wurden, kehrten die Tiguriner in ihre Heimat zurück. Die Tiguriner konnten der Vernichtung entgehen und zogen mit ihrer Beute wieder nach Norden. Die Tiguriner beziehungsweise die Helvetier blieben danach im kollektiven Gedächtnis Roms als starker und bedrohlicher keltischer Stamm erhalten.<ref>Nach Furger-Gunti<!-- was soll das sein ??? --> 1984, S. 75–77.</ref>

58 v. Chr. nahmen sie an dem Zug der Helvetier in das südliche Gallien teil, wurden von den Truppen [[Gaius Iulius Caesar|Caesars]] noch vor der [[Schlacht bei Bibracte]] an der [[Saône]] geschlagen und zur Rückkehr in das Gebiet der heutigen Schweiz gezwungen.<ref>[[Appian]]: ''Römische Geschichte.'' 1,8: Die Truppen sollen von Cäsars Legaten T. Attius Labienus befehligt worden sein; Caesar sich aber den Sieg über die Tiguriner zugeschrieben haben, um sich als ‚Rächer‘ der römischen Niederlage von 107 v. Chr. darzustellen.</ref>

== {{Anker|Tigurinus}} ''Tigurum'' als neulateinischer Name der Stadt Zürich ==
[[Datei:Zürich, ½ Taler 1721 (CH-2088-6-ID734) rv.jpg|mini|''Tigurum'' statt ''Turicum'': Zürichs neulateinischer Name war von Gelehrten erfunden worden, angelehnt an den Namen der Tiguriner. Er wurde ungefähr zwischen 1500 und 1800 verwendet. (½ Taler, 1721.)]]
Ab dem frühen 16. Jahrhundert brachten [[Renaissance-Humanismus|humanistische]] Gelehrte die Tiguriner, welche heldenhaft die Römer besiegt hatten, in Verbindung mit dem Namen der Stadt [[Zürich]] (in römischer Zeit: [[Turicum]]). In [[Latein#Neuzeit|neulateinischen]] Texten (z.&nbsp;B. auf Münzen,<ref>Eines der frühesten Beispiele ist {{Inschrift|Text=MONETA NOVA REIPVBLICAE TIGVRINAE}} auf einer [https://ikmk-win.ch/object?lang=de&id=ID2929 2-Taler-Münze von 1651]. Im 16. Jahrhundert war noch das «echt antike» Adjektiv ''Turicensis'' verwendet worden (oft ''Thuricensis'' geschrieben), z.&nbsp;B. {{Inschrift|Text=MON(eta) NO(va) TVRICENSIS CIVIT(atis) IMPER(ialis)}} («neue Münze der Reichsstadt Zürich») auf einem [https://ikmk-win.ch/object?lang=de&id=ID1682 Taler von 1560].</ref> siehe Abbildung) wurde Zürich ''Tigurum'' genannt und als Adjektiv («Zürcher») wurde '''Tigurinus''' üblich.<ref>Suche nach der Angabe des Druckortes [https://www.e-rara.ch/zuz/search?operation=searchRetrieve&query=%28bib.originPlace%3DTiguri%29+sortBy+dc.date%2Fasc ''Tiguri''] («in Zürich», lateinische [[Lokativ]]-Form zu ''Tigurum'') und [https://www.e-rara.ch/search/quick?query=Tigurinus&s=date ''Tigurinus''] in ''e-rara.ch''. Die frühesten gefundenen Beispiele stammen aus den Jahren [https://www.e-rara.ch/zuz/content/zoom/9187116 1523] bzw. [https://www.e-rara.ch/zuz/content/zoom/18878000 1518]. – Die frühesten Werke mit Angabe des Druckorts ''Tiguri'' erschienen alle im Verlag [[Christoph Froschauer]]; ab 1551 verwendeten auch [[Rudolf Wyssenbach]] bzw. Andreas Gessner/Rudolf Wyssenbach den Namen (z.&nbsp;B. Wyssenbach 1551, [[doi:10.3931/e-rara-675]], Gessner/Wyssenbach 1553, [[doi:10.3931/e-rara-666]]).</ref> Der Zürcher Reformator [[Huldrych Zwingli]] verwendete in seinen Schriften konsequent den Stadtnamen ''Tigurum'' und die Adjektive ''Tigurinus'' oder ''Tigurensis''.<ref>[[Friedrich Salomon Vögelin]]: ''Zürich in römischer Zeit.'' Zürich 1890, S. 92 ([https://www.e-rara.ch/zuz/content/zoom/25367469?query=zwingli%20tigurinus online]).</ref> Die lateinische Übersetzung für das Zürcher Territorium, den «Zürichgow», lautete nun ''pagus Tigurinus'' (wörtlich: «das Tiguriner Stammesgebiet»).<ref>Zum Beispiel auf einer Karte, die 1660 in Paris gedruckt wurde: ''Tigurini'' (‹Tiguriner›) ''sive'' (‹oder›) ''Tigurinus pagus in Helvetiis – le Zurichgow en Suisse…'' (siehe [[:Datei:Les Cantons de Zurich, Schaffhouse et Appenzel... - par le Sr Sanson d'Abbeville - btv1b53042925m.jpg|Abbildung]] in Wikimedia Commons). Die Bildbeschriftung einer Radierung der Stadt Zürich von 1581 lautet: {{" |Sprache=la |Text=TIGVRUM, sive Turegum, Caesari, ut plerique existimant, Tigurinus pagus, vulgo Zürÿch; urbs in Helvetijs ut vetustissima, ita maxima, et omnium celeberrima.}} «TIGVRUM, oder Turegum, für Caesar, wie die meisten glauben, ''Tigurinus pagus'', gemeinhin Zürÿch; die älteste und grösste Stadt in der Schweiz, und die berühmteste von allen.» (Siehe [[:Datei:CH-NB - Grafiken Orts- und Landschaftsansichten - GS-GRAF-ANSI-ZH-1003.tif|Abbildung]].)</ref>

Auch international wurde ''Tigurinus'' als lateinische Übersetzung von «Zürcher» verwendet; so wird z.&nbsp;B. der Naturforscher [[Johann Jakob Scheuchzer]] in einem seiner Werke, das 1708 für die ''[[Royal Society]]'' in London veröffentlicht wurde, als ''Med(icinae) D(octor) Helvetio-Tigurinus'' vorgestellt, als «Doktor der Medizin aus Zürich in der Schweiz».<ref>Siehe [[:Datei:Johann Jakob Scheuchzer (1708).jpg|Abbildung]] in Wikimedia Commons. Das ''[[Imprimatur]]'' (die [[Druckfreigabe]]) stammt von [[Isaac Newton]] persönlich, der damals Präsident der ''Royal Society'' war. (Digitalisat: [[doi:10.3931/e-rara-22610]].)</ref>

Die Inschrift auf dem [[Grabstein des Lucius Aelius Urbicus]] – entdeckt im Jahr 1747 auf dem [[Lindenhof (Zürcher Hügelzug)|Lindenhof]] – bewies schliesslich, dass der römische Ortsname ''Turicum'' gelautet hatte und das Adjektiv ''Turicensis''. In der Folge wurden ''Tigurum'' und ''Tigurinus'' seltener gebraucht; gegen Ende des 18. Jahrhunderts kamen diese humanistischen Neuschöpfungen vollends aus der Mode.<ref>In Münzlegenden wurde um 1770 von ''Tigurinae'' zurück zu ''Turicensis'' gewechselt, z.&nbsp;B. 1767 noch [https://ikmk-win.ch/object?lang=de&id=ID554 DUCATUS REIPUBLICAE TIGURINAE], 1773 dann [https://ikmk-win.ch/object?lang=de&id=ID1683 MONETA REIPUBLICAE TURICENSIS]. Eines der spätesten Beispiele für Bücher mit Angabe des Druckortes ''Tiguri'' («in Zürich») stammt aus dem Jahr 1796: [[doi:10.3931/e-rara-86762]].</ref>

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 Zürich, ½ Taler 1721 (CH-2088-6-ID734) av.jpg|''Moneta reipublicae Tigurinae'':<br />«Münze der Republik Zürich»
 Justus Jonas, Adversus Ioannem Fabrum, Tiguri 1523.jpg|''Tiguri'': «(gedruckt) in Zürich»<br />(Werk von [[Justus Jonas der Ältere|Justus Jonas]], 1523)
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== Literatur ==
* Andres Furger: ''Die Helvetier: Kulturgeschichte eines Keltenvolkes.'' Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich 1984, ISBN 3-85823-565-2.
* Ernst Howald, [[Ernst Meyer (Historiker)|Ernst Meyer]]: ''Die Römische Schweiz.'' Zürich 1940.
* {{HLS|8024|Tiguriner|Autor= [[Gilbert Kaenel]]}}
* {{HLS|8720|Agen, Schlacht bei|Autor= Gilbert Kaenel}}
* {{KlP|5|829||Tigurini|Ernst Meyer}}
* [[Theodor Mommsen]]: ''Die Schweiz in römischer Zeit.'' 1854.

== Weblinks ==
* [https://www.gottwein.de/Lat/caes/bg1011.php De bello Gallico: Niederlage der Tiguriner. Verhandlungen und erste Feindberührung mit den Helvetiern.]
* {{Meyers Online|15|709}}

== Anmerkungen ==
<references />

[[Kategorie:Keltischer Stamm]]
[[Kategorie:Helvetier]]
[[Kategorie:Geschichte (Kanton Waadt)]]