Anamneseerhebung in der Psychologischen Diagnostik

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Innerhalb der Psychologischen Diagnostik bezieht sich die Anamneseerhebung auf das Erfragen der Kranken- bzw. Vorgeschichte der untersuchten Person.[1]

Begriffsbestimmung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Etymologie: Griechisch „anamnesis“ = die Erinnerung[2]

Unter Anamnese versteht man die Vorgeschichte eines Tatbestands, insbesondere einer Erkrankung oder einer Störung.[3]

Da es innerhalb der Psychologischen Diagnostik nicht nur um den klinischen Bereich geht, wird aus Gründen der Präzision empfohlen, anstatt von „(psychologischer) Anamnese“ besser von der „Sammlung der typischerweise mit dem gegebenen Sachverhalt in Verbindung stehenden Informationen“ zu sprechen.[4][2][5]

Von Interesse sind dabei biologische, psychosoziale und psychische Chancen oder Risiken.[5]

Arten der Anamnese[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • somatische Anamnese (schließt die biologische Entwicklung, auch die der Familie, mit ein)
  • biografische Anamnese
  • sozioökonomische Anamnese

Themen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Sammlung der typischerweise mit dem gegebenen Sachverhalt in Verbindung stehenden Informationen kann auf unterschiedlichen theoretischen Ausrichtungen (z. B. Psychotherapieformen) beruhen.[2]

Boerner[6] führt die folgenden relevanten Bereiche an:

  • Formaler Rahmen der Entwicklung und der Lebensumstände
  • Verhältnis zu Eltern
  • Verhältnis zu Geschwistern
  • Entwicklungsauffälligkeiten und besondere einschneidende Ereignisse
  • Kindergartenzeit
  • Sozialkontakt während der ganzen Entwicklung
  • Schulzeit, Ausbildung und Beruf
  • Interessen, Vorlieben und Hobbys
  • Selbsteinschätzung bezüglich typischer Verhaltensweisen und Einstellungen
  • Zukunftsaussichten und -erwartungen, Selbstkonzept

Techniken[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Nach Kubinger[2] unterscheidet sich die Durchführung der Anamneseerhebung nach:

1. dem Grad der Strukturiertheit (Standardisierung):

a. Bei dem vollständig strukturierten Interview sind sowohl der Wortlaut als auch die Reihenfolge der Fragen verbindlich vorgegeben.
b. Das halbstrukturierte Interview wird durch einen Gesprächsleitfaden vorbereitet.
c. Bei dem nichtstandardisierten Interview ist lediglich ein thematischer Rahmen vorgegeben, innerhalb dessen die Gesprächsführung offen erfolgt.

2. Schriftlicher versus mündlicher Befragung

3. Eigen- oder Fremdanamnese

4. Positionierung innerhalb des diagnostischen Prozesses.

Regeln[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Schaffung einer Atmosphäre der Offenheit und des Vertrauens[4]
  • Anstreben eines partnerschaftlichen Verhältnisses mit den Klienten[4]
  • Sensibilisierung gegenüber der eigenen Beobachtungsgabe und Beurteilungsweise[4]
  • Forderung nach Selbstkritikfähigkeit, -erfahrung und -infragestellung[4]
  • Beachtung von „Lasterkatalogen“ (Monologisieren, Dogmatisieren, Distanzieren, Involvieren, Bewerten, Etikettieren, Bagatellisieren u. a. m.)[4]
  • kurze und verständliche Erklärungen[7]
  • einfaches, klares und genaues Deutsch[7]
  • Vermeidung von Fremdwörtern und Fachausdrücken[7]
  • Vermeidung von Suggestivfragen[7]

Sonstiges[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Da die Daten, die in der Anamneseerhebung gewonnen werden, Bestandteil des diagnostischen Prozesses sind und wesentlich zur diagnostischen Urteilsfindung beitragen, ist die Anamnese ebenfalls im Hinblick auf die Testgütekriterien zu bewerten.[3]

Häufige Ursachen für Versäumnisse bei der Sammlung der typischerweise mit dem gegebenen Sachverhalt in Verbindung stehenden Informationen:[2]

  • Anstatt von Hypothesenbildung samt systematischer Überprüfung erfolgt der Behandlungszugang aufgrund von Spekulationen
  • Routinebedingte „Betriebsblindheit“
  • Zeitdruck

Diverse publizierte Anamnesefragebogen unterstützen das Abfragen der interessierenden Fakten, z. B.

  • „Anamnestischer Elternfragebogen“ von Deegener[4]
  • Existenzanalytische Exploration von Wurst, Leiss, Polacek, Herle & Tutsch[4]
  • Systemisch Orientiertes Erhebungsinventar von Kubinger[4]

Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. K. D. Kubinger: Psychologische Diagnostik: Theorie und Praxis psychologischen Diagnostizierens. 2. überarb. und erw. Auflage. Hogrefe, Göttingen 2009, ISBN 978-3-8017-2254-8, S. 11.
  2. a b c d e K. D. Kubinger: Anamnese. In K. D. Kubinger, R. S. Jäger (Hrsg.): Schlüsselbegriffe der Psychologischen Diagnostik. Beltz, Weinheim 2003, ISBN 3-621-27472-3, S. 13–19.
  3. a b H. Häcker, K. H. Stapf (Hrsg.): Dorsch Psychologisches Wörterbuch. 15. Auflage. Huber, Bern 2009, ISBN 978-3-456-84684-2.
  4. a b c d e f g h i K. D. Kubinger, G. Deegener: Psychologische Anamnese bei Kindern und Jugendlichen. Hogrefe, Göttingen 2009, ISBN 978-3-8017-1278-5.
  5. a b K. D. Kubinger: Psychologische Diagnostik: Theorie und Praxis psychologischen Diagnostizierens. 2. überarb. und erw. Auflage. Hogrefe, Göttingen 2009, ISBN 978-3-8017-2254-8.
  6. K. Boerner: Das psychologische Gutachten. Ein praktischer Leitfaden. 7. erw. Auflage. Beltz, Weinheim/Basel 2004, ISBN 3-407-22163-0, S. 19.
  7. a b c d K. Westhoff, M. L. Kluck: Psychologische Gutachten schreiben und beurteilen. 3. Auflage. Springer, Berlin 1998, ISBN 3-540-64372-9.