Benutzer:Cabanero/transfuge de classe

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Durchs Raster[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Vieles fällt durch das Raster der wikipedianischen Regeln und bleibt außerhalb der Karteikästen. Beipiel: Maria Wimmer, Die Kindheit auf dem Lande., Rowohlt, Reinbek 1978. Die Autorin (nicht relevant) schreibt über ein wichtiges Thema. Sie hat sich Aus einer Arbeiterfamilie in die akademisch gebildete Mittelschicht emporgearbeitet, gegen alle Widerstände. Rowohlt vermarktet das Buch in der Reihe neue Frau. Klappentext: "Eine exemplarische Erzählung über die prägenden Jahre der Frauen, die heute um Dreißig sind". Thema verfehlt, aber wohl bewusst.

Und für Wikipedia: kein Thema. Es fehlt schon an der Begrifflichkeit. "Aufsteigerliteratur"? Den Begriff habe ich mir ausgedacht, er ist nicht etabliert. Und das verschnarchte deutschsprachige Feuilleton? In dessen Kielwasser die deutschsprachige Wikipedia segelt? Entdeckt Trends zehn Jahre nachdem sie anderswo schon wieder im Absteigen sind. Lohnt es sich, das Thema in diesem Medium hier zu etablieren, bzw. beim Versuch, das zu tun, sich die Zähne auszubeißen? Nein, es lohnt sich nicht, defininitv. Allenfalls könnte man einen Blog schreiben. --- Im Freitag lese ich: "Klassenliteratur" .Das ist schon mal nicht besser. Aber da hat sich einer Gedanken gemacht. --- Zwischenergebnis: Die Aufsteigerliteratur gehört vielleicht zum Thema Entwicklungsroman, jedenfalls dann, wenn der biographische Bericht in einer Kindheit in den Unterschichten beginnt.


Jetzt erst mal nur Material sammeln:

Von Bourdieu stammt wohl der Begriff "transfuge de classe". Ernaux bezieht sich in Die Jahre ausdrücklich auf ihn. Wie übersetzen? Im Forum von LEO heißt es (2010): "Mir fallen nur Aufsteiger, Parvenü, Emporkömmling etc. ein - alles mit negativer Konnotation." Tja.

Die französischsprachige Wikipedia hat einen Artikel dazu: https://fr.wikipedia.org/wiki/Transfuge_de_classe, sonst keine Sprachversion. Der Ausdruck stamme von der Philosophin Chantal Jaquet, heißt es dort. Ob das weiterhilft?

Zitat: "Parmi les auteurs de publications récentes, citons Chantal Jaquet, Rose-Marie Lagrave, Jean-Paul Delahaye, Édouard Louis, Nesrine Slaoui, Tonino Benacquista, Kaoutar Harchi, Adrien Naselli, sans oublier Jean Rohou et son Fils de ploucs un peu plus ancien." aus: Les transfuges de classe : des exceptions consolantes ? samedi 26 mars 2022, par Janine Reichstadt https://www.democratisation-scolaire.fr/spip.php?article340. (Stichprobe Naselli: kein Wikipedia-Artikel vorhanden.)

In Le Monde vom 24. September 2021 erfahre ich: "In Und deine Eltern, was machen sie? (JC Lattès) besuchte der Journalist Adrien Naselli, Sohn eines Busfahrers und einer Sekretärin, die Eltern anderer „Klassenüberläufer“, wie sie heute genannt werden: die Politikerinnen Aurélie Filippetti und Najat Vallaud-Belkacem, die Journalistin Rokhaya Diallo . Magistrat Youssef Badr, um nur die bekanntesten zu nennen." Mal sehn, wie viel Aufmerksamkeit die Genannten bei den Wikipedianern haben ...

Im Deutschlandfunk am 16.10.22: "Pierre Bourdieu, der Soziologe der „Distinction“, der „feinen Unterschiede“, ist ihr großes Vorbild. Durch ihn habe sie den Mut gefasst zu schreiben. Sie wurde eine „Transfuge de classe“, wie man in Frankreich sagt – jemand, dem es gelungen ist, durch Bücher und Bildung aufzusteigen, die Klassenschranken zu überwinden. In diesem Fall von der Krämerstochter Annie Duchesne – wie Annie Ernaux mit Mädchennamen hieß – zur gefeierten Schriftstellerin." Also der Ausruck "transfuge" dort eingebürgert und im deutschsprachigen Feuilleton oft zitiert. Der Artikel zu Chantal Jaquet in der dt. wP dagegen tut so, als gebe es das alles nicht. Diese habe Bourdieu "weiterentwickelt". Das wünscht man sich wohl --

Wiener Zeitung vom 17-9-22 über Louis: "Er, der transfuge de classe, der Klassenflüchtling,"

Und dann diese schönen Wort von Frau Dröscher bei Zeit online:

"Länger schon suche ich nach einem anderen Wort für "Aufsteiger*in". Ich suche ein Wort, das die selbstermächtigenden Aspekte hervorhebt, nicht allein die Zerrissenheit. Die Alltagssprache hält neben dem Aufsteiger wenig schmeichelhafte Ausdrücke wie Arrivist*in, Emporkömmling und Parvenu bereit. Im Französischen ist sogar vom transfuge de classe (dem Klassenflüchtling oder Klassenabtrünnigen) die Rede. All diese Begriffe beschwören Sozialfiguren herauf, denen immer schon der Verrat in den Knochen steckt. Eine Identität, die sich allein über etwas Negatives definiert.

In der Soziologie spricht man bisweilen von "Milieu-"oder "Klassenwechslern", was weniger abwertend, jedoch auch irreführend ist. Denn genau dieses finale Ankommen ist in der Logik des Klassenwechselns unmöglich. Ich bewege mich immer mehr oder weniger im Dazwischen, selbst wenn ich mich in der Illusion wähne, alle Herkunft hinter mir gelassen zu haben. Niemand kann seine erlernte soziale Grammatik leugnen oder vollständig löschen. Die erlernten Habitusformen sind verinnerlicht, auch wenn im Zuge eines Bildungsaufstiegs neu erlernte Muster die alten zu einem kleineren oder größeren Teil überschreiben.

Im Englischen betont der straddler (von to straddle gleich strampeln, spreizen) diesen permanenten Spagat: mit einem Bein in der Herkunftswelt, mit dem anderen in der aktuellen gesellschaftlichen Position. Ich will den psychologischen Abgrund, der sich aus diesem Dazwischen ergibt, keineswegs leugnen. Denn ja, ich bin eine Klassen-Verlorene, eine Klassen-Verzweifelte, eine Klassen-Verwirrte, ein Klassen-Kreuz, ein Klassen-Widerspruch. Und doch habe ich zunehmend das Bedürfnis, dieses Dazwischen sprachlich so zu fassen, dass die Zugehörigkeit zu beiden Welten sichtbar wird."

... und, noch einmal: LEIBOVICI Martne, "Le Verstehen narratf du transfuge. Incursions chez Richard Wright, Albert Memmi et Assia Djebar", Tumultes 2011/1 (Nr. 36), S. 91-109. DOI: 10.3917/tumu.036.0091. URL: htps://www.cairn.info/revue-tumultes-2011-1-page-91.htm

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