Benutzer:Wahrerwattwurm/Vorwort des Editors

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1955 erwachte „die Liebe des Pariser Publikums zu Stade de Reims“, in der zweiten Hälfte der 1950er hatte es auch mich, der ich damals in Wuppertal lebte und dem örtlichen WSV regelmäßig meine Aufwartung machte, erwischt. Den Grund dafür kann ich, fünf Jahrzehnte danach, nicht mehr mit Bestimmtheit nennen. War das Europapokalendspiel 1956 gegen Real Madrid der entscheidende Auslöser? Las ich irgendwo eine Auflistung des beachtlichen Reimser Palmarès? Da kam wohl einiges zusammen, aus dem sich eine anhaltende Zuneigung gebildet hatte, die noch heute kaum jemand wirklich wird verstehen können.

Anfang der 1950er hatte ich die Wachsoldaten vor einer französischen Kaserne in Rheinland-Pfalz bestaunt, und meine erste Antwort auf die Frage, was ich denn später einmal werden wolle, lautete nicht etwa „Lokführer“, sondern „Franzose“. Auch pflegten meine Eltern sich auf Französisch zu unterhalten, wenn wir Kinder nicht mitbekommen sollten, worum es bei ihrem Gespräch ging. Dann haben mich bei den Radioübertragungen von der Fußball-Weltmeisterschaft 1958 – vielleicht hatte ich bei einem Kinobesuch auch ein paar kurze Filmschnipsel von „meiner ersten WM“ in der Wochenschau erhascht – die mitreißende Spielschilderung des Rundfunkkommentators und mehr noch die ob ihres fremdartigen Klanges faszinierenden Namen wie Kopa, Fontaine, Jonquet oder Piantoni voll erwischt. Und schließlich, wohl um 1960, stieß ich auf ein Jugendbuch über einen jungen deutschen Fußballer, der als Austauschschüler nach Reims kam und dort – jawohl, genau, der dort bei Stade de Reims mittrainieren durfte! Das Buch habe ich in einem Rutsch und vermutlich mit begeisterungsroten Ohren verschlungen; welcher rundlederinteressierte Knabe hätte damals nicht mit den Größen (als „Stars“ bezeichnete die in Deutschland noch niemand in einer Zeit, in der der Kicker bewundernd, aber politisch natürlich gänzlich unkorrekt über den „legendären französischen Kolonialneger Larbi Ben Barek“ schrieb) gegen den Ball treten mögen, die 1958 Sepp Herbergers Mannen im Spiel um WM-Platz 3 mit 6:3 vom Rasen des Göteborger Ullevi-Stadions gefegt hatten? Dabei erinnere ich heutzutage nur noch einen einzigen Satz aus dem Buch, nämlich „Demain training avec Albert Batteux“ – wie gerne wäre ich der Glückliche gewesen, an den sich diese Aufforderung richtete! Erst viel später – und lange nach der großen Zeit des Vereins – habe ich den heiligen Rasen des Auguste-Delaune mit eigenen Augen sehen können. Mancher Kindertraum erfüllt sich eben nur mit erheblicher Verzögerung.

In diesem Buch wird die in Deutschland weitgehend unbekannte und ignorierte Geschichte des ersten internationalen Aushängeschilds des französischen Vereinsfußballs – lange vor der AS Saint-Étienne, Olympique Marseille, Paris Saint-Germain und Olympique Lyonnais – zusammenhängend und umfassend dargestellt. Der zeitliche Schwerpunkt liegt dabei naturgemäß auf den knapp zwei Jahrzehnten zwischen Ende des Zweiten Weltkriegs und Mitte der 1960er Jahre, die in Frankreich kurz „L’Épopée du Grand Reims“ genannt werden. Und ein „Heldenepos“ lässt sich nicht authentischer vermitteln als durch die Beschreibung seiner Helden; deshalb machen die weitgehend chronologisch angeordneten Biographien der namhaftesten Reimser Spieler, Trainer und Funktionäre den Großteil dieses Buches aus, ergänzt um Kapitel zum Verein, seinem Stadion und dessen Namensgeber. Im letzten Teil kommen auch Statistik-Liebhaber auf ihre Kosten. Die gleichfalls vor Jahrzehnten sehr erfolgreiche Frauenfußballabteilung des Klubs findet ebenfalls ihre Berücksichtigung, wenngleich reduziert auf lediglich vier Personenkapitel; leider erfährt die weibliche „Hälfte des Fußballhimmels“ immer noch nicht die ihr gebührende Rezeption, und das mehr als zwei Jahrzehnte, nachdem Alfred Wahl die Geschichte des französischen Rundledersports jenseits des Rheins zu einer universitären Disziplin erhoben hat. Wahl, Jahrgang 1938 und vordem Professor für Geschichte an der Université Paul-Verlaine in Metz, beklagte noch 2005, dass seine Fachkollegen dieses Thema keiner Forschungsarbeit für würdig hielten. Aus Wahls Feder stammen u.a. die Standardwerke Les archives du football. Sport et société en France (1880-1980). (1989), La balle au pied. Histoire du football. (1990), Les footballeurs professionnels des années trente à nos jours. (1995, gemeinsam mit Pierre Lanfranchi) und FIFA 1904-2004. 100 Jahre Weltfußball. (2004, gemeinsam mit Christiane Eisenberg, Pierre Lanfranchi und Tony Mason). Deutschsprachige Leser(innen) müssen aber wenigstens zum 80. Vereinsgeburtstag nicht länger auf „(fast) alles über Stade de Reims“ verzichten.

Mein Dank für ihre wertvolle, erinnernde Unterstützung geht an eine Reihe französischer Journalisten, Autoren und ehemaliger Spieler, die mir die Erfüllung meines Kindheitstraumes in etlichen persönlichen Gesprächen erst ermöglicht haben. Ohne andere dadurch abzuwerten, nenne ich stellvertretend Claude Prosdocimi, der – zufällig exakt an meinem 57. Geburtstag – in seinem Wohnzimmer einen unschätzbaren Fundus von Anekdoten und Fotos über seine damaligen Mitspieler vor mir ausgebreitet hat, und Thierry Berthou für seine jahrelange, kritische, immer aber solidarische Begleitung meiner Arbeit. Und meine Frau bewundere ich dafür, dass sie stets befürwortet hat, was ich tue, auch wenn sie mich deshalb (zu) oft mit meiner Schreibmaschine teilen musste.

Wenn sich Fehler in diesem Buch finden: als Autor der unter meinem dortigen Nickname „Wahrerwattwurm“ zuvor schon in der deutschsprachigen Wikipedia veröffentlichten und hier auf Papier zusammengestellten Einzelartikel nehme ich die Verantwortung dafür auf mich. Allerdings würde ich auch gerne den mir zustehenden Anteil an der Informationserweiterung und ggf. am Lesevergnügen für mich beanspruchen, den dieses mein geistiges Eigentum hoffentlich hervorruft.

Und nun also: „Allez, Reims!“
O.W., Altona, im Juni 2011