Fall «Carlos»

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Als Fall «Carlos» wird eine vom Spätsommer 2013 bis 2015 andauernde Schweizer Justiz-Kontroverse bezeichnet.

Verlauf

In der am 25. August 2013 ausgestrahlten Fernsehsendung «Der Jugendanwalt» der Reihe Reporter des Schweizer Fernsehens SRF wurde die Arbeit eines Jugendanwalts im Kanton Zürich porträtiert.[1] In diesem Rahmen wurde «Carlos» vorgestellt, ein zu diesem Zeitpunkt 17-jähriger Sohn eines Schweizers und einer Brasilianerin, der bisher 34 Mal wegen verschiedener Delikte verurteilt worden war.[2][3]

Die Betreuung «Carlos'» erfolgte durch den Kanton Zürich in der Form eines Sondersettings. Derartige Massnahmen können, sofern angezeigt, von der kantonalen Jugendanwaltschaft angeordnet werden. Die Firma RiesenOggenfuss GmbH mit Sitz in Zürich, eine vorwiegend in den Schweizer Kantonen Aargau und Basel-Landschaft tätige Firma, welche gemäss eigenen Angaben Resozialisierungsprogramme für schwer erziehbare Jugendliche durchführt, wurde mit diesem Sondersetting beauftragt.[4]

Dieses Sondersetting kostete gemäss der Justizdirektion des Kantons Zürichs den Staat im Monat 29'200 Franken.[3] Die Höhe der Kosten wie auch der Umstand, dass ein Gewalttäter in diesem Rahmen beim ebenfalls vorbestraftem mehrfachen Muay-Thai-Weltmeister Shemsi Beqiri Boxstunden nimmt[5] und dass sein Opfer[6], welches durch einen Messerstich in Lebensgefahr gebracht worden war, kaum staatliche Hilfe erhalten haben soll, stiess auf Kritik.

Auf Druck der Öffentlichkeit schlüsselte der Zürcher Justizdirektor Martin Graf die Kosten wie folgt auf:[3]

  • 1'930 Franken für eine Vierzimmer-Wohnung in Reinach BL
  • 5'300 Franken für das Muay-Thai-Training
  • 11'100 Franken für die Betreuungskosten
  • 1'800 Franken für einen Privatlehrer
  • 1'000 für die Elternarbeit
  • 640 Franken Taschengeld
  • 500 Franken für die Freizeit und das Wochenende

Konsequenzen

Der zuständige langjährige Jugendanwalt, der in der Fernsehsendung porträtiert wurde, hat gekündigt.[7]

Die Justizdirektion des Kanton Zürichs handelte auf Druck der Öffentlichkeit und zog aus diesem Fall Konsequenzen. So dürfen unter anderem Gewaltverbrecher kein Boxtraining auf Staatskosten nehmen und das Konzept des Sondersettings muss überdacht werden.[3] «Carlos» wurde in der Folge vorübergehend inhaftiert.

Am 18. Februar 2014 entschied das Bundesgericht, die erneute Inhaftierung von «Carlos» sei rechtswidrig gewesen. Die Zürcher Justiz habe «Carlos» allein wegen des öffentlichen Drucks inhaftiert und damit gegen Treu und Glauben verstossen. Daher müsse «Carlos» bis Ende Februar aus der geschlossenen Unterbringung entlassen werden. Ausserdem habe der Kanton eine Entschädigung von 3'000 Franken auszurichten.[8][9]

«Carlos» wurde in der Folge ab Anfang März 2014 in ein neues, kostengünstigeres Setting aufgenommen. Boxtraining gehört nicht mehr zur regulären Tagesstruktur. In der Freizeit kann «Carlos» Sport treiben.[10][11] Das neu angesetzte Sondersetting soll ergänzend zu den staatlichen Beiträgen mit Spenden finanziert werden.[12][13]

Nachdem die Finanzkommission des Kantonsrats das fehlende Controlling hinsichtlich der Finanzkompetenzen der Jugendanwälte – es bestünden keinerlei Einschränkungen zur Ausgabenhöhe – bereits bemängelte,[14] fordert die SVP und die BDP eine Parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) in dieser Angelegenheit.[15] Einzig die CVP signalisierte Zustimmung, sprach sich allerdings danach für eine Rückweisung des Berichts und gegen eine PUK aus.[16] Andere Parteien, wie die FDP oder die SP üben ebenfalls scharfe Kritik, halten auf Grund eines Einzelfalls eine PUK aber nicht für gerechtfertigt.[14] Der Antrag auf eine PUK war deshalb schlussendlich im Parlament chancenlos, ebenso wie der Antrag der CVP auf Rückweisung des Berichts.

Am 19. Juni 2014 gab die Oberstaatsanwaltschaft Zürich gegenüber der Presse bekannt, die Beteiligten seien «aufgrund des bisherigen Verlaufs der Schutzmassnahme gemeinsam zum Schluss gelangt, dass das Sondersetting keine erzieherischen oder therapeutischen Wirkungen mehr entfalte». Der leitende Jugendanwalt Patrik Killer sagte gegenüber der Presse, das Kosten-Nutzen-Verhältnis habe nicht mehr gestimmt. Das Setting würde umgehend abgebrochen und «Carlos» in die Freiheit entlassen. Bis September 2014 wurde er noch begleitet.[17] Ende Oktober 2014 wurde «Carlos» bis April 2015 wieder in Untersuchungshaft gesetzt, der Vorwurf lautete, er solle einen Mann mit einem Messer bedroht haben.[18] Im zugehörigen Prozess vom Oktober 2015, bei dem es unter anderem darum ging, konnte der Vorwurf allerdings entkräftet werden und er wurde diesbezüglich freigesprochen.[19]

Am 12. April 2015 wurde Justizdirektor Martin Graf aus dem Regierungsrat des Kantons Zürich abgewählt, was er selbst unter anderem dem Fall «Carlos» und dem Medienecho, das dieser Fall ausgelöst hatte, zuschrieb.[20]

Dokumentationen

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Hanspeter Bäni: Der Jugendanwalt. Video in: Reporter, SRF 1 vom 25. August 2013 (23 Minuten)
  2. 22'000 Franken im Monat für Gewalttäter (17). 20 Minuten, 27. August 2013, abgerufen am 12. März 2014.
  3. a b c d nzz.ch: «Ein unschöner, tragischer Einzelfall» vom 7. September 2013. Abgerufen am 9. September 2013
  4. Daniel Schneebeli: Riesen-Oggenfuss kassierte über drei Millionen. Tages Anzeiger online, 25. November 2014, abgerufen am 3. März 2014.
  5. Pascal Unternährer: «Wir müssen Carlos vor den Medien schützen». Tages-Anzeiger, 6. September 2013, abgerufen am 12. März 2014.
  6. Benno Gasser: Opfer von Messerstecher Carlos fordert 50'000 Franken. Tages-Anzeiger, 30. August 2013, abgerufen am 12. März 2014.
  7. NZZ am Sonntag: Jugendanwalt im Fall «Carlos» hat gekündigt - Schweiz Nachrichten - NZZ.ch. In: nzz.ch. Abgerufen am 5. März 2014.
  8. «Carlos» muss freigelassen werden, SRF
  9. Bundesgerichtsurteil vom 18. Februar 2014
  10. Pascal Unternährer: Kollegen sollen Carlos in Holland besuchen dürfen. In: Tages-Anzeiger.ch/Newsnet vom 6. März 2014, abgerufen am 8. März 2014
  11. Marcel Gyr, Andreas Schürer: Behörden rechtfertigen Aufenthalt im Ausland. In: Neue Zürcher Zeitung vom 6. März 2014, abgerufen am 8. März 2014
  12. Sondersetting soll mit Spenden finanziert werden. Tages-Anzeiger online, 2. März 2014, abgerufen am 3. März 2014.
  13. RiesenOggenfuss GmbH. kinderohnerechte.ch, archiviert vom Original am 3. März 2014; abgerufen am 4. März 2014.
  14. a b Andreas Schürer: SP fordert Direktionstausch, in NZZ Online, abgerufen am 11. März 2014
  15. Andreas Schürer: Keine Mehrheit für «Carlos»-PUK In: NZZ online, abgerufen am 11. März 2014
  16. sda/rom: Parlament lehnt PUK zum Fall Carlos klar ab In: 20 Minuten online, abgerufen am 15. April 2014
  17. Tagesanzeiger: Notwohnung für «Carlos», 19. Oktober 2014, abgerufen am 6. Oktober 2016
  18. Tagesanzeiger: «Carlos» ist frei, 21. April 2015, abgerufen am 6. Oktober 2016
  19. Tagesanzeiger: Es gab kein Messer – Freispruch für Carlos, 28. August 2015, abgerufen am 6. Oktober 2016
  20. Zürcher Wahlen Martin Graf sucht neuen Job. Neue Zürcher Zeitung, 12. April 2015, abgerufen am 23. März 2016.