Kartenlegerin von Suhl

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Der Fall der Kartenlegerin aus Suhl (Charlotte Marquardt; * 1902 in Berlin; † 1975 in Suhl) beschreibt ein 1955 ergangenes Unrechtsurteil der DDR-Justiz, welches Aufsehen in der Bundesrepublik wie in der DDR-Öffentlichkeit erregte. Die Amateurwahrsagerin wurde wegen günstiger Prognosen für republikfluchtwillige Familien und eines von einem Ausflug nach Westberlin eingeschmuggelten astrologischen Handbuchs mit der Begründung „Boykotthetze“ zu einer Zuchthausstrafe von zwölf Jahren verurteilt, die sie zu mehr als der Hälfte auch absitzen musste. Die Entlassung nach 1962 fand auf Vorbehalt und unter explizitem Hinweis auf die nach dem Mauerbau nicht mehr mögliche Verleitung zur Flucht statt. Marquardt, die bereits ein Rückenleiden hatte, wurde aufgrund der Haftbedingungen pflegebedürftig. Sie starb 1975 an Krebs.

Das als barbarisch[1] empfundene Urteil wurde mehrfach als Beispiel für systematische Rechtsbeugung in der DDR in einschlägigen Sammelwerken erwähnt.[2][3][1][4]

Vorgeschichte

Charlotte Marquardt war als Tochter eines Metallarbeiters in Berlin-Weißensee aufgewachsen, hatte als Telefonistin und Schreibkraft gearbeitet und 1927 einen Offizier der Schutzpolizei geheiratet, der nach Suhl versetzt wurde. Marquardt war Hausfrau und hatte zwei Söhne mit ihrem Mann. Nach einer Versetzung des Ehemanns nach Litzmannstadt (Łodz) im besetzten Polen wurde sie durch ihre polnische Haushälterin mit dem Wahrsagen durch Kartenlegen vertraut und begann Gefallen daran zu finden. Im Krieg ging die Ehe in die Brüche; der ältere Sohn starb als Flakhelfer, mit dem jüngeren Sohn wurde sie nach Suhl evakuiert. Sie arbeitete als Hilfsarbeiterin in einer Suhler Fabrik und legte weiter die Karten im Bekanntenkreis, wohl nicht gegen Geld, aber im Austausch gegen Sachspenden wie Lebensmittel. Entsprechende Anzeigen durch missgesinnte Nachbarn verliefen zunächst im Sande.[5] Bereits im Kaiserreich war Wahrsagen kein Straftatbestand; dennoch waren Wahrsager als Gruppe traditionell einer verstärkten polizeilichen Kontrolle ausgesetzt.[6] 1946 erließ im benachbarten Sachsen der nachmalige Innenminister Artur Hofmann ein Verbot des gewerblichen Wahrsagens, der Chiromantie, der Phrenologie und der Astrologie. Es wurden Strafen von bis zu 150 Reichsmark und die Zuführung zum Arbeitsamt für Wiederaufbauarbeiten angedroht.[6] Diese polizeiliche Behandlung (vgl. auch Esoterik und Parapsychologie in der DDR) wich zunächst nicht vom grundsätzlichen Vorgehen während des Nationalsozialismus oder im Deutschen Kaiserreich gegenüber Arbeitsscheuen und Asozialen ab.[6]

Anzeige und Prozess

1954 kam es von unbekannter Seite erneut zu einem Hinweis an die Stasi mit dem Verdacht, sie habe Menschen beraten, die danach des Verbrechens der Republikflucht schuldig befunden wurden.[5] Der Stasi-Leutnant Stoschek ermittelte 18 erwachsene Personen mit ihren Familien, die sie zwischen 1951 und ihrer Verhaftung im Herbst 1955 beraten hatte. Sie wurde deswegen der „Abwerbung durch Boykott- und Kriegshetze nach Artikel 6 der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik“ angeklagt. Das Suhler SED-Bezirksblatt Freies Wort veröffentlichte am 20. April 1956 unter der Schlagzeile „Gerechte Sühne für gewissenlose Abwerbung“ einen entsprechenden Bericht. Verschärfend kam hinzu, dass sie bei ihrer Verhaftung einen „Lorcher Astrologischen Kalender auf das Jahr 1956“ (vom völkischen Verleger Karl Rohm) mit sich führte, ein noch verpacktes Geschenk ihres Bruders.[5]

Als weitere Boykott- und Kriegshetze wurde das dort enthaltene nationale Horoskop der Bundesrepublik Deutschland ausgelegt, welches derselben zum 12. September 1956 aufgrund eines Glückstrigons zwischen Jupiter, Sonne und Mond eine bestimmende Rolle in einem wiedervereinigten Deutschland zuwies.[5] Die Tatsache, dass der Beschluss zur Republikflucht bei vielen der Beratenen bereits vorhanden war, wurde keineswegs urteilsmindernd verwendet.[7] Eine Zuchthausstrafe von zwölf Jahren wurde beantragt und so auch beschlossen.[1] Auch die westdeutschen Medien berichteten über diesen und andere Fälle.[8]

Strafe und bedingte Entlassung

Marquardt musste ihre Strafe im berüchtigten Frauenzuchthaus Hoheneck bei Stollberg im Erzgebirge antreten. Mehrere Anträge auf vorzeitige Entlassung wurden abschlägig beschieden, bis ihr zwei Jahre nach dem Mauerbau eine bedingte Strafaussetzung gewährt wurde. Im Kreise der Familie von Ilse Gratz, einer ehemaligen Haftgenossin, konnte sie sich etwas erholen. Gratz war zu einer Zuchthausstrafe verurteilt worden, weil sie Kolleginnen für Westaufenthalte die Adresse eines befreundeten Hoteliers empfohlen hatte. Marquardt blieb pflegebedürftig.

Einzelnachweise

  1. a b c Petra Weber: Justiz und Diktatur: Justizverwaltung und politische Strafjustiz in Thüringen 1945–1961 : Veröffentlichungen zur SBZ-/DDR-Forschung im Institut für Zeitgeschichte. Oldenbourg, München 2000, ISBN 3-486-56463-3 (online [abgerufen am 22. Oktober 2015]).
  2. Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen (Hrsg.): Unrecht als System: Dokumente über planmässige Rechtsverletzungen im Sowjetischen Besatsungsgebiet. 1954 (online [abgerufen am 22. Oktober 2015]).
  3. Karl Theodor Lieser: Sowjetzonales Strafrecht und Ordre Public. Alfred Metzner, 1962 (online [abgerufen am 22. Oktober 2015]).
  4. Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen (Hrsg.): Dokumente des Unrechts: das SED-Regime in der Praxis. 1957 (online [abgerufen am 22. Oktober 2015]).
  5. a b c d Baldur Haase: Beim Kartenlegen „Reklame für die Einheit“ – Charlotte M., die Kartenlegerin aus Suhl. Abgerufen am 22. Oktober 2015.
  6. a b c Sven Korzilius: „Asoziale“ und „Parasiten“ im Recht der SBZ/DDR: Randgruppen im Sozialismus zwischen Repression und Ausgrenzung (= Arbeiten zur Geschichte des Rechts in der DDR. Band 4). Böhlau, Köln/Weimar 2005, ISBN 3-412-06604-4, S. 44 ff. (onlineDissertation Uni Saarbrücken).
  7. Dietrich Müller-Römer: Die Grundrechte in Mitteldeutschland. Verlag Wissenschaft und Politik, 1965 (online [abgerufen am 22. Oktober 2015]).
  8. Die Urteilsbegründung bleibt meist geheim. Hamburger Abendblatt, 19. Juli 1958, abgerufen am 22. Oktober 2015.

Weblinks