Soziokratie

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Soziokratie ist eine Organisationsform, mit der Organisationen verschiedener Größe – von der Familie, über Unternehmen und NGOs bis zum Staat – konsequent Selbstorganisation umsetzen können. In ihrer modernen Fassung basiert sie auf Erkenntnissen der Systemtheorie. Ihr Hauptziel besteht in der Garantie einer Untergrenze für soziale Sicherheit, weil ein Ignorieren von Bedürfnissen strukturell vermieden wird. Die Mitglieder einer Organisation entwickeln Mitverantwortung kollektiver Intelligenz sowohl für den Erfolg der Organisation als Ganzes als auch für jeden Einzelnen.

Etymologie

Abgeleitet ist Soziokratie von den lateinischen und altgriechischen Wörtern socius ‚Begleiter‘ und kratein ‚regieren‘. Der französische Philosoph Auguste Comte, der auch den Ausdruck Soziologie schuf, prägte 1851 das Wort sociocratie. Später wurde es vom US-amerikanischen Soziologen Lester Frank Ward in einem Papier benutzt, das er für die Penn Monthly 1881 verfasste.

Entwicklung im 20. Jahrhundert

Kees Boeke

Mitte des 20. Jahrhunderts aktualisierte der Reformpädagoge Kees Boeke die Ideen von Ward und erweiterte sie erheblich. Boeke sah Soziokratie als eine Form der Regierung oder des Managements an, die von einer Gleichberechtigung der Individuen ausgeht und auf dem Prinzip der Zustimmung beruht. Diese Gleichberechtigung wird im Unterschied zur Demokratie nicht durch den Grundsatz „Ein Mensch – eine Stimme“ verkörpert, sondern durch den Grundsatz, dass eine Entscheidung nur getroffen werden kann, wenn niemand der Anwesenden einen schwerwiegenden und begründeten Einwand dagegen hat.

Soziokratie gibt der Mehrheit in Gruppenentscheidungsprozessen weniger Macht und dem Einzelnen mehr Macht als die Demokratie. Daher wurde sie von ihren Begründern als der nächste Schritt nach der Demokratie gesehen. Das Erfordernis eines Konsenses würde sie anfällig für politische Lähmung machen (außer in kleinen, homogenen Gruppen): Ein Mensch kann mit einem entschlossenen, begründeten Einwand jede Entscheidung blockieren. Um dieses Problem zu verringern, wird nicht gefragt, ob jeder zustimmt, sondern ob jemand dagegen ist (was eine psychische Hürde erzeugt). In einigen Formen der Soziokratie reicht eine bloße Missbilligung des Antrages nicht aus, sondern man muss ein triftiges Argument vorbringen. Soziokratie beruht daher nicht auf dem Konsensprinzip, sondern auf dem Prinzip der Zustimmung (engl.: consent), was bedeutet, dass sich nicht alle Teilnehmer einig sein müssen.

Um Soziokratie in größeren Gruppen anzuwenden, wird ein System der Delegation benötigt, bei dem die Gruppe Repräsentanten auswählt, die für sie die Entscheidungen auf einer höheren Ebene treffen. Kees Boeke führte die Ausdrücke naasthoger und naastlager ein. Naast (niederländisch für ‚nächst‘) bezieht sich darauf, dass eine höhere Ebene nicht höhergestellt ist als eine niedrigere. Das Entscheidungsgremium einer „nächsthöheren“ Ebene darf in einer soziokratischen Organisation seine Politiken nicht einer „nächstniedrigeren“ Ebene aufzwingen.

Gerard Endenburg

1970 übertrug Gerard Endenburg die Arbeit seines Lehrers Boekes auf das elektrotechnische Unternehmen, das er zwei Jahre zuvor von seinen Eltern übernommen hatte. Es entstand die Organisationsmethode Sociocratische Kringorganisatiemethode (englisch Sociocratic Circle organisation Method), die 1976 eine Unternehmenskrise überwinden half und weltweite Beachtung fand.[1]

Laut Endenburg gibt es vier Grundprinzipien in der Soziokratie:

  1. Der Konsent regiert die Beschlussfassung, das Konsentprinzip[2].
  2. Die Organisation wird in Kreisen aufgebaut, die innerhalb ihrer Grenzen autonom ihre Grundsatzentscheidungen treffen.
  3. Zwischen den Kreisen gibt es eine doppelte Verknüpfung, indem jeweils mindestens zwei Personen an beiden Kreissitzungen teilnehmen: ein funktionaler Leiter sowie mindestens ein Delegierter. [3]
  4. Die Kreise wählen die Menschen für die Funktionen und Aufgaben, die für die Verwirklichung des gemeinsamen Zieles als notwendig erachtet wurden, im Konsent nach offener Diskussion.

Probleme der Soziokratie als Moderationsmethode

Die Soziokratie will ohne Abstimmungen auskommen, es sollen Argumente zählen und nicht Köpfe. Jedes Kreismitglied kann durch einen schwerwiegenden Einwand die Entscheidungsfindung verlangsamen. Dabei entscheidet jeder ganz individuell, ob es sich um einen „schwerwiegenden“ Einwand handelt im Hinblick auf das gemeinsame Ziel. Allerdings gehört zu dem Einwand auch immer ein Argument, was hinter dem schwerwiegenden Einwand steckt. Mit Hilfe dieses Argumentes wird in der Gruppe eine neue Lösung gefunden, die dieses Argument auch berücksichtigt. Diese Entscheidungsfindung braucht etwas mehr Zeit und eine kompetente Moderation. Wenn bei Problemen, die eine terminierte Entscheidung erfordern, keine Lösung in einem Kreis gefunden werden kann, so wird das Thema zur Lösung an den nächsthöheren Kreis delegiert.

Siehe auch

Literatur

  • Lester Frank Ward: The Psychic Factors of Civilization. Ginn & Company, Boston 1893, Kapitel 38: Sociocracy #page=336 (Memento vom 25. Februar 2010 auf WebCite). Übersetzung von Dinu C. Gherman: Soziokratie. Oktober 2011

Vertreter der Soziokratie

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Gerhard Waldherr: Die ideale Welt. Veröffentlicht in Brand eins, Ausgabe 01/2009
  2. Beschreibung Konsent bei Soziokratie.at, weiterführende Informationen bei Soziokratie.at.
  3. John A. Buck, Gerard Endenburg, The creative forces of self-organization, 1984, Seite 5. Zitiert durch: Stefan Kühl: Wenn die Affen den Zoo regieren: die Tücken der flachen Hierarchien, Campus, erweiterte Neuauflage 1998, ISBN 3-593-35906-5, S. 79.