Unterlassen (Deutschland)

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Das Unterlassen ist in der Rechtswissenschaft eine Handlungsalternative zum positiven Tun (tautologisch oft als „aktives Tun“ bezeichnet) und zum sog. „Dulden“.

Begriff

Die Unterlassung ist die Nichtvornahme einer Handlung, welche dem Handelnden möglich gewesen wäre. Teilweise setzt man hierfür voraus, dass die unterlassene Handlung geboten gewesen ist. Ein solcher, engerer Unterlassungsbegriff ist von vornherein an eine normative bzw. juristische Betrachtung gebunden.

Die Handlungsqualität eines Verhaltens kann problematisch sein. Ob bloßes Unterlassen eines (gebotenen) positiven Tuns den Handlungsbegriff erfüllt, ist strittig. Zu verneinen ist dies, wenn man einem Handlungsbegriff folgt, der auf einem „Körperverhalten“ und ggf. auf dessen Ursächlichkeit für ein Handlungsergebnis beruht. Nach Gustav Radbruch können (positive) Handlung und Unterlassung nicht unter einen gemeinsamen Oberbegriff gebracht werden. Soweit andererseits vertreten wird, dass die Unterlassung selbst eine Form der Handlung ist, kann die Begründung des dann vorausgesetzten „abstrakten Handlungsbegriffs“ nur schwer geleistet werden.

Ein mit der Unterlassung verwandter Begriff ist die Duldung. Diese ist eine Unterlassung, wenn und insofern sich der Handelnde einem Umwelteinfluss oder der Handlung eines anderen nicht widersetzt. Die Duldung kann aber auch eine Handlung sein, zum Beispiel wenn der Handelnde an einer bestimmten Stelle ausharrt, an welcher er dem Einfluss ausgesetzt ist.

Eine Unterlassung führt zur Haftung oder Strafe dann, wenn ein Gebot bzw. eine Pflicht begründet ist, die tatsächlich unterlassene Handlung vorzunehmen. Die Verantwortlichkeit für ein eingetretenes Ereignis (strafrechtlich: für einen "Erfolg" wie der Tod oder die Verletzung eines Menschen) setzt voraus, dass ein Gebot missachtet wurde, das geschaffen war, diesen Erfolg durch eine geeignete Handlung zu verhindern (vgl. § 13 StGB). Mit dieser Norm (sogenannte Entsprechungsklausel) wird im Strafrecht die Gleichwertigkeit von Tun und Unterlassen zum Ausdruck gebracht. Voraussetzung der objektiven Zurechnung des Erfolgs ist der Nachweis, dass die gebotene Handlung im Rahmen der sogenannten condicio sine qua non-Formel den Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert hätte, das Unterlassen der gebotenen Handlung mithin kausal war.

Zivilrecht

Ein Unterlassen kann im Deliktsrecht nur dann eine Schadensersatzpflicht auslösen, wenn für den Täter Verkehrssicherungspflichten bestehen oder eine Garantenstellung als Beschützer- oder Überwachergarant. Andernfalls ist das Unterlassen nicht rechtswidrig.

Überwachergarant ist derjenige, der eine Gefahrenquelle geschaffen hat oder für sie Verantwortung trägt. Wer beispielsweise eine Grube aushebt, in die jemand stürzen könnte nicht absichert oder wer den Schnee auf seinem Abschnitt des Bürgersteiges nicht räumt verletzt ihm rechtlich aufgetragene Überwachungspflichten. Darunter fällt auch das pflichtwidrig gefährdende Vorverhalten, die sogenannte „Ingerenz“ und die „Zustandshaftung“.

Beschützergarant ist derjenige, den eine besondere Schutzpflicht hinsichtlich eines Rechtsgutes trifft. Diese Schutzpflicht kann aus der persönlichen Verbundenheit (Ehe, enge Verwandtschaft) oder aus tatsächlicher Übernahme der Gewähr für das Rechtsgut erwachsen (wobei eine vertragliche Verpflichtung auch unwirksam sein kann, daher tatsächliche Übernahme). Eine Schutzpflicht kann sich ansonsten auch aus dem Gesetz ergeben.

Strafrecht

Allgemeines

Im Strafrecht werden zwei Arten von Unterlassungsdelikten unterschieden. Dieser Unterschied beruht auf der Systematik der Gesetzbücher.

Echte Unterlassungsdelikte sind Tatbestände, die nur durch ein Unterlassen verwirklicht werden (Beispiele im deutschen Recht: § 323c StGB - Unterlassene Hilfeleistung, § 138 StGB - Nichtanzeige geplanter Straftaten; im schweizerischen Recht: Art. 128 StGB Unterlassung der Nothilfe, Art. 217 StGB Vernachlässigung von Unterhaltspflichten).

Bei unechten Unterlassungsdelikten ergibt sich die Strafbarkeit dogmatisch aus einer Zusammenschau des Allgemeinen Teils des Strafrechts mit einem Tatbestand des Besonderen Teils: Im deutschen Recht zum Beispiel ist das Töten eines Menschen in § 212 StGB verboten. Dessen Wortlaut „wer einen anderen tötet, wird bestraft“ bezieht sich aber nur auf eine Handlung. In § 13 StGB wird nun das Unterlassen dem Handeln gleichgestellt. Beide Normen zusammengedacht ergäben folgenden Wortlaut: „Wer einen Menschen tötet oder nicht verhindert, dass ein Mensch getötet wird, obwohl er dazu verpflichtet ist, wird bestraft“. § 212 StGB regelt ein typisches Begehungsdelikt, da die Norm nur Handlungen nennt. § 13 StGB bezieht sich auf diese Handlungen und erweitert die Strafbarkeit für ein Unterlassen (Entsprechung). Diese systematische Vorgehensweise des Gesetzgebers verkürzt den Gesetzestext zum Zwecke der Übersichtlichkeit, da nicht für jede Handlung eigens das entsprechende Unterlassen im Besonderen Teil formuliert werden muss.

Garantenstellung und -pflicht

Bei beiden Delikten wird vom Täter die Vornahme einer Handlung gefordert. Diese Handlung muss für ihn möglich und zumutbar gewesen sein. Er muss erkennen, dass er aufgefordert ist zu handeln, unterlässt dies jedoch vorsätzlich. Im Gegensatz zu den „echten Unterlassungsdelikten“ trifft den Täter bei den „unechten Unterlassungsdelikten“ zudem eine besondere Rechtspflicht zum Handeln, eine Garantenpflicht, die ihm aus seiner Garantenstellung heraus erwächst. Vorsätzlich handelt er in diesen Fällen, wenn er Kenntnis um alle objektiven Tatbestandsmerkmale (einschließlich seiner Garantenstellung) hat, weiterhin Kenntnis um die Erfolgsabwendungsmöglichkeiten und sich selbst einen Willen formuliert, untätig zu bleiben. Denkbar ist im Zusammenhang des Vorsatzvorwurfs, dass der Täter einem Tatbestandsirrtum bezüglich seiner Garantenstellung unterliegt, was ihn im Einzelfall entlasten kann.

Rechtswidrigkeit

Vorsätzliche (un-)echte Unterlassungsdelikte erfüllen den Unrechtstatbestand nicht, wenn sie gerechtfertigt sind. Insbesondere ist hier an die rechtfertigende Pflichtenkollision zu denken. Diese ist insbesondere denkbar, wenn von mehreren gleichrangigen Handlungspflichten nur eine erfüllt werden kann und nur eine erfüllt wird (Beispiel: Fortgeschrittener Wohnungsbrand. Rettungssanitäter X rettet A, obwohl A und B gleichermaßen in Not sind, weshalb B letztlich schwer verletzt wird). Eine Rechtfertigung aus Pflichtenkollision kann auch daraus resultieren, dass von mehreren verschiedenrangigen Pflichten diejenige gewählt wird, die höherrangig ist (Feuerwehrmann Y rettet A statt dessen von den Flammen eingeschlossenen Hund).

Sonstiges

In § 13 Absatz 2 StGB wird durch Verweis auf die Strafzumessungsvorschrift für besondere gesetzliche Milderungsgründe, § 49 StGB, geregelt, dass die Strafe des Unterlassungstäters milder ausfallen kann als bei dem Täter, der den tatbestandlichen Erfolg durch positives Tun hervorruft.

Der Passus „Tatbestand eines Strafgesetzes“ in § 13 StGB verdeutlicht das Analogieverbot nach Art. 103 Abs. 2 GG, wonach die Schutznorm positiv formuliert sein muss.

Das Bundesverfassungsgericht hat die Vorschrift für verfassungsgemäß erklärt, obwohl in der Literatur Bedenken in Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot vorgebracht werden. Gerade nähere Bestimmungen zur Garantenpflicht fehlen.

Strafrechtlicher Prüfungsaufbau des vorsätzlichen unechten Unterlassungsdelikts (Erfolgsdelikt):

I. Tatbestand

    1. Objektiver Tatbestand
       a. Tatsubjekt, -objekt und Erfolg
       b. Abgrenzung Tun / Unterlassen (einer gebotenen Handlung)
          (1) grds. führt jede gewillkürte Körperbewegung zur Annahme einer aktiven Handlung
          (2) Spezialfälle: Abbruch fremder Rettungshandlungen (Abschalten von Reanimatoren)
       c. Physisch-reale Möglichkeit zur Vornahme der gebotenen Handlung
       d. Garantenstellung
          (1) früher hergeleitet aus Gesetz (z.B. § 1626 BGB), Vertrag, tatsächlicher Übernahme oder
              aus rechtlich fundiertem engem natürlichem Lebensverhältnis (Gefahrengemeinschaft)
          (2) modern: Überwacher- (Herrschaft über Gefahrenquelle)/ Beschützergarant (Obhut über Rechtsgut, z.B. Kind)                            
       e. Gleichstellungsklausel (Keine eigenst. Bedeutung bei reinen Erfolgsdelikten)
       f. Hypothetische Kausalität
          Kausal, wenn die unterlassene Handlung nicht hinzugedacht werden kann, 
          ohne dass der tatbestandliche Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrschein-
          lichkeit entfiele.

II. Rechtswidrigkeit

    (insb. Rechtfertigende Pflichtenkollision)

III. Schuld

    Insb. Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens und Gebotsirrtum (Entschuldigungsgründe)

Literatur

  • Stephan Ast: Normentheorie und Strafrechtsdogmatik. Eine Systematisierung von Normarten und deren Nutzen für Fragen der Erfolgzurechnung, insbesondere die Abgrenzung des Begehungs- vom Unterlassungsdelikt, Duncker & Humblot, Berlin 2010, ISBN 978-3-428131747.
  • Carl Bottek: Unterlassungen und ihre Folgen. Handlungs- und kausalitätstheoretische Überlegungen. Mohr Siebeck, Tübingen 2014, ISBN 978-3-16-153161-3.
  • Armin Kaufmann: Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, Schwartz & Co., Göttingen 1959.
  • Klaus Otter: Funktionen des Handlungsbegriffs im Verbrechensaufbau?, Röhrscheid, Bonn 1973.
  • Gustav Radbruch: Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem. Zugleich ein Beitrag zur Lehre von der rechtswissenschaftlichen Systematik Berlin 1904.
  • Claus Roxin: Strafrecht. Allgemeiner Teil. Band II: Besondere Erscheinungsformen der Straftat, C. H. Beck, München 2003, ISBN 3-406-43868-7, S. 625–706.

Weblinks

  • Marten Selbmann, Einordnung des BGH-Urteils vom 20. Oktober 2011 - 4 StR 71/11 = HRRS 2012 Nr. 74 in die Dogmatik zur Geschäftsherrenhaftung[1]