Zeitwohlstand

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Zeitwohlstand ist ein Konzept der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, das mit der individuell erlebten Zeit verknüpft ist und mit dem die „eigene Zeit“ als besondere Ressource hervorgehoben wird. Das Konzept ist nicht eindeutig definiert und das Fehlen einer solchen Eindeutigkeit wird teils als kennzeichnendes Merkmal betont.[1]

Teils steht das Konzept Zeitwohlstand für einen immateriellen Wohlstand, der in einer Ressource begründet ist, welche eng an die Lebenszeit geknüpft ist und mehrere Dimensionen umfasst. Als Dimensionen werden insbesondere Folgende betrachtet: das Ausmaß der „eigenen Zeit“ (Zeitreichtum etwa in Form von Freizeit, Muße), die Selbstbestimmung über die Zeit (Zeitsouveränität), die subjektive Qualität der gelebten Zeit (entdichtete Zeit, Wohlbefinden) und die Einbindung in Zeitinstitutionen (etwa Wochenenden und Feiertage als gemeinsame Zeit, Bildungsurlaub). In dieser Interpretation ist Zeitwohlstand durch eine Verknüpfung mehrerer Indikatoren messbar, wobei die Art der Verknüpfung nicht vorgegeben ist.

Teils wird das Konzept Zeitwohlstand im Sinne einer Wertehierarchie verwendet („Primat der Zeit-Bedürfnisse der Menschen gegenüber den Ansprüchen der Ökonomie“.[2])

Kontext

Der Begriff des Zeitwohlstands wurde in den 1980er Jahren von dem Politologen Jürgen Rinderspacher eingeführt und in den 1990er Jahren von dem Ökonomen Gerhard Scherhorn weiter verbreitet, der besonders das Konkurrenzverhältnis zwischen (materiellem) Güterwohlstand und (immateriellem) Zeitwohlstand hervorhob.[3] Scherhorn schlug zudem vor, den materiellen Wohlstand, den Zeitwohlstand und den Raumwohlstand als gleichberechtigte Ziele zu betrachten.[4]

Zeitnot, als Gegenbegriff zu Zeitwohlstand, bezeichnet insbesondere das Fehlen von verfügbarer Zeit.

Robert E. Goodin, Autor von Discretionary Time, setzt neben das materielle Existenzminimum (quantifiziert durch den Warenkorb) ein zeitliches Existenzminimum (notwendige Zeit). Als „notwendige Zeit“ bezeichnet er die Summe der Zeit, die für eine das Überschreiten der Armutsschwelle erforderliche Erwerbsarbeit und für die Haus- und Familienarbeit einschließlich der persönlichen Pflege erforderlich ist; als Gegenstück steht hierzu die übrige Zeit als eine zur freien Verfügung stehende Zeit (discretionary time), welche er als Wohlstandsindikator auffasst.[5][6]

Anwendung

Politik und Politikwissenschaft

In der modernen Familienpolitik wird „Zeitwohlstand für Familien“ häufig als eines der angestrebten Werte genannt. Mit dem Begriff sind insbesondere Aspekte wie Zeitsouveränität, genügend Freizeit und gemeinsame Familienzeit (auch: quality time) sowie ggf. eine Vereinbarkeit von Familie und Beruf in einen positiv konnotierten Begriff zusammengefasst. Entsprechend wird der Begriff oft auch als Schlagwort für eine auf die Bedürfnisse von Familien ausgerichtete Politik verwendet.

Im Sinne einer ökologisch nachhaltigen Politik wird die Betrachtung des Zeitwohlstands als eine Form von (immateriellem) Wohlstand hervorgehoben, die mit vergleichsweise geringem Verbrauch an natürlichen Ressourcen einhergehe.

Ökonomie

In der Ökonomie spielen, vor allem auf die Erwerbsarbeit bezogen, Tauschgeschäfte als Tausch von Zeitwohlstand gegen materiellen Wohlstand und umgekehrt eine wesentlich Rolle.[7]

Im Sinne eines erweiterten Wohlstandsmodells ist der Zeitwohlstand als eigenes Ziel neben dem materiellen Wohlstand zu betrachten, das – wie auch die Ziele von Gesundheit, sauberer Umwelt, persönliche Sicherheit und bekömmlicher Lebens-Raum – eine Rolle spielt, sobald primäre materielle Bedürfnisse gedeckt sind.[8]

Der britische Ökonom Richard Layard stellte fest, dass Personen tendenziell weniger Neid auf Zeitwohlstand (im Sinne eines längeren Urlaubs) zeigten als auf Güterwohlstand (siehe hierzu: Ökonomische Glücksforschung).

Personalwesen

Das Konzept wird auch innerhalb der Erwerbstätigkeit angewendet. In diesem Rahmen wird retrospektiv auch die Diskussion der 1970er Jahre um die Humanisierung der Arbeitswelt gefasst.[9] Ebenso zählt dazu der Ansatz einer lebensphasenorientierten Arbeitszeit.

Siehe auch

Literatur

Verwendete Literatur (Auswahl)
  • Rinderspacher, Jürgen P. (1985): Gesellschaft ohne Zeit. Individuelle Zeitverwendung und soziale Organisation der Arbeit. Frankfurt a. M., New York: Campus
  • Held, M. (2001): Nachhaltiges Naturkapital: Ökonomik und zukunftsfähige Entwicklung. Campus Verlag. ISBN 978-3-593-36746-0.
  • Rinderspacher, J.P (Hrsg.)(2002): Zeitwohlstand. Ein Konzept für einen anderen Wohlstand der Nation. Berlin: edition Sigma
  • Rinderspacher, J. P. (2000). Zeitwohlstand in der Moderne (No. P00-502). Veröffentlichungsreihe der Querschnittsgruppe Arbeit & Ökologie beim Präsidenten des Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. EconStor
Weiterführende Literatur
  • Rinderspacher, Jürgen P. (2012): Zeitwohlstand - Kriterien für einen anderen Maßstab von Lebensqualität. IN: WISO Nr. 1/2012, S. 11-26
  • Rosa, H., Paech, N., Habermann, F., Haug, F., Wittmann, F., Kirschenmann, L. (2014). Zeitwohlstand. Wie wir anders arbeiten, nachhaltig wirtschaften und besser leben. Konzeptwerk Neue Ökonomie (Hrsg.). oekom. ISBN 978-3-86581-476-0 (www.zeitwohlstand.info: PDF; 1,3 MB).
  • Mückenberger, U. (2002). Zeitwohlstand und Zeitpolitik. Überlegungen zur Zeitabstraktion. Zeitwohlstand: Eine Konzept für einen anderen Wohlstand der Nation. Berlin: sigma edition, 117-141.
  • Wotschack, P. (2002). Zeitwohlstand als Problem sozialer Ungleichheit. Rinderspacher, J. P. (Hg.): Zeitwohlstand. Ein Konzept für einen anderen Wohlstand der Nation. Berlin: edition sigma, 143-163. ISBN 978-3-89404-899-0.
  • Garhammer, M. (2001). Arbeitszeit und Zeitwohlstand im internationalen Vergleich – eine Schlüsselfrage für die Lebensqualität in Europa. WSI-Mitteilungen, 4(2001), 231-241.
  • Schlote, A. (2000). Zeit genug! Wege zum persönlichen Zeitwohlstand. Beltz. ISBN 978-3-40736-365-7.
  • Reisch, L. A. (1999). Güterwohlstand und Zeitwohlstand – Zur Ökonomie und Ökologie der Zeit. Hofmeister, Sabine/Spitzner, Meike (Hg.): Zeitlandschaften. Perspektiven Öko-sozialer Zeitpolitik. Stuttgart, Leipzig, 131-157.
  • Rinderspacher, Jürgen P. (2009): Zeitwohlstand und Zeitsouveränität - gegensätzliche Konzepte oder zwei Seiten der gleichen Medaille? In: Heitkötter, M. Jurczyk, K., Lange, A., Meier-Gräwe, U. (Hrsg.), Zeit für Beziehungen? Zeit und Zeitpolitik für Familien. Opladen: Budrich, S. 373-400
  • Scherhorn, G. (1995). Güterwohlstand versus Zeitwohlstand – Über die Unvereinbarkeit des materiellen und des immateriellen Produktivitätsbegriffs. Biervert, Held, 147-168.

Einzelnachweise

  1. Jürgen P. Rinderspacher: Zeitwohlstand in der Moderne, Veröffentlichungsreihe der Querschnittsgruppe Arbeit & Ökologie beim Präsidenten des Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (No. P00-502). EconStor, 2000, Zusammenfassung
  2. Jürgen P. Rinderspacher: Zeitwohlstand – Kriterien für einen anderen Maßstab von Lebensqualität, S. 7
  3. Martin Held: Nachhaltiges Naturkapital: Ökonomik und zukunftsfähige Entwicklung, Campus Verlag, 2001, ISBN 978-3-593-36746-0, S. 207 ff.
  4. Martin Held: Nachhaltiges Naturkapital: Ökonomik und zukunftsfähige Entwicklung, Campus Verlag, 2001, ISBN 978-3-593-36746-0, S. 222
  5. Ajit Zacharias: The measurement of time and income poverty, EconStor, 2011, S. 6 ff.
  6. Ulrich Mückenberger, Katja Marjanen: Lebensqualität durch Zeitpolitik: wie Zeitkonflikte gelöst werden können, 2012, edition sigma. ISBN 978-3-8360-8742-1, S. 99–100.
  7. Zeitglossar, Stichwort „Zeitwohlstand“, S. 27 (PDF-Datei; 418 kB)
  8. Enzensberger, 1996. Zitiert nach: Martin Held: Nachhaltiges Naturkapital: Ökonomik und zukunftsfähige Entwicklung, Campus Verlag, 2001, ISBN 978-3-593-36746-0, S. 222
  9. Martin Held: Nachhaltiges Naturkapital: Ökonomik und zukunftsfähige Entwicklung, Campus Verlag, 2001, ISBN 978-3-593-36746-0, S. 212 ff.

Weblinks

  • Zeitglossar, Stichworte „Flexibilisierung“, „Recht auf eigene Zeit“, „Zeitinstitutionen“, „Zeitkonflikte“, „Zeitwohlstand“ (PDF-Datei; 418 kB)