„Roger befreit Angelika“ – Versionsunterschied

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'''Roger befreit Angelika''' (Original: ''Roger délivrant Angélique'') ist ein Ölgemälde des französischen Malers [[Jean-Auguste-Dominique Ingres]] von 1819. Das Bild illustriert eine Szene aus dem Versepos [[Der rasende Roland]] von [[Ariosto]], in dem der muslimische Ritter Roger (italienisch: ''Ruggiero''), auf einem [[Hippogreif]] reitend, die Prinzessin Angelika vor einem Seeungeheuer rettet.
'''Roger befreit Angelika''' (Original: ''Roger délivrant Angélique'') ist ein Ölgemälde des französischen Malers [[Jean-Auguste-Dominique Ingres]] von 1819. Das Bild illustriert eine Szene aus dem Versepos ''[[Der rasende Roland]]'' von [[Ariosto]], in dem der muslimische Ritter Roger (italienisch: ''Ruggiero''), auf einem [[Hippogreif]] reitend, die Prinzessin Angelika vor einem Seeungeheuer rettet.


Das querformatige Gemälde hat die Maße 190 x 147 cm<ref>Xavier Dectot, Vincent Pomarede, Jean-Luc Martinez: ''Louvre Lens: The Guide 2015,'' Nr. 212 (englisch), ISBN 978-2757208960</ref>, nach früheren Angaben des Louvre 187 x 146 cm<ref>[http://www.louvre.fr/sites/default/files/medias/medias_fichiers/fichiers/pdf/louvre-communique-presse-ingres.pdf Pressemitteilung des Louvre zur Ingres-Ausstellung vom 24. Februar bis 15. Mai 2006 (Französisch)]]</ref> und wird unter der Inventarnummer INV 5419 des Louvre geführt.
Das querformatige Gemälde hat die Maße 190 x 147 cm<ref>Xavier Dectot, Vincent Pomarede, Jean-Luc Martinez: ''Louvre Lens: The Guide 2015,'' Nr. 212 (englisch), ISBN 978-2757208960</ref>, nach früheren Angaben des Louvre 187 x 146 cm<ref>[http://www.louvre.fr/sites/default/files/medias/medias_fichiers/fichiers/pdf/louvre-communique-presse-ingres.pdf Pressemitteilung des Louvre zur Ingres-Ausstellung vom 24. Februar bis 15. Mai 2006 (Französisch)]]</ref> und wird unter der Inventarnummer INV 5419 des Louvre geführt.


== Die Episode bei Ariosto ==
== Die Episode bei Ariosto ==
''Roger'' (Ruggiero) ist eine der Hauptfiguren in Ariostos Versepos ''Der rasende Roland'' aus dem ersten Drittel des 16. Jahrhunderts. Neben ''Roland'' (Orlando) und ''Rinaldo,'' die beide unsterblich in die chinesische Prinzessin ''Angelika'' verliebt sind, ist Roger ein muslimischer Ritter, der ursprünglich gegen die Franken gekämpft hat, nun jedoch in die christliche Ritterin ''Bradamante'' verliebt ist und sich nach zahlreichen Abenteuern schließlich taufen lässt, um sie ehelichen zu können.
''Roger'' (Ruggiero) ist eine der Hauptfiguren in Ariostos Versepos ''Der rasende Roland'' aus dem 16. Jahrhundert. Neben ''Roland'' (Orlando) und ''Rinaldo,'' die beide unsterblich in die chinesische Prinzessin ''Angelika'' verliebt sind, ist Roger ein muslimischer Ritter, der ursprünglich gegen die Franken gekämpft hat, nun jedoch in die christliche Ritterin ''Bradamante'' verliebt ist und sich nach zahlreichen Abenteuern schließlich taufen lässt, um sie ehelichen zu können.


Im 10. Gesang des ''Rasenden Rolands'' findet sich Roger ab Strophe 92 auf einem [[Hippogreif]] – einem Fabelwesen halb Pferd, halb Adler – durch die Luft reitend in der [[Bretagne]] wieder, wo er überraschenderweise Angelika entdeckt, die nackt an einen Felsen gekettet wurde. Eine „rohe Völkerschaft“ hatte sich ihrer bemächtigt,
Im 10. Gesang des ''Rasenden Rolands'' findet sich Roger ab Strophe 92 auf einem [[Hippogreif]] – einem Fabelwesen halb Pferd, halb Adler – durch die Luft reitend in der [[Bretagne]] wieder, wo er Angelika entdeckt, die nackt an einen Felsen gekettet wurde. Eine „rohe Völkerschaft“ hatte sich ihrer bemächtigt,


:''„Die – ihr entsinnt Euch deren, wie ich meine –''
:''„Die – ihr entsinnt Euch deren, wie ich meine –''
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:''Dem Untier dort zur greuelvollen Speise.“''<ref>[http://www.zeno.org/Literatur/M/Ariosto,+Ludovico/Epos/Der+rasende+Roland/Zehnter+Gesang Der rasende Roland, 10. Gesang, 93. Strophe]</ref>
:''Dem Untier dort zur greuelvollen Speise.“''<ref>[http://www.zeno.org/Literatur/M/Ariosto,+Ludovico/Epos/Der+rasende+Roland/Zehnter+Gesang Der rasende Roland, 10. Gesang, 93. Strophe]</ref>


Ein Seeungeheuer erschien täglich an der Küste, um ein Opfer zu finden. Da sie verzaubert am Strand schlief, wurde Angelika leichte Beute für die „unbarmherzig roh' und wilde Bande“.
Ein Seeungeheuer erscheint täglich an der Küste, um ein Opfer zu finden. Da sie verzaubert am Strand geschlafen hatte, war Angelika leichte Beute für die „unbarmherzig roh' und wilde Bande“ geworden.


Kaum dass sie Roger bemerkt hat und in Tränen aufgelöst das Wort an ihn richten will, steigt das Ungeheuer aus den Meerestiefen hervor. Roger greift sofort mit seiner Lanze an und liefert sich einen harten Zweikampf mit dem Tier. Er kann die Schuppen des Tieres mit seinen Waffen nicht durchdringen; erst durch Zauberkraft (ein Ring und ein Schild in seinem Besitz) zwingt er es nieder, so dass er Angelika befreien kann.
Kaum dass sie Roger bemerkt hat und in Tränen aufgelöst das Wort an ihn richten will, steigt das Ungeheuer aus den Meerestiefen hervor. Roger greift sofort mit seiner Lanze an und liefert sich einen harten Kampf mit dem Tier. Er kann die Schuppen des Tieres mit seinen Waffen nicht durchdringen; erst durch Zauberkraft (ein Ring und ein Schild in seinem Besitz) zwingt er es nieder, so dass er Angelika befreien kann.


:''„Den Reiter auf dem Rücken mit der Süßen,''
:''„Den Reiter auf dem Rücken mit der Süßen,''
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:''Für den ja viel zu fein und wonniglich.“''<ref>[http://www.zeno.org/Literatur/M/Ariosto,+Ludovico/Epos/Der+rasende+Roland/Zehnter+Gesang Der rasende Roland, 10. Gesang, 112. Strophe]</ref>
:''Für den ja viel zu fein und wonniglich.“''<ref>[http://www.zeno.org/Literatur/M/Ariosto,+Ludovico/Epos/Der+rasende+Roland/Zehnter+Gesang Der rasende Roland, 10. Gesang, 112. Strophe]</ref>


Roger bringt Angelika zum nächsten Ufer, wo er sie in einem schattigen Hain absetzt und von sexueller Lust erfasst wird – Ariosto beendet den 10. Gesang allerdings mit knappen Worten, bevor Roger sich seiner Rüstung entledigen kann, die vorerst weiteres verhindert.
Roger bringt Angelika zum nächsten Ufer, wo er sie absetzt und von sexueller Lust erfasst wird – Ariosto beendet den 10. Gesang allerdings mit knappen Worten, bevor Roger sich seiner Rüstung entledigen kann, die vorerst weiteres verhindert.


== Bildbeschreibung ==
== Bildbeschreibung ==
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Es ist Nacht. Der Felsen, seine obere Spitze vom Bildrand abgeschnitten, steht zentral im Bild, das Meer ist im unteren Bilddteil als schäumende Wellen ausgeführt, geht im Hintergrund jedoch in eine gleichmäßige Fläche über. Der Horizont liegt etwa bei einem Drittel der Höhe vom oberen Bildrand. Am rechten Bildrand ist felsige Küste angedeutet, am Bildrand in der oberen rechten Ecke wird das rote Feuer eines Leuchtturms sichtbar.
Es ist Nacht. Der Felsen, seine obere Spitze vom Bildrand abgeschnitten, steht zentral im Bild, das Meer ist im unteren Bilddteil als schäumende Wellen ausgeführt, geht im Hintergrund jedoch in eine gleichmäßige Fläche über. Der Horizont liegt etwa bei einem Drittel der Höhe vom oberen Bildrand. Am rechten Bildrand ist felsige Küste angedeutet, am Bildrand in der oberen rechten Ecke wird das rote Feuer eines Leuchtturms sichtbar.


Vor diesem Hintergrund bilden die beiden Hauptfiguren eine leicht versetzte V-Form zueinander: die nackte Angelika, leicht rechts von der Bildmitte stehend, bildet das hellste, fast leuchtende Zentrum des Gemäldes.
Vor diesem Hintergrund bilden die beiden Hauptfiguren eine leicht versetzte V-Form zueinander: die nackte Angelika, leicht rechts von der Bildmitte stehend, bildet den hellsten, fast leuchtenden Schwerpunkt des Gemäldes.


Bis auf ein [[Diadem]] aus weißen Perlen und roten Steinen im Haar ist sie völlig nackt. Sie steht aufrecht, ihr nackter Körper dem Betrachter zugewandt; ein Bein leicht vorangestellt, mit den Armen über dem Kopf an den Felsen gekettet. Ihr Kopf ist weit in den Nacken gelegt, so dass das lange blonde Haar hinter ihrem Rücken lose herunterhängt und Hals und Kehlkopf deutlich vorstehend sichtbar sind. Ihre Augen sind nach oben verdreht wie kurz vor einer Ohnmacht.
Bis auf ein [[Diadem]] aus weißen Perlen und roten Steinen im Haar ist sie völlig nackt. Sie steht aufrecht, ihre Vorderseite dem Betrachter zugewandt; ein Bein leicht vorangestellt, mit den Armen über dem Kopf an den Felsen gekettet. Ihr Kopf ist weit in den Nacken gelegt, so dass das lange blonde Haar hinter ihrem Rücken lose herunterhängt und Hals und Kehlkopf deutlich vorstehend sichtbar sind. Ihre Augen sind nach oben verdreht wie kurz vor einer Ohnmacht.


Zu ihren Füßen schlägt das aufgewühlte Meer gegen den Felsen, die Gischt steigt bis über ihren Schambereich auf.
Zu ihren Füßen schlägt das aufgewühlte Meer gegen den Felsen, die Gischt steigt bis über ihren Schambereich auf.


Rechts vom Betrachter taucht das Ungeheuer bedrohlich aus den Wellen auf, es ist nur zum Teil sichtbar und am unteren Bildrand abgeschnitten. Es ist schuppig-schwarz und hat weit aufgerissene, blutunterlaufene Augen und eine leuchtend-rote Zunge. Das Maul ist weit aufgerissen, es werden unregelmäßig lange, spitze Zähne sichtbar.
Rechts vom Betrachter taucht das Ungeheuer aus den Wellen auf, es ist nur zum Teil sichtbar und am unteren Bildrand abgeschnitten. Es ist schuppig-schwarz und hat weit aufgerissene, blutunterlaufene Augen und eine leuchtend-rote Zunge. Das Maul ist weit aufgerissen, es werden unregelmäßig lange, spitze Zähne sichtbar.


Diagonal von oben links stürzt Ritter Roger auf dem [[Hippogreif]] in die Szene. Der Hippogreif reißt seinen Adlerkopf und die Krallen zurück, als ob er zur Landung ansetzt, die Hufe sind ebenfalls noch in der Luft. Roger, auf ihm reitend, trägt eine goldene Rüstung, die seinen ganzen Körper bis auf das Gesicht bedeckt, und einen goldenen Helm. Sein Gesicht ist recht feminin, sein Ausdruck ruhig. An seinem Rücken sind ein wehendes weißes Cape (der zweithellste Teil des Bildes) und ein rötliches Schild sichtbar. Mit beiden Händen fasst der Ritter eine lange Lanze, die er dem Monster in die Fratze stößt.
Diagonal von oben links stürzt Ritter Roger auf dem [[Hippogreif]] in die Szene. Der Hippogreif reißt seinen Adlerkopf und die Krallen zurück, als ob er zur Landung ansetzt, die Hufe sind ebenfalls noch in der Luft. Roger, auf ihm reitend, trägt eine goldene Rüstung, die seinen ganzen Körper bis auf das Gesicht bedeckt, sowie einen goldenen Helm. Sein Gesicht ist recht [[androgyn]], sein Ausdruck ruhig. An seinem Rücken sind ein wehendes weißes Cape (der zweithellste Teil des Bildes) und ein rötliches Schild sichtbar. Mit beiden Händen fasst der Ritter eine lange Lanze, die er dem Monster in die Fratze stößt.


Das Bild ist insgesamt in dunklen Braun-Grautönen gehalten, Ausnahmen sind weiße Gischt, der helle Körper Angelikas und das Cape. Rote Akzente werden durch die Zunge des Ungeheuers, die Steine im Diadem Angelikas, das rote Schild Rogers und das Leuchtfeuer gesetzt. Reflexe des von oben links kommenden Lichts sind auf der glänzenden goldenen Ritterrüstung zu sehen.
Das Bild ist insgesamt in dunklen Braun-Grautönen gehalten, Ausnahmen sind weiße Gischt, der helle Körper Angelikas und das Cape. Rote Akzente werden durch die Zunge des Ungeheuers, die Steine im Diadem Angelikas, das rote Schild Rogers und das Leuchtfeuer gesetzt. Reflexe des von oben links kommenden Lichts sind auf der glänzenden goldenen Ritterrüstung zu sehen.


== Entstehung, zeitgenössische Kritik und Einordnung ==
== Entstehung, zeitgenössische Kritik und Einordnung ==
Das Gemälde entstand im Auftrag König Ludwigs XVIII., der sich für den lange vernachlässigten Salon d'Apollon (auch: Thronsaal) im [[Schloss Versailles|Schloss von Versailles]] ein Motiv, „das Erotik und Phantasie verbindet“ wünschte.<ref name=guegan7273 /> Es sollte ein Gegenstück zu ''Renaud et Armide servis par une nymphe'' von [[Pierre Nolasque Bergeret]] sein, das eine Szene aus dem Epos ''[[Das befreite Jerusalem (Epos)|Das befreite Jerusalem]]'' von [[Torquato Tasso]] illustriert.<ref name="shelton74">Andrew Carrington Shelton: ''Ingres'', S. 74</ref> Ingres fand sein „extremes“ Thema mit der Episode aus dem Rasenden Roland des italienischen Dichters Ariost aus dem 16. Jahrhundert.
Das Gemälde entstand im Auftrag König Ludwigs XVIII., der sich für den lange vernachlässigten Salon d'Apollon (auch: Thronsaal) im [[Schloss Versailles|Schloss von Versailles]] ein Motiv, „das Erotik und Phantasie verbindet“ wünschte.<ref name=guegan7273 /> Es sollte ein Gegenstück zu ''Renaud et Armide servis par une nymphe'' von [[Pierre Nolasque Bergeret]] sein, das eine Szene aus dem Epos ''[[Das befreite Jerusalem (Epos)|Das befreite Jerusalem]]'' von [[Torquato Tasso]] illustriert.<ref name="shelton74">Andrew Carrington Shelton: ''Ingres'', S. 74</ref> Ingres fand sein „extremes“ Thema mit der Episode aus dem ''Rasenden Roland'' des italienischen Dichters Ariost aus dem 16. Jahrhundert.


Ingres stellte das Gemälde rechtzeitig zum Pariser Salon 1819 fertig, wo es ausgestellt wurde. Die zeitgenössische Kritik spöttelte über die Anatomie der Angelique, so etwa [[Theophile Silvestre]] über „Angelika mit dem Kropf“<ref>Dossier de l'art n° 127: ''Exposition Ingres au Louvre.'', S. 28</ref> oder [[Henry de Waroquier]] über „Angelika mit den drei Brüsten“.<ref>Jean-Pierre Mourey: ''Philosophies et pratiques du détail: Hegel, Ingres, Sade et quelques autres.'' Editions Champ Vallon, 1996. ISBN 9782876732223, S. 60, Fußnote 2, zitiert nach Daniel Ternois in ''Ingres'', éd. Nathan, 1980, S. 59 ([https://books.google.de/books?id=4ftwHJ02sLEC Google Books])</ref> Der Kunsthistoriker Andrew Carrington Shelton schreibt darüber hinaus, das Gemälde habe den „Zorn der Kritiker“ u.a. wegen eines angenommenen Primitivismus und Archaismus auf sich gezogen.
Ingres stellte das Gemälde zum Pariser Salon 1819 fertig, wo es ausgestellt wurde. Die zeitgenössische Kritik spöttelte über die Anatomie der Angelique, so etwa [[Theophile Silvestre]] über „Angelika mit dem Kropf“<ref>Dossier de l'art n° 127: ''Exposition Ingres au Louvre.'', S. 28</ref> oder [[Henry de Waroquier]] über „Angelika mit den drei Brüsten“.<ref>Jean-Pierre Mourey: ''Philosophies et pratiques du détail: Hegel, Ingres, Sade et quelques autres.'' Editions Champ Vallon, 1996. ISBN 9782876732223, S. 60, Fußnote 2, zitiert nach Daniel Ternois in ''Ingres'', éd. Nathan, 1980, S. 59 ([https://books.google.de/books?id=4ftwHJ02sLEC Google Books])</ref> Der Kunsthistoriker [[Andrew Carrington Shelton]] schreibt darüber hinaus, das Gemälde habe den „Zorn der Kritiker“ u.a. wegen eines angenommenen Primitivismus und Archaismus auf sich gezogen. Seine Kollegin [[Karin H. Grimme]] weist außerdem darauf hin, das zeitgenössische Publikum habe vor allem Probleme mit der fehlenden Handlungseinheit, der „Isolation der Figuren“ gehabt.<ref name="grimme27"> Karin H. Grimme: ''Jean-Auguste-Dominique Ingres,'' S. 27</ref>


Ingres lebte zur Entstehungszeit von ''Roger befreit Angelika'' noch in Rom, wo er nach einem Stipendium 1806 geblieben war. Auch mit diesem Werk war es ihm nicht gelungen, an den früheren Erfolg vor seiner Zeit in Rom anzuknüpfen; bei Kritikern und Pariser Öffentlichkeit fiel er weiterhin durch. Eines der wenigen Erfolgserlebnisse dieser Zeit war das Historiengemälde ''[[Christus übergibt Petrus die Schlüssel des Paradieses]],'' das jedoch als Teil einer Kirchenausstattung in Rom nicht die große Öffentlichkeit fand, die Ingres für den Erfolg benötigte. Eine Rückkehr nach Paris schien ihm in dieser Situation nicht möglich, und er zog 1820 mit seiner Ehefrau nach Florenz. Shelton weist darauf hin, dass Ingres immerhin knapp 40 Jahre alt war und bereits 20 Jahre als Maler arbeitete, so das sich, wenn schon keine Midlife-Crisis, so doch Versagensängste einstellten, die ihn zu diesem „radikalen“ Schritt motivierten. <ref>Andrew Carrington Shelton: ''Ingres'', S. 103 (?)</ref> Erst 1824 kehrte er nach dem Salon-Erfolg mit ''Das Gelübde Ludwigs XIII.'' nach Paris zurück.
Ingres lebte zur Entstehungszeit von ''Roger befreit Angelika'' noch in Rom, wo er nach einem Stipendium 1806 geblieben war. Auch mit diesem Werk war es ihm nicht gelungen, an den früheren Erfolg in Paris anzuknüpfen; bei Kritikern und Pariser Öffentlichkeit fiel er weiterhin durch. Einer der wenigen Ausnahmen dieser Zeit war das Historiengemälde ''[[Christus übergibt Petrus die Schlüssel des Paradieses]],'' das jedoch als Teil einer Kirchenausstattung in Rom nicht die große Öffentlichkeit fand, die Ingres für den Erfolg benötigte. Eine Rückkehr nach Paris schien ihm in dieser Situation nicht möglich, und er zog 1820 mit seiner Ehefrau nach Florenz. Shelton weist darauf hin, dass Ingres immerhin knapp 40 Jahre alt war und bereits 20 Jahre als Maler arbeitete, so das sich, wenn schon keine Midlife-Crisis, so doch Versagensängste einstellten, die ihn zu diesem „radikalen“ Schritt motivierten. <ref>Andrew Carrington Shelton: ''Ingres'', S. 103 (?)</ref> Erst 1824 kehrte er nach dem Salon-Erfolg mit ''Das Gelübde Ludwigs XIII.'' nach Paris zurück.


== Symbolik und Interpretation ==
== Symbolik und Interpretation ==
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Shelton geht darüber hinaus auf den Gegensatz zwischen der Nacktheit Angelikas und der beinahe ins Absurde übertrieben ausgeführten Rüstung des Roger ein; sie erinnere eher an „Weihnachtsbaumschmuck“ denn an die Rüstung eines tapferen Kriegers. Als sei dem Künstler diese Schwäche seines Helden bewusst gewesen, versuche er ihm durch eine besonders lange Lanze Männlichkeit „zurückzugeben“. Es seien jedoch gerade diese unerwarteten Gegenüberstellungen, die das Bild „emotional aufladen bis ins Quasi-Surreale hinein“. Er weist außerdem auf die [[Phallus|phallische]] Symbolik des Felsens hin, dessen Proportionen in einer der späteren Versionen des Bildes bis ins „Unverschämte“ (französisch: ''outrageuse'') betont seien.<ref name="shelton74" />
Shelton geht darüber hinaus auf den Gegensatz zwischen der Nacktheit Angelikas und der beinahe ins Absurde übertrieben ausgeführten Rüstung des Roger ein; sie erinnere eher an „Weihnachtsbaumschmuck“ denn an die Rüstung eines tapferen Kriegers. Als sei dem Künstler diese Schwäche seines Helden bewusst gewesen, versuche er ihm durch eine besonders lange Lanze Männlichkeit „zurückzugeben“. Es seien jedoch gerade diese unerwarteten Gegenüberstellungen, die das Bild „emotional aufladen bis ins Quasi-Surreale hinein“. Er weist außerdem auf die [[Phallus|phallische]] Symbolik des Felsens hin, dessen Proportionen in einer der späteren Versionen des Bildes bis ins „Unverschämte“ (französisch: ''outrageuse'') betont seien.<ref name="shelton74" />

Für Karin H. Grimme deutet sich in der Aggression des Ritters mit der Lanze und der gegen sie gerichteten Adlerkrallen die doppelte Bedrohungssituation für Angelika an, bedenkt man die spätere Vergewaltigungsabsicht Rogers. Das Lächerliche der Situation sieht sie allerdings ebenso wie Shelton, vor allem in der als phallisches Symbol verstandenen übertrieben langen Lanze des Ritters. Ingres habe parodistische Elemente aus Ariostos Text aufgegriffen.<ref name="grimme27" />

== Provenienz ==
== Provenienz ==
Als Auftragsarbeit für das Schloss von Versailles wurde ''Roger befreit Angelika'' beim [[Salon de Paris|Pariser Salon]] von 1819 ausgestellt und dann in die Sammlung in [[Schloss Versailles|Versailles]] übernommen. Ob es wie geplant im Apollon-Saal des Schlosses angebracht wurde, ist unklar. Sicher ist jedoch, dass es ab 1824 im [[Palais du Luxembourg]] öffentlich ausgestellt wurde,<ref name="shelton74" /> bevor es 1874 in den Besitz des Louvre überging. Es war damit eines der wenigen Werke Ingres', das öffentlich zugänglich war und beispielsweise von anderen Künstlern kopiert werden konnte.<ref>Jean-Pierre Cuzin, Dimitri Salmon: ''Ingres: Regards croisés'', S. 126</ref>
Als Auftragsarbeit für das Schloss von Versailles wurde ''Roger befreit Angelika'' beim [[Salon de Paris|Pariser Salon]] von 1819 ausgestellt und dann in die Sammlung in [[Schloss Versailles|Versailles]] übernommen. Ob es wie geplant im Apollon-Saal des Schlosses angebracht wurde, ist unklar. Sicher ist jedoch, dass es ab 1824 im [[Palais du Luxembourg]] öffentlich ausgestellt wurde,<ref name="shelton74" /> bevor es 1874 in den Besitz des Louvre überging. Es war damit eines der wenigen Werke Ingres', das öffentlich zugänglich war und beispielsweise von anderen Künstlern kopiert werden konnte.<ref>Jean-Pierre Cuzin, Dimitri Salmon: ''Ingres: Regards croisés'', S. 126</ref>
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Im Rahmen des regelmäßigen Austauschs von Kunstwerken ist es seit 5. Dezember 2014 in der „Galerie der Zeit“ des Louvre Lens als letztes Objekt der „Zeitleiste“ ausgestellt.<ref>[http://www.lavoixdunord.fr/region/louvre-lens-la-galerie-du-temps-restera-gratuite-ia35b54051n2465036 Louvre-Lens: la Galerie du temps restera gratuite jusqu’en décembre 2015. ''La Voix du Nord (lavoixdunord.fr),'' 30. Oktober 2014, abgerufen am 28. Dezember 2014.]</ref>
Im Rahmen des regelmäßigen Austauschs von Kunstwerken ist es seit 5. Dezember 2014 in der „Galerie der Zeit“ des Louvre Lens als letztes Objekt der „Zeitleiste“ ausgestellt.<ref>[http://www.lavoixdunord.fr/region/louvre-lens-la-galerie-du-temps-restera-gratuite-ia35b54051n2465036 Louvre-Lens: la Galerie du temps restera gratuite jusqu’en décembre 2015. ''La Voix du Nord (lavoixdunord.fr),'' 30. Oktober 2014, abgerufen am 28. Dezember 2014.]</ref>


Das Motiv wurde von Ingres mehrfach in ähnlicher Form verarbeitet; eine hochformatige Version des Gemäldes aus den 1830ern in den Maßen 39,4 x 47,6 cm befindet sich in der [[National Gallery (London)|National Gallery]] in London,<ref>[http://www.nationalgallery.org.uk/paintings/jean-auguste-dominique-ingres-angelica-saved-by-ruggiero Angelica saved by Ruggiero. 1819-39, Jean-Auguste-Dominique Ingres]</ref> eine mit dem Londoner Bild übereinstimmende, aber größere und ovale Version (46 x 54 cm) von 1841 ist im Besitz des Musée Ingres in [[Montauban]]<ref>[http://www.montauban.com/connection_ingres/P-AUTEUR2/notice28.html Peintre INGRES, Jean-Auguste-Dominique 1841 Romea auf montauban.com]</ref> Darüber hinaus gibt es einige Vorstudien, in Öl oder gezeichnet.
Das Motiv wurde von Ingres mehrfach in ähnlicher Form verarbeitet; eine hochformatige Version des Gemäldes aus den 1830ern in den Maßen 39,4 x 47,6 cm befindet sich in der [[National Gallery (London)|National Gallery]] in London,<ref>[http://www.nationalgallery.org.uk/paintings/jean-auguste-dominique-ingres-angelica-saved-by-ruggiero Angelica saved by Ruggiero. 1819-39, Jean-Auguste-Dominique Ingres]</ref> eine mit dem Londoner Bild übereinstimmende, aber größere und ovale Version (46 x 54 cm) von 1841 ist im Besitz des Musée Ingres in [[Montauban]].<ref>[http://www.montauban.com/connection_ingres/P-AUTEUR2/notice28.html Peintre INGRES, Jean-Auguste-Dominique 1841 Romea auf montauban.com]</ref> Eine noch größere, ovale Version (97 x 75 cm) von 1859 ohne Roger und Hippogreif befindet sich im [[Museu de Arte de São Paulo]]<ref>[http://masp.art.br/masp2010/acervo_detalheobra.php?id=220 Katalogeintrag des Museu de Arte de São Paulo]</ref>. Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Vorstudien, in Öl oder gezeichnet.


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Datei:Louvre-peinture-francaise-p1020317.jpg|Vorstudie
Datei:Louvre-peinture-francaise-p1020317.jpg|Vorstudie
Datei:Ingres_Roger_delivrant_Angelique_National_Gallery.jpg |Hochformatige Version in der National Gallery, 1830er Jahre
Datei:Ingres_Roger_delivrant_Angelique_National_Gallery.jpg |Hochformatige Version in der National Gallery, 1830er Jahre
Datei:Ingres_-_angelica_tondo.jpg| Ovale Version im Musée Ingres, 1841
Datei:Ingres_-_angelica_tondo.jpg|Ovale Version im Musée Ingres, 1841
Datei:Jean-Auguste-Dominique Ingres – Angélica Acorrentada.jpg |Ovale Variante im Museu de Arte de São Paulo, 1859
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== Referenzen und Interpretationen anderer Künstler (Auswahl) ==
== Referenzen und Interpretationen anderer Künstler (Auswahl) ==
Das Motiv aus dem ''Rasenden Roland'' wurde später von anderen Künstlern mit eigenen Kompositionen aufgegriffen, zum Beispiel [[Eugène Delacroix]]' ''Roger befreit Angelika oder Heiliger Georg'' von 1856, [[Joseph Blanc]]s ''Roger et Angelique''<ref>[http://www.archive.org/stream/nospeintresetscu00mart#page/52/mode/2up Jules Martin: ''Nos peintres et sculpteurs, graveurs, dessinateurs. Portraits et biographies suivis d'une notice sur les Salons français depuis 1673, les Sociétés de Beaux-Arts, la Proriété aertistique, etc.'' Paris 1897]</ref> oder [[Arnold Böcklin]]s ''Ruggiero und Angelica'' von 1877.
Das Motiv aus dem ''Rasenden Roland'' wurde später von anderen Künstlern mit eigenen Kompositionen aufgegriffen, unter anderem [[Eugène Delacroix]], [[Joseph Blanc]],<ref>[http://www.archive.org/stream/nospeintresetscu00mart#page/52/mode/2up Jules Martin: ''Nos peintres et sculpteurs, graveurs, dessinateurs. Portraits et biographies suivis d'une notice sur les Salons français depuis 1673, les Sociétés de Beaux-Arts, la Proriété aertistique, etc.'' Paris 1897]</ref> [[Arnold Böcklin]] oder [[Odilon Redon]].


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Datei:Eugène Delacroix – Roger befreit Angelika oder Heiliger Georg.jpg | Eugène Delacroix: ''Roger befreit Angelika oder Heiliger Georg,'' 1856
Datei:Eugène Delacroix – Roger befreit Angelika oder Heiliger Georg.jpg |Eugène Delacroix: ''Roger befreit Angelika oder Heiliger Georg,'' 1856
Datei:1873 Boecklin Ruggiero und Angelica anagoria.JPG | Arnold Böcklin: ''Ruggiero und Angelika,'' 1877
Datei:Ruggiero and Angelica by Joseph Paul Blanc.JPG |Joseph Blanc: ''Roger et Angelique,'' 1876
Datei:Ruggiero and Angelica by Joseph Paul Blanc.JPG |Joseph Blanc: ''Roger et Angelique,'' 1876
Datei:Odilon Redon - Roger et Angelica - Google Art Project.jpg | [[Odilon Redon]]: ''Roger et Angelica,'' 1910
Datei:1873 Boecklin Ruggiero und Angelica anagoria.JPG |Arnold Böcklin: ''Ruggiero und Angelika,'' 1877
Datei:Odilon Redon - Roger et Angelica - Google Art Project.jpg |Odilon Redon: ''Roger et Angelica,'' 1910
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== Literatur ==
== Literatur ==
* [[Georges Wildenstein]]: ''Ingres.'' Phaidon 1954 (nicht eingesehen)
* [[Georges Wildenstein]]: ''Ingres.'' Phaidon 1954 (nicht eingesehen)
* Dossier de l'art n° 127: ''Exposition Ingres au Louvre.'' Édition Faton, Dijon 2006. ISSN 1161-3122
* Stéphane Guégan: ''Ingres: « Ce révolutionnaire-là »'' Découvertes Gallimard, 2006. ISBN 978-2070308705
* Stéphane Guégan: ''Ingres: « Ce révolutionnaire-là »'' Découvertes Gallimard, 2006. ISBN 978-2070308705
* Jean-Pierre Cuzin, Dimitri Salmon: ''Ingres: Regards croisés'' Editions Place des Victoires, Paris 2006. ISBN 978-2844591296
* Jean-Pierre Cuzin, Dimitri Salmon: ''Ingres: Regards croisés'' Editions Place des Victoires, Paris 2006. ISBN 978-2844591296
* Karin H. Grimme: ''Jean-Auguste-Dominique Ingres.'' Taschen, Köln 2007, ISBN 978-3-8228-2709-3.
* Andrew Carrington Shelton: ''Ingres'' [[Phaidon Press|Phaidon]] 2008, ISBN 978-0-7148-4868-6
* Andrew Carrington Shelton: ''Ingres'' [[Phaidon Press|Phaidon]] 2008, ISBN 978-0-7148-4868-6
* Dossier de l'art n° 127: ''Exposition Ingres au Louvre.'' Édition Faton, Dijon 2006. ISSN 1161-3122


== Weblinks ==
== Weblinks ==

Version vom 3. Januar 2015, 18:58 Uhr

Roger befreit Angelika (Jean-Auguste-Dominique Ingres)
Roger befreit Angelika
Jean-Auguste-Dominique Ingres, 1819
Öl auf Leinwand
190 × 147 cm
Louvre (2015: Louvre Lens)
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Roger befreit Angelika (Original: Roger délivrant Angélique) ist ein Ölgemälde des französischen Malers Jean-Auguste-Dominique Ingres von 1819. Das Bild illustriert eine Szene aus dem Versepos Der rasende Roland von Ariosto, in dem der muslimische Ritter Roger (italienisch: Ruggiero), auf einem Hippogreif reitend, die Prinzessin Angelika vor einem Seeungeheuer rettet.

Das querformatige Gemälde hat die Maße 190 x 147 cm[1], nach früheren Angaben des Louvre 187 x 146 cm[2] und wird unter der Inventarnummer INV 5419 des Louvre geführt.

Die Episode bei Ariosto

Roger (Ruggiero) ist eine der Hauptfiguren in Ariostos Versepos Der rasende Roland aus dem 16. Jahrhundert. Neben Roland (Orlando) und Rinaldo, die beide unsterblich in die chinesische Prinzessin Angelika verliebt sind, ist Roger ein muslimischer Ritter, der ursprünglich gegen die Franken gekämpft hat, nun jedoch in die christliche Ritterin Bradamante verliebt ist und sich nach zahlreichen Abenteuern schließlich taufen lässt, um sie ehelichen zu können.

Im 10. Gesang des Rasenden Rolands findet sich Roger ab Strophe 92 auf einem Hippogreif – einem Fabelwesen halb Pferd, halb Adler – durch die Luft reitend in der Bretagne wieder, wo er Angelika entdeckt, die nackt an einen Felsen gekettet wurde. Eine „rohe Völkerschaft“ hatte sich ihrer bemächtigt,

„Die – ihr entsinnt Euch deren, wie ich meine –
Bewaffnet zog umher von Strand zu Strand,
Zu fangen schöne Fraun auf jede Weise,
Dem Untier dort zur greuelvollen Speise.“[3]

Ein Seeungeheuer erscheint täglich an der Küste, um ein Opfer zu finden. Da sie verzaubert am Strand geschlafen hatte, war Angelika leichte Beute für die „unbarmherzig roh' und wilde Bande“ geworden.

Kaum dass sie Roger bemerkt hat und in Tränen aufgelöst das Wort an ihn richten will, steigt das Ungeheuer aus den Meerestiefen hervor. Roger greift sofort mit seiner Lanze an und liefert sich einen harten Kampf mit dem Tier. Er kann die Schuppen des Tieres mit seinen Waffen nicht durchdringen; erst durch Zauberkraft (ein Ring und ein Schild in seinem Besitz) zwingt er es nieder, so dass er Angelika befreien kann.

„Den Reiter auf dem Rücken mit der Süßen,
Der Roger gab ein Plätzchen hinter sich.
Er zwang den Fisch, die Mahlzeit einzubüßen,
Für den ja viel zu fein und wonniglich.“[4]

Roger bringt Angelika zum nächsten Ufer, wo er sie absetzt und von sexueller Lust erfasst wird – Ariosto beendet den 10. Gesang allerdings mit knappen Worten, bevor Roger sich seiner Rüstung entledigen kann, die vorerst weiteres verhindert.

Bildbeschreibung

Das Gemälde zeigt den Moment, als Roger auf dem Hippogreif mit seiner Lanze das Ungeheuer angreift, als es aus dem Meer aufsteigt. Die Szene ist quasi „auf dem Höhepunkt eingefroren.“[5].

Es ist Nacht. Der Felsen, seine obere Spitze vom Bildrand abgeschnitten, steht zentral im Bild, das Meer ist im unteren Bilddteil als schäumende Wellen ausgeführt, geht im Hintergrund jedoch in eine gleichmäßige Fläche über. Der Horizont liegt etwa bei einem Drittel der Höhe vom oberen Bildrand. Am rechten Bildrand ist felsige Küste angedeutet, am Bildrand in der oberen rechten Ecke wird das rote Feuer eines Leuchtturms sichtbar.

Vor diesem Hintergrund bilden die beiden Hauptfiguren eine leicht versetzte V-Form zueinander: die nackte Angelika, leicht rechts von der Bildmitte stehend, bildet den hellsten, fast leuchtenden Schwerpunkt des Gemäldes.

Bis auf ein Diadem aus weißen Perlen und roten Steinen im Haar ist sie völlig nackt. Sie steht aufrecht, ihre Vorderseite dem Betrachter zugewandt; ein Bein leicht vorangestellt, mit den Armen über dem Kopf an den Felsen gekettet. Ihr Kopf ist weit in den Nacken gelegt, so dass das lange blonde Haar hinter ihrem Rücken lose herunterhängt und Hals und Kehlkopf deutlich vorstehend sichtbar sind. Ihre Augen sind nach oben verdreht wie kurz vor einer Ohnmacht.

Zu ihren Füßen schlägt das aufgewühlte Meer gegen den Felsen, die Gischt steigt bis über ihren Schambereich auf.

Rechts vom Betrachter taucht das Ungeheuer aus den Wellen auf, es ist nur zum Teil sichtbar und am unteren Bildrand abgeschnitten. Es ist schuppig-schwarz und hat weit aufgerissene, blutunterlaufene Augen und eine leuchtend-rote Zunge. Das Maul ist weit aufgerissen, es werden unregelmäßig lange, spitze Zähne sichtbar.

Diagonal von oben links stürzt Ritter Roger auf dem Hippogreif in die Szene. Der Hippogreif reißt seinen Adlerkopf und die Krallen zurück, als ob er zur Landung ansetzt, die Hufe sind ebenfalls noch in der Luft. Roger, auf ihm reitend, trägt eine goldene Rüstung, die seinen ganzen Körper bis auf das Gesicht bedeckt, sowie einen goldenen Helm. Sein Gesicht ist recht androgyn, sein Ausdruck ruhig. An seinem Rücken sind ein wehendes weißes Cape (der zweithellste Teil des Bildes) und ein rötliches Schild sichtbar. Mit beiden Händen fasst der Ritter eine lange Lanze, die er dem Monster in die Fratze stößt.

Das Bild ist insgesamt in dunklen Braun-Grautönen gehalten, Ausnahmen sind weiße Gischt, der helle Körper Angelikas und das Cape. Rote Akzente werden durch die Zunge des Ungeheuers, die Steine im Diadem Angelikas, das rote Schild Rogers und das Leuchtfeuer gesetzt. Reflexe des von oben links kommenden Lichts sind auf der glänzenden goldenen Ritterrüstung zu sehen.

Entstehung, zeitgenössische Kritik und Einordnung

Das Gemälde entstand im Auftrag König Ludwigs XVIII., der sich für den lange vernachlässigten Salon d'Apollon (auch: Thronsaal) im Schloss von Versailles ein Motiv, „das Erotik und Phantasie verbindet“ wünschte.[5] Es sollte ein Gegenstück zu Renaud et Armide servis par une nymphe von Pierre Nolasque Bergeret sein, das eine Szene aus dem Epos Das befreite Jerusalem von Torquato Tasso illustriert.[6] Ingres fand sein „extremes“ Thema mit der Episode aus dem Rasenden Roland des italienischen Dichters Ariost aus dem 16. Jahrhundert.

Ingres stellte das Gemälde zum Pariser Salon 1819 fertig, wo es ausgestellt wurde. Die zeitgenössische Kritik spöttelte über die Anatomie der Angelique, so etwa Theophile Silvestre über „Angelika mit dem Kropf“[7] oder Henry de Waroquier über „Angelika mit den drei Brüsten“.[8] Der Kunsthistoriker Andrew Carrington Shelton schreibt darüber hinaus, das Gemälde habe den „Zorn der Kritiker“ u.a. wegen eines angenommenen Primitivismus und Archaismus auf sich gezogen. Seine Kollegin Karin H. Grimme weist außerdem darauf hin, das zeitgenössische Publikum habe vor allem Probleme mit der fehlenden Handlungseinheit, der „Isolation der Figuren“ gehabt.[9]

Ingres lebte zur Entstehungszeit von Roger befreit Angelika noch in Rom, wo er nach einem Stipendium 1806 geblieben war. Auch mit diesem Werk war es ihm nicht gelungen, an den früheren Erfolg in Paris anzuknüpfen; bei Kritikern und Pariser Öffentlichkeit fiel er weiterhin durch. Einer der wenigen Ausnahmen dieser Zeit war das Historiengemälde Christus übergibt Petrus die Schlüssel des Paradieses, das jedoch als Teil einer Kirchenausstattung in Rom nicht die große Öffentlichkeit fand, die Ingres für den Erfolg benötigte. Eine Rückkehr nach Paris schien ihm in dieser Situation nicht möglich, und er zog 1820 mit seiner Ehefrau nach Florenz. Shelton weist darauf hin, dass Ingres immerhin knapp 40 Jahre alt war und bereits 20 Jahre als Maler arbeitete, so das sich, wenn schon keine Midlife-Crisis, so doch Versagensängste einstellten, die ihn zu diesem „radikalen“ Schritt motivierten. [10] Erst 1824 kehrte er nach dem Salon-Erfolg mit Das Gelübde Ludwigs XIII. nach Paris zurück.

Symbolik und Interpretation

Den Historiker und Kunstkritiker Stéphane Guégan erinnert die nächtliche Szene an die Pariser Malerei der 1800er, z.B. der Figur der Sappho von Antoine-Jean Gros. Auch hier sei die weibliche Gestalt ebenso verzweifelt wie verführerisch. Bei Ingres käme zudem das Motiv „Die Schöne und das Biest“ zum Tragen, er unterstellt Ingres sogar eine gewissen sadistischen Genuss an der Bedrohungsszene.[5]

Shelton geht darüber hinaus auf den Gegensatz zwischen der Nacktheit Angelikas und der beinahe ins Absurde übertrieben ausgeführten Rüstung des Roger ein; sie erinnere eher an „Weihnachtsbaumschmuck“ denn an die Rüstung eines tapferen Kriegers. Als sei dem Künstler diese Schwäche seines Helden bewusst gewesen, versuche er ihm durch eine besonders lange Lanze Männlichkeit „zurückzugeben“. Es seien jedoch gerade diese unerwarteten Gegenüberstellungen, die das Bild „emotional aufladen bis ins Quasi-Surreale hinein“. Er weist außerdem auf die phallische Symbolik des Felsens hin, dessen Proportionen in einer der späteren Versionen des Bildes bis ins „Unverschämte“ (französisch: outrageuse) betont seien.[6]

Für Karin H. Grimme deutet sich in der Aggression des Ritters mit der Lanze und der gegen sie gerichteten Adlerkrallen die doppelte Bedrohungssituation für Angelika an, bedenkt man die spätere Vergewaltigungsabsicht Rogers. Das Lächerliche der Situation sieht sie allerdings ebenso wie Shelton, vor allem in der als phallisches Symbol verstandenen übertrieben langen Lanze des Ritters. Ingres habe parodistische Elemente aus Ariostos Text aufgegriffen.[9]

Provenienz

Als Auftragsarbeit für das Schloss von Versailles wurde Roger befreit Angelika beim Pariser Salon von 1819 ausgestellt und dann in die Sammlung in Versailles übernommen. Ob es wie geplant im Apollon-Saal des Schlosses angebracht wurde, ist unklar. Sicher ist jedoch, dass es ab 1824 im Palais du Luxembourg öffentlich ausgestellt wurde,[6] bevor es 1874 in den Besitz des Louvre überging. Es war damit eines der wenigen Werke Ingres', das öffentlich zugänglich war und beispielsweise von anderen Künstlern kopiert werden konnte.[11]

Im Rahmen des regelmäßigen Austauschs von Kunstwerken ist es seit 5. Dezember 2014 in der „Galerie der Zeit“ des Louvre Lens als letztes Objekt der „Zeitleiste“ ausgestellt.[12]

Das Motiv wurde von Ingres mehrfach in ähnlicher Form verarbeitet; eine hochformatige Version des Gemäldes aus den 1830ern in den Maßen 39,4 x 47,6 cm befindet sich in der National Gallery in London,[13] eine mit dem Londoner Bild übereinstimmende, aber größere und ovale Version (46 x 54 cm) von 1841 ist im Besitz des Musée Ingres in Montauban.[14] Eine noch größere, ovale Version (97 x 75 cm) von 1859 ohne Roger und Hippogreif befindet sich im Museu de Arte de São Paulo[15]. Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Vorstudien, in Öl oder gezeichnet.

Referenzen und Interpretationen anderer Künstler (Auswahl)

Das Motiv aus dem Rasenden Roland wurde später von anderen Künstlern mit eigenen Kompositionen aufgegriffen, unter anderem Eugène Delacroix, Joseph Blanc,[16] Arnold Böcklin oder Odilon Redon.

Direkte Kopien der Angelika von Ingres gibt es etwa von Edgar Degas (1855) oder Georges Seurat (1878). Eine Karikatur von H. Demare im Carillon (1877) hingegen, bei der Roger auf einem großen Käfer heranfliegt und die drei weiteren Protagonisten inklusive dem Ungeheuer männliche Antlitze haben, dabei Angelique als Priester, wird bei Cuzin/Salmon als Referenz an Ingres genannt.[17] Ein modernes Derivat findet sich bei Patrick Raynauds Installation von 1991, wo unter dem Titel Untitled (Ingres travel angelique) bzw. Valise d'Ingres: Angélique die Ingres-Angelika in einen Schrankkoffer montiert wurde.[17]

Literatur

  • Georges Wildenstein: Ingres. Phaidon 1954 (nicht eingesehen)
  • Dossier de l'art n° 127: Exposition Ingres au Louvre. Édition Faton, Dijon 2006. ISSN 1161-3122
  • Stéphane Guégan: Ingres: « Ce révolutionnaire-là » Découvertes Gallimard, 2006. ISBN 978-2070308705
  • Jean-Pierre Cuzin, Dimitri Salmon: Ingres: Regards croisés Editions Place des Victoires, Paris 2006. ISBN 978-2844591296
  • Karin H. Grimme: Jean-Auguste-Dominique Ingres. Taschen, Köln 2007, ISBN 978-3-8228-2709-3.
  • Andrew Carrington Shelton: Ingres Phaidon 2008, ISBN 978-0-7148-4868-6
Commons: Roger délivrant Angélique – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Xavier Dectot, Vincent Pomarede, Jean-Luc Martinez: Louvre Lens: The Guide 2015, Nr. 212 (englisch), ISBN 978-2757208960
  2. Pressemitteilung des Louvre zur Ingres-Ausstellung vom 24. Februar bis 15. Mai 2006 (Französisch)]
  3. Der rasende Roland, 10. Gesang, 93. Strophe
  4. Der rasende Roland, 10. Gesang, 112. Strophe
  5. a b c Stéphane Guégan: Ingres: « Ce révolutionnaire-là », S. 72/73
  6. a b c Andrew Carrington Shelton: Ingres, S. 74
  7. Dossier de l'art n° 127: Exposition Ingres au Louvre., S. 28
  8. Jean-Pierre Mourey: Philosophies et pratiques du détail: Hegel, Ingres, Sade et quelques autres. Editions Champ Vallon, 1996. ISBN 9782876732223, S. 60, Fußnote 2, zitiert nach Daniel Ternois in Ingres, éd. Nathan, 1980, S. 59 (Google Books)
  9. a b Karin H. Grimme: Jean-Auguste-Dominique Ingres, S. 27
  10. Andrew Carrington Shelton: Ingres, S. 103 (?)
  11. Jean-Pierre Cuzin, Dimitri Salmon: Ingres: Regards croisés, S. 126
  12. Louvre-Lens: la Galerie du temps restera gratuite jusqu’en décembre 2015. La Voix du Nord (lavoixdunord.fr), 30. Oktober 2014, abgerufen am 28. Dezember 2014.
  13. Angelica saved by Ruggiero. 1819-39, Jean-Auguste-Dominique Ingres
  14. Peintre INGRES, Jean-Auguste-Dominique 1841 Romea auf montauban.com
  15. Katalogeintrag des Museu de Arte de São Paulo
  16. Jules Martin: Nos peintres et sculpteurs, graveurs, dessinateurs. Portraits et biographies suivis d'une notice sur les Salons français depuis 1673, les Sociétés de Beaux-Arts, la Proriété aertistique, etc. Paris 1897
  17. a b Jean-Pierre Cuzin, Dimitri Salmon: Ingres: Regards croisés (S. ?)