Benutzer:Dodecaffeinato/Takterstickung

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Takterstickung (auch: Tacterstickung, Taktunterdrückung oder Phrasenverschränkung) bezeichnet in der Musiktheorie seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das Zusammenschieben zweier musikalischer Phrasen, wobei die zweite Phrase „zu früh“ einsetzt und ihr Beginn so mit dem Ende der ersten Phrase zusammenfällt. Die beiden Phrasen haben dadurch einen Takt gemeinsam, sodass insgesamt ein Takt fehlt (bzw. erstickt wurde).

Begriffsgeschichte

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Ursprünge im 18. Jahrhundert

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Eines von Kochs Beispielen zur Takterstickung. fig. 1 zeigt die zwei viertaktigen Phrasen, die in fig. 2 zusammengeschoben werden. Der vierte Takt fungiert zugleich als der neue erste Takt. Anhand der Zahlen unter den Takten wird deutlich, dass sich die beiden Phrasen einen Takt teilen. Das weiße Quadrat zeigt an, dass es sich beim Ende der ersten Phrase nach Kochs Terminologie um einen ›Absatz‹ handelt, nicht um einen ›Einschnitt‹. Aus Koch 1787, S.454f.

Bereits 1752 beschrieb Joseph Riepel die Möglichkeit, in einer Arie die letzte Note einer Gesangsphrase mit dem Einsatz des Tuttis zusammenzuschieben, sodass die „Endnote […] unterdrücket wird“[1] (vgl. Bsp. 1) (to do: "Einteilung"). Der Begriff Takterstickung taucht erstmals 1787 in Heinrich Christoph Kochs Versuch einer Anleitung zur Composition auf.[2] (to do: Zusammengeschobene Sätze) Die Technik stellt dort eine von mehreren Möglichkeiten dar, um „zusammen geschobene Sätze“ zu bilden. Kochs Fokus richtet sich dabei auf den Schlusston (›Cäsurton‹) der jeweils ersten Phrase sowie den Anfangston der zweiten. Endet ein Abschnitt mit demselben Ton, mit dem der folgende Abschnitt beginnt, so können die beiden Phrasen zusammengeschoben werden (Abb. 2). Sinngemäß übernahm Koch diese Definition in sein 1802 veröffentlichtes Musikalisches Lexikon.[3]

19. Jahrhundert

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Im 19. Jahrhundert wurde die Takterstickung zunehmend auf die Konstruktion der Periode bezogen. 1814 beschrieb Anton Reicha das Phänomen in diesem Zusammenhang als ›supposition‹ (in Carl Czernys Übersetzung ›Unterschiebung‹).[4] Diese Entwicklung wird besonders ersichtlich in der Neuausgabe von Kochs Lexikon durch Arrey von Dommer im Jahre 1865. Der Eintrag zur Takterstickung wurde entfernt, stattdessen findet sich an der entsprechenden Stelle ein Verweis auf den Eintrag zur Periode, wo die ›Taktunterdrückung‹ als ein Mittel zur Umgestaltung einfacher Perioden erläutert wird. Von Dommer bevorzugte den Begriff Taktunterdrückung gegenüber dem Ausdruck Takterstickung, den er für älter hielt.[5] Adolph Bernhard Marx bezeichnete das Phänomen 1839 als „Verschränkung“[6], ein Begriff, der später im 20. Jahrhundert vielfach verwendet worden ist.[7]

20. Jahrhundert

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Auch Hugo Riemann behandelte die Takterstickung 1902 unter dem Aspekt des Durchbrechens der symmetrischen Periode.[8] Im Kontext seiner Theorie des Themenbaus unterschied er Elisionen ›leichter‹ und ›schwerer‹ Takte. Letztere bezeichnete er als ›Zusammenschiebung‹ oder ›Verschränkung‹.

Moderne Formenlehre

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In heutigen Formenlehren wird der Begriff Takterstickung zumeist für die Analyse der Musik der Wiener Klassik verwendet. Insbesondere werden damit im Rahmen von Taktgruppenanalysen Abweichungen von der normhaften acht- oder sechzehntaktigen Periode veranschaulicht.[9] Im Zuge der historischen Satzlehre wird das Phänomen im Zusammenhang mit den Quellen Kochs und Riepels besprochen.[10]

Die obigen Beispiele zeigen, dass die Takterstickung sowohl innerhalb von Perioden (Bsp. 4) als auch am Ende von Perioden (Bsp. 3 und 4) angewendet werden kann. Koch nennt als Funktion der Takterstickung vor allem das Bilden größerer musikalischer Einheiten.[11] Weitere Gründe zur Anwendung der Takterstickung können sein:

  • Vermeiden zu vieler gleicher Kadenzen
  • Fluss befördern
  • Überraschende Wirkung erzielen
Reichas Beispiel zur Erklärung des Complément de la mesure. Im vierten Takt wird das Ende des Vordersatzes durch drei Achtel mit dem Beginn des Nachsatzes verbunden. Aus Reicha 1832, S. 384.

Oft wird der Begriff Phrasenverschränkung synonym zur bzw. im Sinne der Takterstickung gebraucht.[12] Zwei Phrasen können jedoch auch ohne Erstickung miteinander verschränkt werden. Eine typische Vorgehensweise ist das „Zusammenketten zweyer Sätze, vermittelst der Ausfüllung des Zwischenraumes“[13] zwischen zwei Phrasen, das laut Koch nicht mit der Takterstickung verwechselt werden sollte.[14] Diese Technik findet sich als „Complément de la mesure“ („Ergänzung“ oder „Ausfüllung des Taktes“) auch bei Reicha (s. Beispiel) und als „Generaltauftakt“ bei Hugo Riemann.[15] (to do: Generalauftakt ist nicht gleich Ausfüllung)

Quellen und Literatur

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  • Reinhard Amon: Lexikon der musikalischen Form. Doblinger/Metzler, Wien 2011, ISBN 978-3-902667-27-4.
  • Felix Diergarten, Markus Neuwirth: Formenlehre. Ein Lese- und Arbeitsbuch zur Instrumentalmusik des 18. und 19. Jahrhunderts (= Grundlagen der Musik, Bd. 7). Laaber-Verlag, Laaber 2019, ISBN 978-3-89007-830-4.
  • Arrey von Dommer: Musikalisches Lexikon (= vermehrte und umgearbeitete 2. Auflage des gleichnamigen Werkes von Heinrich Christoph Koch), Heidelberg: J.C.B. Mohr 1865, online.
  • Heinrich Christoph Koch: Musikalisches Lexikon. Frankfurt 1802, online.
  • Heinrich Christoph Koch: Versuch einer Anleitung zur Composition. Bd. 2. Leipzig 1787 online.
  • Clemens Kühn: Formenlehre der Musik. ??. Auflage. Bärenreiter, Kassel 1987.
  • Leichtentritt, Hugo: Musikalische Formenlehre. 6. Auflage, Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 1964.
  • Adolph Bernhard Marx: Allgemeine Musiklehre. Ein Hülfsbuch für Lehrer und Lernende in jedem Zweige musikalischer Unterweisung. Breitkopf und Härtel, Leipzig 1839.
  • Erwin Ratz: Einführung in die musikalische Formenlehre. 3. Auflage. Universal Edition, Wien 1973, ISBN 3-7024-0015-X.
  • Riemann, Hugo 1902: Grundriß der Kompositionslehre (Musikalische Formenlehre). Bd. 1, 3. Auflage, Max Hesse Verlag Leipzig 1905, online.
  • Joseph Riepel: De rhythmopoeia, Oder von der Tactordnung. In: Anfangsgründe zur musicalischen Setzkunst.Frankfurt, Leipzig etc. 1752.
  • Anton Reicha: Traité de mélodie. Paris 1814; deutsche Übersetzung durch Carl Czerny 1832 online.
  • Richard Stöhr: Formenlehre der Musik. Verlag Friedrich Hofmeister, Hofheim am Taunus 1951.

Einzelnachweise

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  1. Riepel 1752, S. 41-46.
  2. Koch 1787, S. 453-456.
  3. Koch 1802, Sp. 1486f.
  4. Reicha 1832, S. 389-391.
  5. von Dommer 1865, S. 679.
  6. Marx 1839, S. 178.
  7. Vgl. Stöhr 1951, S. 84, Leichtentritt 1964, S. 48f und Ratz 1973, S. 202.
  8. Riemann 1905, S. 102ff.
  9. Kühn 1987, S. 72f Amon 2011, S. 378f und Diergarten 2019, S. 48.
  10. Budday 1983, Spors 2018, Diergarten 2019.
  11. Koch 1787, S. 456.
  12. Vgl. Kühn 1987, S. 72, Amon 2011, S. 378 und Autoren in Fußnote 7.
  13. Koch 1787, S. 411.
  14. Ebd., S. 411f.
  15. Reicha 1832, S. 384, 388 und Riemann 1905, S. 88ff.