Benutzer:Dodo von den Bergen/Geschichte des Schweizerischen Sozialstaates

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Geschichte des schweizerischen Sozialstaates[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Zustand während der frühen Industrialisierung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Entstehung des Sozialstaates war die Beantwortung der sogenannten «Sozialen Frage». Der ehemalige Professor für Sozialgesetzgebung an der Universität Bern Dr. Prof. Edwin Schweingruber meint mit der sozialen Frage «[den] Ausgangspunkt zu jeder sozialpolitischen Betrachtung und Betätigung». Für ihn muss man diese soziale Frage «sehen, [sonst] wird [man] nicht zum Verständnis der Sozialpolitik gelangen».

Im 19. Jahrhundert nahm die Zahl der Wohnbevölkerung von 1.6 Millionen im Jahr 1798 auf rund drei Millionen gegen Ende des Jahrhunderts zu. Damit stieg auch die Zahl der Lohnabhängige. Dieser Anstieg hatte zu Folge, dass immer mehr Menschen trotz Arbeit in Not und im Elend lebten. Diese Entwicklung steigerte sich immer mehr zu einer Massenarmut, die gegen Mitte des Jahrhunderts vor allem die Landbevölkerung und die ersten Fabrikarbeiter betraf. Letztere hatten es besonders schwer: Täglich 15 Stunden Arbeit, grösstenteils ohne Ferien, und eine Entlöhnung, die kaum das Existenzminimum erreichte. Das war auch der Grund, wieso es richtige «Arbeiterfamilien» gab, bei denen alle Generationen in der Fabrik arbeiteten. Ein Appenzell Ausserrhoder Lehrer beschrieb 1877 gegenüber einer Nationalratskommission, den Alltag von schulpflichtigen Kindern folgendermassen: «Schüler [mussten] von 8 bis 11 ½ Uhr die Schule besuchen und daneben noch 16 bis 18 Stunden in der Appretur arbeiten..., und zwar von 4 Uhr morgens bis 7 ½ und von 1 Uhr bis morgens 2 oder 3 Uhr, so dass diese Kinder in den Sommernächten gar nicht nach Hause ins Bett gingen, sondern auf freiem Feld das bisschen Schlaf suchten».

Es überrascht nicht, dass ähnlich miserable Verhältnisse auch in der Wohnsituation der Arbeiter zu finden waren. Typische Arbeiterwohnungen waren oftmals von mehreren Personen genutzt, daher eng und unhygienisch. Die Ansteckungsgefahr bei Krankheiten war erhöht und der Alkoholismus weit verbreitet. Es gibt sogar Belege, wonach es Haushalte gab, die zusätzlich wandernde Arbeiter beherbergten, um das Einkommen zu verbessern.

Diese Zustände, die sicherlich als unmenschlich bezeichnet werden können, wurden jedoch noch verheerender, zum Beispiel wenn jemand in der Familie die Arbeit und damit den Erwerb verlor. Ganze Arbeiterfamilien mussten sich mangels Kündigungsschutz und –fristen, Schutz gegen Unfall und Krankheit oder im Alter dem Kampf ums Überleben stellen.

Anfänge der Arbeiterschutzgesetze[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Arbeiterschutzgesetzgebung lag im 19. Jahrhundert in der Kompetenz der Kantone. Ihre ersten Gesetze waren unterschiedlich, und beinhalteten oftmals nur einen Schutz für Kinder, damit die obligatorische Schulpflicht überhaupt umgesetzt werden konnte. So gehörten Vorschriften über ein Mindestalter für Kinderarbeit, Verbote von Nachtarbeit und Arbeitszeitbeschränkungen zu den ersten Schutzgesetzen. Ähnlich wurden auch Frauen geschützt. Zur Zeit vor der Totalrevision der Bundesverfassung hatten neun Kantone eigene Arbeiterschutzgesetze, die allesamt sich auf die Kinderarbeit konzentrierten. Lediglich drei davon – darunter Glarus mit dem am weitesten entwickelten Arbeiterschutzgesetz – beschränkten auch die Arbeitszeit der Erwachsenen. Diese grossen Unterschiede zwischen den Kantonen und das Scheitern von Konkordatsgesprächen führten dazu, dass der Bund in der neuen Bundesverfassung 1874 die Kompetenz über den Fabrikarbeiterschutz erhielt.

Drei Jahre nach der Einführung der neuen Verfassung, wurde vom Parlament das bekannte eidgenössische Fabrikarbeiterschutzgesetz eingeführt. Es richtete sich am Arbeitsschutzgesetz im Kanton Glarus und beinhaltete: Die Beschränkung der Arbeitszeit auf elf Stunden pro Tag beziehungsweise die Einführung der 65-Stunden-Woche , Verbot von Kinderarbeit sowie die Errichtung von drei eidgenössischen Fabrik-inspektoraten.

Art. 11. Die Dauer der regelmäßigen Arbeit eines Tages darf nicht mehr als 11 Stunden, an den Vorabenden von Sonn- und Festtagen nicht mehr als 10 Stunden betragen und muß in die Zeit zwischen 6 Uhr, beziehungsweise in den Sommermonaten Juni, Juli und August 5 Uhr Morgens und 8 Uhr Abends verlegt werden.
Art. 13. Nachtarbeit, d. h. die Arbeit zwischen 8 Uhr Abends und 6 Uhr, beziehungsweise 5 Uhr Morgens (Art. 11), ist bloß ausnahmsweise zuläßig und es können die Arbeiter nur mit ihrer Zustimmung dazu verwendet werden.
Art. 16. Kinder, welche das vierzehnte Altersjahr noch nicht zurükgelegt [sic!] haben, dürfen nicht zur Arbeit in Fabriken verwendet werden.

In einem Referendum wurde das Gesetz knapp (181 000 gegen 171 000 Stimmen) an-genommen. In einer kleinen Revision, dem «Samstagarbeitsgesetzlein» wurde die Arbeit bis 17 Uhr beschränkt.

Erster Weltkrieg 1914–1918[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die nächste grössere Revision hätte ein neues Fabrikgesetz am 18. Juni 1914 bringen sollen. Sie sah eine 59-Stunden-Woche vor und begrenzte die Arbeit auf zehn Stunden am Tag. Die Inkraftsetzung wurde jedoch trotz Publikation im Bundesblatt verschoben, da zeitgleich der Erste Weltkrieg ausbrach. 1911 wurde das Bundesgesetz über eine obligatorische Kranken- und Unfallversicherung – kurz KUVG – beschlossen, nachdem es 1890 in der Bundesverfassung festgesetzt wurde. Auch dieses Gesetz trat erst nach der Kriegszeit am 1. April 1918 in Kraft.

Es kann gesagt werden, dass der Erste Weltkrieg im Vergleich zu den Nachbarsländern der Schweiz nicht besonders zu schaffen machte. Sozialpolitisch blieb die Entwicklung zur Lösung der «sozialen Frage» kurz stehen. Die Not der Bevölkerung, die durch den Kriegsausbruch entstand und eine Verteuerung der Lebensmittel sowie Lohnausfälle wegen der Mobilmachung mit sich brachte, wurden vor allem von den staatlichen und gemeinnützigen Organisationen übernommen.

Streikaufruf des OAK.

Zwischenkriegszeit[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Gegen Ende des Ersten Weltkrieges stiegen die Sorgen der Bevölkerung: Rund ein Sechstel der Bevölkerung erhielt im Jahr 1918 weniger als das Existenzminimum, während gleichzeitig die Teuerung eine Verdoppelung der Preise mit sich brachte. Die Einführung der eidgenössischen Kriegssteuer 1915 verstärkte den Unmut gegen den Bundesrat. Zeitgleich wurden in der Schweiz die Kongresse der Internationalen Sozialisten abgehalten, die die revolutionären Bestrebungen in Russland mitverfolgten. Treibende Schweizer Kraft war zu dieser Zeit das Oltener Aktionskomitee, kurz OAK, welches sich als Führungsstab der schweizerischen Arbeiterschaft verstand und sozialpolitische Reformen forderten. Anfang November 1918 rief das OAK die Arbeiterschaft zu einem nationalen Landesstreik auf. In einem Flugblatt forderten sie unteranderem:

  • Staatspolitische Reformen: Neuwahl des Nationalrates unter dem Verhältniswahlrecht (Proporz), Frauenstimmrecht
  • Sozialpolitische Reformen: Einführung einer Arbeitspflicht, Beschränkung der Wochenarbeitszeit auf 48 Stunden, Einführung einer Alters- und Hinterlassenenversicherung
Demonstrierende am Paradeplatz in Zürich.

Die ersten Streiks am 9. November verliefen ruhig, die Zürcher Arbeiterschaft entschloss sich jedoch, den Streik am 10. November fortzusetzen. Dieser führte aber zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den demonstrierenden Arbeitern und dem Militär. Am Folgetag wurden die Fabriken, die Eisenbahnen und die öffentlichen Verwaltungen von rund 400 000 Demonstrierenden besetzt.

Nachdem in Grenchen drei Arbeiter erschossen wurde, sah sich das OAK gezwungen, den Streik in der Nacht auf den 15. November abzubrechen. In den folgenden Tagen wurden die Hauptverantwortlichen für den Streik in öffentlichen Verfahren zu verschiedenen Gefängnisstrafen verurteilt. Es kann gesagt werden, dass aus der Sicht des revolutionären Flügels der Streik eine Niederlage war. Trotz der Niederlage wurden jedoch die politischen Forderungen der Sozialdemokraten in die Politik getragen: Die Nationalratswahlen 1919 wurden erstmals unter dem Proporzwahlrecht durchgeführt (die Sozialdemokraten verdoppelten ihre Sitzzahl auf 20 Prozent) und in der folgenden Legislatur wurden mehr als ein Dutzend Gesetze und Gesetzesänderungen beschlossen, die allesamt das Arbeitsrecht und das Sozialwesen betrafen.

Zweiter Weltkrieg – Einführung AHV[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Nach dem Erste Weltkrieg brachten die Sozialdemokraten einige Volksbegehren zur Abstimmung. Sie wurden alle vom bürgerlich-konservativen Block im Parlament abgelehnt und von Volk und Ständen verworfen. Darunter war auch die 1925 lancierte Initiative zur Schaffung einer Alters- und Hinterlassenenversicherung (kurz AHV). Ihr gegenüber stand ein Gegenvorschlag vom Bundesrat, der die Schaffung einer AHV beauftragen wollte. 1931 wurde jedoch der Gesetzesvorschlag abermals abgelehnt.

Am 25. Juni 1940, wenige Tage nach der Mobilmachung der Armee, sprach der Bundesratspräsident Pilet-Golaz folgende Worte: «Le travail, le Conseil fédéral en fournira au peuple Suisse, coûte que coûte.» Er versprach den Schweizer Bürgern Arbeit zu schaffen, koste es, was es wolle. Mit dieser Radioansprache wurde die Zeit eingeläutet, in der es schnell zu sozialpolitischen Reformen kam: Nebst dem Erwerbsersatz für die Wehrpflichtigen und der Arbeitslosenversicherung, wurden auch Erlasse zur Vorbereitung einer AHV durchgesetzt. 1943 erreichten die Sozialdemokraten bei den Nationalratswahlen 56 Sitze und wurden damit die stärkste Fraktion. Durch die Wahl des Sozialdemokraten Ernst Nobs in den Bundesrat wurden die Parteikämpfe zwischen dem bürgerlichen Block und den Sozialisten zur Vergangenheit. Am 6. Juli 1947 wurde das Bundesgesetz zur Schaffung der Alters- und Hinterlassenenversicherung mit einem wuchtigen Mehr angenommen.