Benutzer:Fanta39/Geschichte der Juden in Vlotho

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Die ersten Juden[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Wann sich die ersten Juden in Vlotho niedergelassen haben, ist nicht bekannt. Die ersten schriftlichen Urkunden über die Anwesenheit von Juden stammen aus dem Jahre 1690. Es sind so genannte „Geleitspatente“ des Kurfürsten, die einer jüdischen Familie erlauben, sich hier häuslich niederzulassen.

„WIR, FRIEDRICH DER DRITTE, VON GOTTES GNADEN, MARKGRAF ZU BRANDENBURG, DES HEYL. RÖMISCHEN REICHS ERZ-CÄMMERER UND CHURFÜRST IN PREUSSEN... THUN KUNDT UNDT FÜGEN HIRMIT ZU WISSEN, DASS WIR DEN JUDEN ISRAEL SPANIER ZUM VERGLEITETEN JUDEN IN UNSER FLECKEN VLOTHO, GRAFSCHAFT RAVENSBERG, IN GNADEN ANGENOMMEN HABEN, THUN DAS AUCH HIRMIT UND VERGLEITEN DENSELBEN, SAMBT SEINER FAMILIE, AN VERMELTES FLECKEN, ALSO UND DER GESTALT, DAS ER SICH DASELBST HÄUSSLICH NIEDERLASSEN, SEINE WOHNUNG ANRICHTEN, UND ALLE DENEN ÜBRIGEN JUDEN IN GEDACHTER UNSERER GRAFSCHAFT RAVENSBERG ZU GELASSENER HANDLUNG TREIBEN MÖGEN, JEDOCH, DASS ER SICH DABEY GELEITLICH VERHALTEN, UND DAS GEWOHNLICHE SCHUTZGELDT ZU GEHÖRIGER ZEIT JEDESMAHL RICHTIG ABSTATTEN, WELCHENFALLS UNSERE RAVENSBG. AMTSKAMMER UND DER DROST ZU VLOTHO IHN BEI DIESEM GELEITSPATENT ZU SCHÜTZEN, UND VON NIEMANDT ER SEY, WER ER WOLLE, DAWIEDER BEEINTRÄCHTIGEN ZU LASSEN. DES ZU URKUNDT HABEN WIR DIESES EIGENHENDIG UNTERSCHRIEBEN UND MIT UNSERM CHURFÜRSTLICHEN GNADEN SIEGEL BEDRÜCKEN LASSEN, SO GESCHEHEN UND GEGEBEN IN UNSERM HAUPTQUARTIER ZU ESSRINGUEN BEY DAME DE LAMBECK IN BRABANDT DEN 18./8. SEPTEMBR. 1690.* FRIEDRICH. EB. DANKELMAN.“

  • Daten nach gregorianischem bzw. julianischem Kalender

Dieses „Geleitspatent“, dessen handschriftliche Ausfertigung für Israel Spanier sich im Stadtarchiv Vlotho befindet, ist die älteste uns bekannte schriftliche Quelle, die uns die dauerhafte Anwesenheit von Juden in Vlotho bezeugt.

Kurfürst Friedrich III. – ab 1701 als Friedrich I. erster „König in Preußen“ – erteilt also dem Juden Israel Spanier einen Schutzbrief, der es ihm gestattet, sich mit seiner Familie in Vlotho häuslich niederzulassen. Außerdem wird ihm erlaubt, all die Handlungen zu betreiben, die den übrigen Juden in der Grafschaft Ravensberg gestattet sind. Dabei soll er von niemandem, „er sei, wer er wolle“, beeinträchtigt werden. Die Ravensberger Amtskammer und der Drost zu Vlotho, der hier die Amtsgewalt ausübte, wurden ausdrücklich aufgefordert, diese jüdische Familie auf Grund des Geleitspatents zu schützen. Als Gegenleistung hat Israel Spanier das „gewöhnliche“ Schutzgeld pünktlich zu zahlen und sich im Übrigen „geleitlich“ zu verhalten.

Schutzbrief für ein Kind des Jobst Jakob, 1690

Schon um 1680 wurde der Ostabhang des Amtshausberges „Jüdenbrink“ genannt, denn dort befand sich der erste jüdische Friedhof – weit außerhalb der Stadt. Der älteste erhaltene Grabstein stammt aus dem Jahre 1713. In der Grabinschrift heißt es:

„Hier ist verborgen der greise und erhabene seine Ehren Herr Juda Sohn des Jaakow Koppel, sein Andenken zum Segen… Er wurde genannt im Munde aller Juda Plaut.“

Ältester Grabstein von 1713 (Foto: MGG)

Die jüdische Gemeinde[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die jüdische Kultusgemeinde wurde wahrscheinlich zu napoleonischer Zeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts formell gegründet. Vlotho gehörte von 1807 bis 1813 zum „Königreich Westphalen“ unter Napoleons Bruder Jerome. Unter Jerome Bonaparte wurden den Vlothoer Juden bereits 1808 die vollen Bürgerrechte zuerkannt. In einem Dekret vom 27. Januar 1808 verordnete „Hieronymus Napoleon“: „Unsere Untertanen, welche der mosaischen Religion zugetan sind, sollen in unsern Staaten dieselben Rechte und Freiheiten genießen wie unsere übrigen Untertanen… Diesem zufolge sind alle Auflagen und Abgaben, welche allein die Juden zum Gegenstande hatten…, hiermit gänzlich aufgehoben…“ Eine Synagoge wurde aber erst 1850/51 erbaut. Sie stand mitten in der Stadt, etwas zurückgesetzt an der Langen Straße. Der Vlothoer Chronist H. Harland schreibt (1888) darüber: „Dieselbe (die Synagoge) liegt in der Nähe des Rathauses und ist als Hintergebäude der jüdischen Schule aufgeführt worden… Die Größe derselben entspricht der Gemeinde, und das Äußere wie auch das Innere des Gotteshauses ist würdevoll dem jüdischen Ritus gemäß ausgestattet“.

Es war ein aus Kalksintersteinen errichteter Bau, innen und außen verputzt, mit einem Satteldach versehen. An den Längsseiten waren jeweils drei große Fenster mit Rundbögen. An der Ostwand befanden sich zwei etwas schmalere Fenster.

Vlothoer Synagoge, erbaut 1850/51 (Schülerzeichnung, MGG-Ausstellung)

Zu dieser Zeit zählte man bei ca. 2000 Einwohnern 137 Juden in Vlotho. 1854 wurde ein neuer jüdischer Friedhof gegenüber dem evangelischen Friedhof angelegt, ein Zeichen, dass die Vlothoer Juden gesellschaftlich anerkannt waren. Der jüdische Friedhof war auch Begräbnisplatz für die Juden aus Bad Oeynhausen, denn sie gehörten zur hiesigen Synagogengemeinde.

Blick über den jüdischen Friedhof in Vlotho, Wasserstraße (Foto: MGG)

Seit 1843 gab es auch eine jüdische Elementarschule. Hier lehrte 25 Jahre lang Isidor Gutmann, dem bei seiner Pensionierung für seine Verdienste der Hausorden der Hohenzollern verliehen wurde. Die Schule bestand bis 1913. Gebäude der jüdischen Schule in Vlotho (Foto: LAV OWL, M1 IP–1551)

Urkunde über die Verleihung des Hausordens der Hohenzollern an den jüdischen Lehrer Isidor Gutmann, 1898

Die jüdische Gemeinde erlosch durch die Deportation der Vlothoer Juden in den Jahren 1941/42. Nach dem Krieg hat sich keine neue Synagogengemeinde gebildet.

Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Rolle der Juden in Vlotho[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die jüdischen Bürger spielten in Vlothos Wirtschaft und Gesellschaft eine bedeutende Rolle. Rüdenberg, Grundmann, Steinberg, Heynemann und Stern, das sind die jüdischen Familien, die im 19. Jahrhundert das geschäftliche Leben der Weserstadt geprägt haben. Später kamen dann Juchenheim, Loeb und Mosheim als bedeutende Unternehmen hinzu.

Eine bedeutende Rolle in der Vlothoer Gesellschaft spielten um die Wende zum 20. Jahrhundert Abraham Steinberg und Mendel Grundmann.

Abraham Steinberg war erfolgreicher Matzenbäcker und langjähriger Vorsitzender der jüdischen Gemeinde. Er zeigte aber auch eine patriotische Gesinnung. So stiftete er 1896 den Platz für die Errichtung eines Kriegerdenkmals für die Gefallenen der Kriege von 1864, 1866 und 1870/71.

A. Steinberg stiftete 1896 den Platz für ein Kriegerdenkmal (Vlothoer Ansichtskarte)

Mendel Grundmann ist als „wohlhabender Wohltäter“ in die jüdische Geschichte Vlothos eingegangen. Er bewies ein hohes Maß an sozialer Einstellung, als er 1898 ein Gelände an der Valdorfer Straße aufkaufte, erschloss und als Bauland zu einem fairen Preis verkaufte. Oft gab er noch ein günstiges Darlehen dazu. So ermöglichte er Vlothoer Zigarrenarbeitern und Handwerkern, eigenen Hausbesitz zu erwerben. In der Zeit von 1900 – 1910 entstanden 10 Eigenheime an der „Weidestraße“. Schon in den zwanziger Jahren wurde eine Straße nach Mendel Grundmann benannt.

Im 19. Jahrhundert waren die Juden führend im Leinsamen- und Leinenhandel. Aus dieser Tradition entwickelten sich später Textilgeschäfte, die vorwiegend in der Langen Straße angesiedelt waren. Rüdenberg und Loeb waren die führenden Textilkaufhäuser in Vlotho.

Textilkaufhaus Rüdenberg (Foto: Heimatverein Vlotho)

Das Kaufhaus Rüdenberg, das über mehrere Generationen hier bestand, hatte einen guten Ruf über Vlotho hinaus. Die Kundschaft kam nicht nur aus Vlotho, sondern auch von der anderen Seite der Weser und aus dem Lippischen. Über die besondere Einkaufsatmosphäre im Kaufhaus Loeb liegen verschiedene Zeitzeugen-aussagen vor. Der Familieneinkauf bei Loeb war immer ein besonderes Erlebnis. Den Müttern wurde eine Tasse Kaffee und den Vätern eine Zigarre angeboten. Die Kinder bekamen oft eine kleine Tafel Schokolade geschenkt. Die Vlothoer kauften gern in den jüdischen Geschäften ein.

Textilkaufhaus Loeb um 1920 (MGG-Archiv)

Auch im gesellschaftlichen Leben Vlothos spielten die Juden eine wichtige Rolle. Sie waren Mitglieder in verschiedenen örtlichen Vereinen. In Turnvereinen, Gesangs-vereinen, im Fischereiverein oder bei der Freiwilligen Feuerwehr gestalteten sie aktiv das Vereinsleben mit. Als 1919 der Vlothoer Fußballclub „Arminia“ gegründet wurde, gehörten jüdische Bürger zu den Gründungsmitgliedern. Als Folge der nationalsozialistischen Rassenpolitik wurden die jüdischen Mitglieder nach 1933 aus den Vereinen ausgeschlossen.

Jüdische Händler, Geschäfte und Unternehmen in Vlotho

Nationalsozialistische Judenverfolgung in Vlotho[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Boykottaufrufe und „Arisierung“[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten wurden die jüdischen Kaufleute durch Boykottaufrufe wie „Deutsche, kauft nicht bei Juden!“ unter Druck gesetzt. Viele jüdische Geschäfte mussten aufgeben.

Aufruf zu Boykottmaßnahmen, Vlothoer Wochenblatt vom 1.4.1933

Obwohl Eisenreich nur einen Mietvertrag mit Max Rüdenberg geschlossen hatte, heißt es in der Anzeige: „Das Unternehmen geht somit in arischen Besitz über“. (Vlothoer Wochenblatt, Jahrg. 1938). Im Zuge der so genannten „Entjudung“ oder „Arisierung“ mussten jüdische Geschäftsinhaber oder Unternehmer ihre Betriebe zwangsverkaufen. So ging die modernisierte Papierfabrik der Gebr. Mosheim in Valdorf weit unter Wert an die „arische“ Firma von Deylen. Über die Erlöse konnten die Juden nicht verfügen. Sie gingen auf ein Sperrkonto, von dem nur geringe Beträge für den Lebensunterhalt ausgezahlt wurden. Als die Juden deportiert wurden, verfielen alle Vermögen dem Deutschen Reich.

Papierfabrik Gebr. Mosheim (Foto: Heimatverein Vlotho)

Novemberpogrom 1938[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Zerstörte Synagoge 1938 (Foto: LAV OWL, M1 IP-1551))

Im Zuge des Novemberpogroms 1938 verübten Vlothoer Nationalsozialisten am helllichten Tage des 10. Novembers schwere Gewalttaten gegen die jüdischen Mitbürger. Am Morgen drangen zunächst vier SA/SS-Männer, aus dem Rathaus kommend, in die Synagoge ein. Ein Augenzeuge berichtet:

„Als ich zur Synagoge kam, stand die Tür offen. Ich trat einige Schritte hinein und sah, dass sich mehrere Personen in der Synagoge befanden, die dabei waren, die Synagoge zu zerstören… Sie schlugen mit den mitgebrachten Werkzeugen auf alles ein. Ich habe noch deutlich in Erinnerung, wie der Kronleuchter – ich glaube, von der Empore aus – zerschlagen wurde… Ein Anderer schlug mit einem Gegenstand auf das Harmonium ein, das entsprechende Töne von sich gab…“

Die Gewalttäter entweihten die jüdischen Kultgegenstände, zertrümmerten die Einrichtung und zerstörten schließlich das Gebäude so sehr, dass es danach nur noch abbruchreif war. Ein Trupp von Nationalsozialisten überfiel am Vormittag während des normalen Verkaufsbetriebs das Kaufhaus Loeb. Eine Verkäuferin, damals noch Lehrmädchen, gab bei dem Prozess gegen die beschuldigten Nationalsozialisten, der 1949 stattfand, zu Protokoll:

„Am Tage der Judenaktionen kamen kurz vor Mittag plötzlich einige SA-Leute in unser Geschäft herein, die Hämmer und andere Gegenstände in der Hand hatten, und fingen gleich an, die Einrichtungsgegenstände usw. kaputtzuschlagen. Wir sind sofort hinausgelaufen… Zwei von den SA-Leuten habe ich mit aller Bestimmtheit erkannt, und zwar den Herbert Schmidt, der damals bei der Sparkasse beschäftigt war, und den Mowe aus Bonneberg. Schmidt und Mowe waren die beiden ersten, die hereinkamen…“

Die Augenzeugin konnte sich nicht nur an Einzelheiten der Zerstörung erinnern, sondern auch an die Täter. Auf Grund ihrer Aussage konnten die zwei Anführer des Überfalls auf das Kaufhaus Loeb bei einem Prozess, der 1949 in Bielefeld stattfand, verurteilt werden.

Gewaltaktionen gab es nicht nur gegen die Synagoge und das jüdische Geschäft Loeb, sondern auch gegen jüdische Häuser und Mietwohnungen. Den Überfall auf das Haus Speier in der Höltkebruchstraße konnten viele Nachbarn und Passanten bezeugen.

Ein Zeuge beobachtete, wie ein Trupp Uniformierter zur Höltkebruchstraße zog. Er sei hinterher gegangen und habe Folgendes gesehen:

„Eine Anzahl Uniformierter war in dem Haus am Toben. Ich sah u. a. den Paul Exner, den ich genau kannte. Er war dabei, oben im Haus mit einer Stange… die Fenster einzuschlagen. Nach einiger Zeit kam er herunter und sperrte die Haustür weit auf. Ich bemerkte, dass im Hausflur alles Mögliche an Möbeln und sonstigem Gerät zerschlagen durcheinander lag. Ich sah in Exner den Anführer derer, die im Hause waren, die ich auf 5 – 7 Mann schätze. Nach einiger Zeit kam Exner aus dem Haus heraus und hatte ein Stück von einer geschlachteten Ziege… in der Hand, und rief nun noch höhnisch, indem er das Fleischstück hochhielt: ‚Eine Ziege!’, worauf die Kinder, die umherstanden, laut aufjohlten. Dann warf er das Fleischstück auf den Trümmerhaufen im Hausflur. Andere Personen, die sich an der Zerstörung beteiligt haben, habe ich nicht erkannt. Exner jedoch führte sich eindeutig als Anführer auf…“

Wie beim Haus Speier griffen Nationalsozialisten mit ungezügelter Gewalt alle jüdischen Privathäuser an und drangen in jüdische Mietwohnungen ein. Dabei kam es auch zu Gewaltanwendungen gegen Personen. So wurde Frau Paula Juchenheim, nachdem sie mit ihrem Sohn aus ihrem Haus in der Langen Straße Richtung Weserufer geflüchtet war, von einem Vlothoer Nationalsozialsten verfolgt und geschlagen.

Es kann aber auch festgestellt werden, dass jüdische Personen bei christlichen Familien Schutz und Unterstützung fanden. So flüchtete Jutta (Jule) Silberberg, Ehefrau des Max Silberberg, am 10. November, als ihre Wohnung in der Herforder Straße überfallen wurde, zu der befreundeten Familie Heinrich Petersen auf dem Bonneberg, die sie bereitwillig aufnahm. Bei dem Überfall auf das Haus Speier-Simon flüchteten die jüdischen Bewohner zunächst zu den christlichen Nachbarn, die sie zu beruhigen versuchten.

Im Verlaufe des 10. Novembers wurden alle männlichen Juden im arbeitsfähigen Alter verhaftet, um sie in das Konzentrationslager Buchenwald zu verbringen.

Liste der Vlothoer Juden, die nach Buchenwald verschleppt wurden

Name Alter Entlassdatum Erich Grundmann 58 J. 16.12.1938 Rudolf Grundmann 23 J. 24.12.1938 Alwin Juchenheim 49 J. 12.12.1938 Erich Katz 41 J. 12.12.1938 Ernst Levy 27 J. 23.12.1938 Gustav Loeb 56 J. 29.11.1938 Ernst Markus 37 J. 23.01.1939 Herbert Mosheim 30 J. 24.12.1938 Arthur Seelig 51 J. 12.12.1938

Ernst Warschauer 27 J. (vorübergehend in Vlotho) Tod im KZ Buchenwald: 19.12.1938

Der Novemberpogrom war der Auftakt zur so genannten „Endlösung“ der Judenfrage. Am Ende stand der millionenfache Völkermord. Die Vlothoer Juden blieben nicht verschont.

Die Deportation der Vlothoer Juden[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Nach der Volkszählung vom 16. 6. 1933 gab es im Amt Vlotho 87 Juden („Glaubensjuden“). Ende 1941 lebten nach vielen Umzügen und Auswanderungen noch 25 jüdische Personen in Vlotho, die in den drei „Judenhäusern“ Lange Straße 81, Lange Straße 83 und Höltkebruchstraße 9 zusammengepfercht wohnen mussten. In drei Schüben wurden die hier verbliebenen Juden in den Jahren 1941/42 in die Konzentrationslager deportiert.

Die Deportation vom 13. Dezember 1941[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die erste Deportation traf die Familie Juchenheim. Ende November 1941 erhielten Alwin und Paula Juchenheim die Anordnung, sich für den Transport in den Osten bereit zu halten. Zu diesem Zeitpunkt hielten sich aber ihre Kinder Lore (15 Jahre) und Hans (13 Jahre) bei Verwandten in den Niederlanden auf, wohin die Kinder nach dem Novemberpogrom gebracht worden waren. Nach den damaligen Umständen gab es für das Ehepaar Juchenheim keine andere Wahl, als ihre Kinder nach Vlotho zurückzubeordern. Am 10. Dezember wurde die Familie in Polizeibegleitung nach Bielefeld gebracht. Der Transport ging am 13. Dezember 1941 von Bielefeld aus nach Riga. Von der Familie Juchenheim kam niemand zurück. (Stadtarchiv Vlotho) Antrag auf Ausstellung einer „Kennkarte“ für Lore Juchenheim: das „J“ steht für „jüdisch“, auch die Ausweispapiere wurden mit einem „J“ gekennzeichnet. Aus dem Antrag kann man ersehen, dass sich Lore Juchenheim am 6. Dezember 1941 in Vlotho zurückmeldet. Am 13. Derzmber 1941 wurde sie mit ihrer Familie von Bielefeld aus nach Riga deportiert.

Die Deportation vom 31. März 1942[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Am 31. März 1942 ging ein erster Transport aus dem Reichsgebiet in das Warschauer Ghetto. Er sollte ca. 1000 Personen umfassen, darunter waren 11 jüdische Personen aus Vlotho: Erich Grundmann Dora Grundmann (geb. Mosheim) Magdalene Grundmann Leoni Warschauer (geb. Grundmann) Gerda Mosheim Nathan Speier Henriette Speier (geb. Hamlet) Erna Speier Emmi Speier Gertrud Windmüller (geb. Heynemann) mit Tochter Ruth Windmüller (5 Jahre alt)

Der weitere Schicksalsweg ist unbekannt. Sie alle sind verschollen.

Die Deportation vom 31. 7. 1942[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Am 29. Juli 1942 wurden schließlich die letzten jüdischen Bürger aus Vlotho abgeholt: Samson Heynemann Hedwig Heynemann (geb. Cohn) Hedwig Levy (geb. Steinberg) Moses Mosheim Oskar Rosenwald Louis Steinberg Rebekka Silberberg (geb. Markus) Willy Silberberg Henny Silberberg (geb. Strauss) Jutta (gen. Marianne) Silberberg (15 J.)

Der Transport ging am 31. Juli 1942 von Bielefeld nach Theresienstadt. Obwohl Theresienstadt in der Nazipropaganda als Musterlager dargestellt wurde, verstarben die überwiegend älteren Personen in kurzer Zeit: Samson Heynemann, Hedwig Levy, Moses Mosheim, Rebekka Silberberg. Oskar Rosenwald, Louis Steinberg und Hedwig Heynemann wurden von Theresienstadt in das Vernichtungslager Treblinka deportiert, wo sie mit Sicherheit den Tod fanden.

Willy, Henny und Jutta Silberberg wurden Anfang Oktober 1944 nach Auschwitz verbracht. Der schwerkriegsbeschädigte Willy Silberberg wurde bei der Ankunft in Auschwitz selektiert und im Gas ermordet. Henny Silberberg und Tochter Jutta (gen. Marianne) wurden nach einem Monat in das KZ Groß-Rosen verlegt, wo sie am 8. 5. 1945 von russischen Truppen befreit werden konnten. Von den aus Vlotho Deportierten sind sie die einzigen Überlebenden. Sie kamen nach Vlotho zurück, wanderten aber 1947 in die USA aus.

Schritte der Versöhnung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Mahnmal für die Vlothoer Holocaust-Opfer[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Aufarbeitung der jüdischen Geschichte Vlothos, vor allem der Verfolgungs- und Vernichtungszeit unter den Nationalsozialisten, begann mit einem Leserbrief des jungen Studienrats Helmut Urbschat unter der Überschrift „Sind Vlothos Juden schon vergessen?“ Er schlug vor, dort, wo die Synagoge gestanden hat, als „sichtbare Erinnerung“ eine Gedenktafel oder einen Gedenkstein zu errichten.

Die Mehrheit der Vlothoer stand diesem Vorschlag reserviert gegenüber. In der Öffentlichkeit gab es auch kaum Reaktionen. Über einen Lokaljournalisten kam Urbschat aber in Kontakt mit Hans Loeb, dem Sohn eines Textilkaufmanns aus Vlotho, der 1938 in die USA ausgewandert war. Seine Angehörigen waren deportiert und ermordet worden. Stephen H. Loeb, wie sich der Emigrant in den USA nannte, war trotz gewisser Bedenken von dem Plan durchaus angetan. Zur Verwirklichung dieses Vorhabens musste ein Verein gegründet werden. Man entschloss sich, den Verein nach dem sozial engagierten Vlothoer jüdischen Kaufmann Mendel Grundmann zu benennen. Am 14. Oktober 1965 wurde die „Mendel-Grundmann-Gesellschaft“ formell gegründet. Vorsitzender wurde der Pfarrer der Ev.-ref. Gemeinde, Hermann Barth. Helmut Urbschat wurde zum Schriftführer und Kassierer gewählt.

Die erste und wichtigste Aufgabe war, ein Mahnmal für die Vlothoer Opfer des Holocaust zu errichten. Das Mahnmal, bestehend aus drei gleichförmigen Stelen, wurde am 7. September 1969 eingeweiht. In die rechte und linke Stele sind die Namen von 43 Opfern eingraviert. Die mittlere Stele trägt in Hebräisch und Deutsch die Inschrift „Friede sei mit Euch“ und darunter: „SIE WAREN BÜRGER DER STADT VLOTHO“. Bei der Erstellung einer verlässlichen Opferliste war die Zusammenarbeit mit Stephen H. Loeb unabdingbar. Aber auch die Stadt Vlotho unterstützte das Vorhaben durch die Bereitstellung von Unterlagen. Das Mahnmal mit der namentlichen Würdigung der jüdischen Opfer war eines der ersten dieser Art in Deutschland. Stephen H. Loeb kam persönlich zur Einweihung und hielt eine bewegende Rede. Nach der Errichtung des Mahnmals erlahmten aus verschiedenen Gründen die öffentlichen Aktivitäten der Mendel-Grundmann-Gesellschaft, was schließlich 1974 zur förmlichen Auflösung des Vereins führte.

Mahnmal am jüdischen Friedhof in Vlotho mit den Namen der Holocaust-Opfer, errichtet 1969 (Foto: MGG)

5.2 „Jüdische Woche“ im November 1988[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Im Hinblick auf den 50. Jahrestag des Novemberpogroms von 1938 kam es 1988 zur Wiederbelebung der Mendel-Grundmann-Gesellschaft. Die Hauptziele waren die Kontaktpflege zu den noch überlebenden Juden, deren Heimat einmal Vlotho war, und die Erforschung der jüdischen Geschichte Vlothos. Im Herbst desselben Jahres erschien die erste Publikation: „SIE WAREN BÜRGER UNSERER STADT – Beiträge zur Geschichte der Juden in Vlotho“. Gleichzeitig hatte der Verein die Stadtverwaltung unter Bürgermeister Gerhard Wattenberg für den Plan gewinnen können, alle noch lebenden Juden, die aus Vlotho stammten, in die alte Heimatstadt einzuladen. So kam es im November 1988 zu einer denkwürdigen Begegnungswoche. Am 6. November 1988 konnte Bürgermeister Wattenberg 23 jüdische Gäste begrüßen. Stephen H. Loeb trat als Sprecher der jüdischen Gäste auf und dankte mit bewegenden Worten der Stadt und der Mendel-Grundmann-Gesellschaft für diese Geste der Versöhnung. Höhepunkt der Veranstaltungsreihe war die feierliche Enthüllung einer Gedenktafel am Standort der ehemaligen Synagoge. Die Inschrift auf der Gedenktafel lautet:

WIR ALLE, OB SCHULDIG ODER NICHT, OB ALT ODER JUNG, MÜSSEN DIE VERGANGENHEIT ANNEHMEN. WIR ALLE SIND VON IHREN FOLGEN BETROFFEN UND FÜR SIE IN HAFTUNG GENOMMEN. (Richard von Weizsäcker)

Plakat zur „Jüdischen Woche“ 1988 (MGG-Akten)

Ehrenbürgerschaft für Stephen H. Loeb[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Bei dem Versöhnungsprozess zwischen den überlebenden Juden und ihrer Heimatstadt Vlotho spielte Stephen H. Loeb eine bedeutende Rolle. 1991 regte daher der Vorsitzende der Mendel-Grundmann-Gesellschaft, Helmut Urbschat, an, Stephen H. Loeb in Würdigung seiner Verdienste die Ehrenbürgerschaft der Stadt Vlotho anzutragen. Stephen H. Loeb nahm dieses Anerbieten – unter Berücksichtigung der Bedenken, die von jüdischer Seite vorgebracht werden könnten – dankbar an. Anlässlich seines 75. Geburtstags wurde Stephen H. Loeb am 25. 9. 1991 in einer bewegenden Feierstunde die Ehrenbürgerschaft der Stadt Vlotho verliehen.

Bürgermeister G. Wattenberg mit Stephen H. Loeb und Ehefrau Betty bei der Verleihung der Ehrenbürgerschaft am 25. 9. 1991 (Pressefoto, Ausschnitt))

Aktion Stolpersteine mit Gunter Demnig[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Seit dem Jahre 2000 verlegt der Kölner Künstler Gunter Demnig so genannte „Stolpersteine“ als Erinnerungssteine für die Opfer der NS-Gewaltherrschaft: für Juden, Sinti und Roma, für Zeugen Jehovas, für Euthanasieopfer oder für aus anderen Gründen Verfolgte. Inzwischen hat er das Projekt noch ausgeweitet. In Vlotho wurde man im Herbst 2004 auf die Aktionen G. Demnigs aufmerksam. Es war der Verein „Moral & Ethik“, der im Februar 2005 einen Bürgerantrag zur Verlegung von Stolpersteinen stellte. Die Mendel-Grundmann-Gesellschaft griff die Initiative auf und beschloss im März 2005, 41 Stolpersteine für die Vlothoer Holocaustopfer zu verlegen. Bei der Durchführung des Projektes kam es zu einer Aufgabenteilung zwischen den beiden Vereinen. Der Mendel-Grundmann-Gesellschaft fiel die Aufgabe zu, die Daten der Opfer zusammenzustellen und mit dem Künstler abzustimmen, in welcher Form sie auf die 10 x 10 cm große Messingplatte des Stolpersteins eingraviert werden sollten. Außerdem mussten die Verlegeorte in Abstimmung mit dem Künstler, aber auch mit der Stadt Vlotho, festgelegt werden. Grundsätzlich sollte der letzte freiwillige Wohnsitz des Opfers als Verlegeort ausgewählt werden.

Gunter Demnig und Sue Alterman-Moss bei der Verlegung von Stolpersteinen für die Familien Mosheim-Grundmann (März 2007) (Foto: Vlothoer Zeitung)

2006/2007 wurden schließlich in drei Aktionen die 41 Stolpersteine durch G. Demnig verlegt. Die Mendel-Grundmann-Gesellschaft legte Wert darauf, die Verlegung der Stolpersteine mit größtmöglicher Beteiligung der Bevölkerung durchzuführen. So konnten alle Stolpersteine durch freiwillige Spenden finanziert werden. Im Zusammenhang mit der Verlegung der Steine wurden besondere Feiern veranstaltet, bei der die Steine der Öffentlichkeit übergeben wurden. Bei der letzten Aktion im März 2007 waren Sue Alterman-Moss, die Tochter des emigrierten Herbert Mosheim, und ihr Ehemann Leonard Alterman aus den USA als Gäste anwesend. In einer der Gedenkstunden fiel der zutreffende Satz: „Durch die Stolpersteine sind die jüdischen Bürger symbolisch in ihre Heimatstadt zurückgekehrt…“

Obermayer German Jewish History Award für Helmut Urbschat und Manfred Kluge[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Am 23. Januar 2008 wurden Helmut Urbschat und Manfred Kluge, Vorstandsmitglieder der Mendel-Grundmann-Gesellschaft, in Berlin mit dem Obermayer-Preis für deutsch-jüdische Lokalgeschichte ausgezeichnet. Vorgeschlagen wurden sie von Inge Moss, Sue Alterman-Moss und Nancy Moss-Cohen aus Florida/USA.

„Mit dem Obermayer German Jewish History Award werden deutsche Bürger geehrt, die auf freiwilliger Basis in ihren Heimatorten einen herausragenden Beitrag zur Bewahrung des Gedenkens an die jüdische Vergangenheit – ihrer Geschichte und Kultur, ihrer Friedhöfe und Synagogen – geleistet haben. Dieser Preis gilt heute als höchste Auszeichnung, die einer Einzelperson zuteil werden kann, nicht zuletzt weil die Preisträger von Juden vorgeschlagen werden, die ein Bewusstsein für das ganze Ausmaß der Schrecken der Hitlerzeit haben. Die Preisträger sind hervorragende Beispiele dafür, wie Deutschland sich mit seiner Vergangenheit auseinandergesetzt hat…“

Manfred Kluge (2. v. l.) und Helmut Urbschat (3. v. l.) in der Runde der Preisträger, in der Mitte Walter Momper, Präsident des Berliner Abgeordnetenhauses, rechts daneben Preisstifter Arthur Obermayer (Pressefoto)

Die Erforschung der jüdischen Geschichte Vlothos kam 2013 mit der überarbeiteten und erweiterten Neuauflage von SIE WAREN BÜRGER UNSERER STADT – Beiträge zur Geschichte der Juden in Vlotho zu einem gewissen Abschluss. Auf der Grundlage dieses Buches wurde dieser Artikel erstellt.

Literatur:[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Manfred Kluge (Hg.): SIE WAREN BÜRGER UNSERER STADT, Beiträge zur Geschichte der Juden in Vlotho, 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, Löhne 2013, ISBN 978-3-943569-04-9
  • Manfred Kluge (Hg.): Gedenkbuch für die Vlothoer Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung, Vlotho 2008
  • Manfred Kluge (Hg.): Das Schicksal der jüdischen Familie Loeb – dokumentiert in Briefen und Selbstzeugnissen, Bielefeld 2003, ISBN 3-89534-530-X
  • Juden in Handel und Wandel der Weserstadt Vlotho, Begleitbuch zur Ausstellung „SIE WAREN BÜRGER UNSERER STADT“, bearb. von Manfred Kluge, Vlotho 2001
  • Heinrich Harland: Geschichte der Herrschaft und Stadt Vlotho nebst Chronik der Schule daselbst, Vlotho 1888
  • Karl Großmann: Geschichte der Stadt Vlotho, Vlotho 1971
  • Elfi Pracht: Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen, Teil III, Regierungsbezirk Detmold, Köln 1998, ISBN 3-7616-1397-0

Weitere Quellen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Stadtarchiv Vlotho
  • Landesarchiv NRW, Abt. Ostwestfalen-Lippe (LAV OWL)
  • Mendel-Grundmann-Gesellschaft e.V., Vlotho (MGG-Archiv)