Benutzer:Kopilot/Mordfall Walter Lübcke

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Nach der Festnahme des rechtsextremen Tatverdächtigen verglichen Journalisten den Mord an Lübcke mit der Mordserie des NSU (2000–2007), dem Attentat auf Henriette Reker (2015) und dem Anschlag auf Andreas Hollstein (2017). Annette Ramelsberger (Süddeutsche Zeitung) sprach von einer „braunen RAF“, die nicht straff organisiert sei, aber zuschlage, wo immer möglich. Eine laute, menschenverachtende Sympathisantenszene unterstütze solche Taten. Ihr Hass sickere „vom Rand in die Mitte der Gesellschaft“, auch in die Polizei. Wegen ihrer langen Duldung der Ausschreitungen in Chemnitz 2018 und der mit „NSU 2.0“ unterzeichneten Drohbriefe von Polizisten sähen rechtsextreme Gewalttäter sie kaum als Gegner, sondern als mögliche Verbündete gegen Linke.

Toralf Staud (Deutschlandfunk) forderte von den Sicherheitsbehörden ein genaueres Bild vom Rechtsterrorismus. Ein unabhängiger Einzeltäter oder eine Zweiergruppe hätten Lübcke wohl nach dem Konzept „führerloser Widerstand“ ermordet, wie beim NSU ohne Bekennerschreiben, um politische Gegner zu verunsichern.

Nils Markwardt (Republik.ch) widersprach Seehofer: Lübckes hinrichtungsartige, offenbar geplante Ermordung bedeute keine „neue Qualität“ im bundesdeutschen Rechtsextremismus. Dessen „blutige Spur“ (laut Daniel Köhler 229 Morde, 12 Entführungen, 174 bewaffnete Überfälle, 123 Sprengstoff­anschläge sowie 2173 Brand­anschläge seit 1971) werde nur allzu oft verdrängt. Paradoxerweise hätten gerade Rechts­extreme die Strategie des „führerlosen Widerstands“ kultiviert. Ob und wie genau Lübckes Mörder dem folgte, sei noch zu ermitteln. In jedem Fall diene seine Tat der schleichenden Chaotisierung der Verhältnisse mit dem Ziel eines (Bürger-)Krieges. Dieser sei der Kern neonazistischer Ideologie, die fast ausschließlich über die ständige Produktion von Feindbildern funktioniere und den Mangel an Theorie mit dem „Zwang zur paramilitärischen Dauermobilisierung“ ausgleiche. Schon Theodor W. Adorno habe 1967 einen Drang zum Weltuntergang in der rechtsextremen Ideologie festgestellt, die den Bürgerkrieg als Mittel zum Herbeiführen eines apokalyptischen Rassenkrieges ersehne. Diese Wahnidee habe die AfD mit an ihr Publikum adressierten Codeworten wie „Umvolkung“ und „Widerstand“ längst in den Gesellschaftsdiskurs eingeschleust. Darum habe der Tatverdächtige nicht zufällig mit dem Gruß „Gott segne euch“ an sie gespendet. Adorno habe auch erkannt, dass rechte Propaganda mit relativ wenigen, intellektuell armen, aber ständig wiederholten „Tricks“ arbeite. Die hetzerischen Tricks der „Social-Media-Dauer­beschallung“ der AfD seien selektives ressentiment­geladenes Aufgreifen von Nachrichten zur Stigmatisierung von Muslimen und Flüchtlingen, kalkulierte rhetorische Tabubrüche, das Gleichsetzen aller „Altparteien“, die Rede vom „Merkel-System“, die Verrohung der Sprache und das permanente Beklagen der vermeintlichen Opferrolle.

Christian Bangel (Die Zeit) befürchtete, der Mord werde Engagierte einschüchtern. Vorboten seien eine weit verbreitete „verbale Ehrabschneidung“ und ein geschlossenes Hass-System bei Facebook sowie der Traum vom „Tag der Abrechnung“ mit Demokraten. Statt weiter Rassismus zu verniedlichen und angebliche linke diskursive Vormacht zu betonen, müsse „ein Gefühl der Dringlichkeit im Kampf gegen die Rechtsextremen und ihrem rechtspopulistischen Vorfeld eintreten“, das nicht wieder beim nächsten Skandal um Geflüchtete enden dürfe.

Sascha Lobo (Der Spiegel) sah den Mord als Werk „brauner Schläfer“: Längst gewaltbereite Rechtsextreme erhielten einen Handlungsimpuls aus der rechten Gegenöffentlichkeit im Internet. Oft kündigten sie die Tat dort wie Stephan Ernst einige Monate vorher an. Erika Steinbachs Tweet mit dem undatierten Lübcke-Video könne als „Markierung“ des Opfers gewirkt haben. Björn Höckes Aussagen von 2018, die Zeit des Redens sei vorbei, nötig sei nun „Kampfesmut“ gegen die „Vaterlandsverräter“, könne den AfD-Spender Ernst zum Mord ermutigt haben. Das Schweigen von Politik, Behörden und Zivilgesellschaft deuteten solche Täter als Zustimmung dazu, den wahren „Willen des Volkes“ umzusetzen. Daran trügen „verharmlosende Ignoranz bürgerlicher Politiker“ und „verbale Gewalttätigkeit gesellschaftlicher Debatten“ eine Mitschuld, etwa Horst Seehofers Aussage von 2011: „Wir werden uns gegen Zuwanderung in deutsche Sozialsysteme wehren – bis zur letzten Patrone.“ Eine dieser Patronen könne Lübcke getroffen haben.

Ähnlich nannte auch Benjamin Konietzny (n-tv) die AfD-Strategie, „die Grenzen des Sagbaren immer weiter auszudehnen“ und Feindbilder wie Lübcke zu pflegen, als Mitursache des Mordes. Die AfD habe ein Gewaltproblem, das sich immer wieder in der Sprache ihrer Vertreter und Anhänger zeige. AfD-Politiker rechtfertigten diese entweder mit der Wut des „Volkes“ oder stellten sie als Ausnahmen dar. Beides sei angesichts des Mordes an Lübcke unwahr. Weil die AfD-Führung sich dem Problem nicht stelle, treffe sie der Vorwurf der Heuchelei.

Martin Krauß (Jüdische Allgemeine) fragte zur Forderung von Altbundespräsident Joachim Gauck nach einer „erweiterten Toleranz nach rechts“ (15. Juni 2019): „Ist nicht die fehlende Strafverfolgung derer, die einen Mord bejubeln, bereits ‚Toleranz nach rechts‘?“

Bettina Gaus (taz) kritisierte, dass die Regierung ihrer Ansicht nach den Mord als unvorhersehbares Ereignis behandle und mit der Forderung nach mehr Geld für Polizei und Verfassungsschutz reagiere. Schon früh seien rechtsextreme Täter wahrscheinlich geworden. Belastbare Informationen zu deren Umfeld hätten aber vor allem NGOs wie die Amadeu Antonio Stiftung gesammelt, die viel weniger Mittel dazu hätten als Staatsbehörden.

Am 25. Juni sagte Martin Hohmann (AfD) im Bundestag, ohne den von der Bundeskanzlerin Angela Merkel zu verantwortenden „Massenzustrom an Migranten würde Walter Lübcke noch leben“. Dazu meinte Christian Stöcker (Spiegel), nach dieser verqueren Logik wären nicht Mörder und ihre Unterstützer, sondern entfernte politische Entscheider für solche Morde verantwortlich – so etwa Konrad Adenauer (als Anwerber türkischer „Gastarbeiter“) für die des NSU. Damit mache sich die AfD „ständig genau der verbalen und nonverbalen Aggression und Hetze schuldig, mit der Leute wie der geständige Mörder Walter Lübckes voll und ganz einverstanden sind.“

Georg Mascolo (SZ) betonte, die Ermittlungen müssten umfassende Fragen zum Täterumfeld beantworten: „wieso ihn niemand stoppte, warum niemandem auffiel, dass ein vielfach vorbestrafter Rechtsextremist mit ausgeprägter Neigung zur Gewalt im Internet drohen und bedrohen konnte, ohne dass jemand einschritt. Er verwies auf die selbst nach dem Mord fortgesetzten Hasskommentare unter dem Lohfelden-Video. Die Justiz habe solche Straftaten im Netz jahrelang vernachlässigt. Zudem hätten die Internetkonzerne viel zu lange keine Verantwortung für die Inhalte ihrer Plattformen übernommen. Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz sei auch von Gegnern rechter Parolen als Zensurgesetz abgelehnt worden. Die deutsche Justiz sehe nicht einmal in gezeigten Galgen für Politiker und direkten Mordaufrufen eine konkrete Bedrohung, solange Angaben zu Tatort und Tatzeitpunkt fehlten. Das Gefahrenpotential von Hassposts müsse neu eingestuft werden, da sie räumlich und zeitlich weit entfernte Folgen haben könnten. Dagegen seien die bestehenden Gesetze ab sofort konsequent und rasch anzuwenden.

Claudius Seidl (FAZ) erinnerte daran, dass politische Morde oder Mordversuche erst im historischen Rückblick als Heldentat oder Terrorakt beurteilt werden. Im Moment der Tat könne der Täter sich nur auf eine „höhere Moral“ und „paranoide Vernunft“ berufen und diese über geltende Gesetze stellen. Im Fall Lübckes habe der „Bürgerlichkeitsdarsteller“ Alexander Gauland (AfD) diese paranoide Tatlegitimation geliefert: Er habe Angela Merkel als „Kanzler-Diktatorin“ bezeichnet und ihre Politik als „Versuch, das deutsche Volk allmählich zu ersetzen“ durch Migranten aus aller Welt. Das habe der Täter nur als Aufforderung zum „Widerstand“ verstehen können.

Laut der Journalistin Andrea Röpke könnte der Mord an Lübcke „ein Dammbruch für die Szene“ sein. „Wir haben wirklich 50 Straftaten von rechts statistisch gesehen am Tag in Deutschland und so wenig Auseinandersetzungen damit, so wenig Aufklärung, so wenig Sensibilität gegenüber diesem Thema.“

Margarete Stokowski (Spiegel) kritisiert die Sprache von Politikern und Medien im Umgang mit dem Mord. Die Aussage, Lübcke habe wegen seines Einsatzes für die Rechte von Geflüchteten sterben müssen, lege ein typisches falsches Denkmuster offen: Denn Lübcke sei nicht an seinen politischen Ansichten, sondern durch die Waffe eines Rechtsextremen gestorben. Diese Formulierungen stünden in einer deutschen Tradition, Hass auszublenden und Trauer über die vielen Opfer rechtsextremer Gewalt in Deutschland nicht zuzulassen. So würden Fernsehsender lieber AfD-Politiker in Talkrunden einladen als seit langem von Rechtsextremen bedrohte Menschen. Diese wertvolle Sendezeit sollten besser jene erhalten, die hierzulande täglich unter Rassismus und Rechtsextremismus litten. Die Medien sollten besser berichten, wie sie die „NSU-2.0“-Drohbriefe von Polizisten an eine türkischstämmige Anwältin, die Nichtfreigabe der NSU-Akten, die Bestellung von Leichensäcken durch Mitglieder der rechtsextremen Gruppe Nordkreuz, Aussagen von Maaßen erleben. Menschenfeindliche Äußerungen von Rechtspopulisten und Rechtsextremen in Deutschland seien nicht neu, sondern schon lange „sagbar“, aber nicht beachtet worden. Den Betroffenen zuzuhören, könne das sichtbar machen.