Benutzer:Lastsecondasusual/Herkunft(Stanišić)

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Herkunft (Saša Stanišić)[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Autor Saša Stanišić

“Herkunft“ ist ein autobiografisch geprägter Roman von Saša Stanišić. Publiziert im Jahr 2019, gewann das Werk den deutschen Buchpreis für das Jahr 2019. Der Text beschreibt den Werdegang von Stanišić und seiner Flucht aus dem auseinanderbrechenden Jugoslawien. Zudem schildert, eingebunden in Familiengeschichten, seine Herkunft. Mit dem Drachenhort, einem in “choose your own adventure”-Stil geschriebenen Exkurs, gibt Saša Stanišićs Roman eine uncharakteristische Wendung. Dies mit vollem Fokus auf dem im Text omnipräsenten Motiv – dem Drachen.

Inhalt[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Handlung:[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

“Herkunft” von Saša Stanišić ist eine Erzählung im autobiografischen Stil, die gegen Ende klar ins Erfundene übergeht. Der Text ist nicht chronologisch aufgebaut, sondern weist mehrere Zeitstränge auf. Teilweise beschreibt er Anekdoten, die nicht zur Stringenz der Handlung beitragen, wohl um die Figuren umfassender zu charakterisieren. Stanišić erzählt von seiner Flucht aus Jugoslawien nach Deutschland und legt seine Erfahrungen als Ausländer in Deutschland und seine Auffassung von Herkunft dar.

Stanišić schildert seine Kindheit in Jugoslawien sowie seine Flucht nach Deutschland mit seiner Mutter aufgrund ihres bosniakisch-muslimischen Hintergrunds. Der Vater verweilt vorübergehend in Višegrad und reist später auch nach Deutschland zu Saša und seiner Mutter in den Emmertsgrund, Heidelberg. Die Grosseltern bleiben in Višegrad. Die Verwandtschaft steht sich sehr nahe und die Aufteilung auf verschiedene Orte bereitet der Familie Mühe.

Im Emmertsgrund leben viele Ausländer mit heterogenen Hintergründen. Ihr  Versammlungsort ist die ARAL-Tankstelle, wo der hauptsächliche Austausch und die soziale Interaktion stattfindet. Stanišić besucht zuerst eine Integrationsklasse, wechselt aber, weil er leicht und schnell Deutsch lernt, bald in eine Regelklasse. Sein Deutschlehrer unterstützt ihn aktiv dabei, die Sprache zu lernen und ermöglicht ihm erste Erfahrungen mit Literatur.

Um zu studieren, zieht Stanišić in die Weststadt von Heidelberg in eine WG. Er studiert Deutsch und Slawistik. Stanišićs Eltern müssen Deutschland verlassen und ziehen in die USA und später nach Kroatien.

Seine Grossmutter Kristina nimmt ihn eines Tages mit nach Oskoruša, wo sie und zahlreiche andere Stanišićs aufgewachsen sind. Sie stellt ihm Gavrilo, einem Verwandten, vor und zeigt ihm so einen Teil seiner Familiengeschichte. Später, als Stanišić erfährt, dass es seiner Grossmutter nicht gut geht, reist er nach Višegrad, um sie zu besuchen. Kristina erkrankt an Demenz und verliert nach und nach den Überblick und die Klarheit, bis sie im Altenheim landet, was ihr widerstrebt.

Am Ende des Textes kann der*die Leser*in selbst entscheiden, wie die Endung genau aussehen soll. Bei den meisten Möglichkeiten flieht die Grossmutter aus dem Altenheim und macht sich mit Saša auf den Weg nach Oskoruša, um Pero zu suchen, der gemäss Kristina zu den Feuerfelsen ging und seitdem spurlos verschwunden ist.

Aus Prolepsen erfährt der*die Leser*in, dass Sasa Stanisic heute mit seinem dreijährigen Sohn in Hamburg lebt und als Autor arbeitet. Teilweise weist der Text poetologische Intermezzi auf, in denen Stanišić seinen Schreibprozess schildert.

Figuren:[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Protagonist in diesem Roman ist Saša Stanišić. Er steht als Icherzähler im Mittelpunkt der Geschehnisse. Die weiteren wichtigsten Personen sind seine Grossmutter Kristina Stanišić (väterlicherseits), sein Grossvater Petar (oft Pero genannt) Stanišić (väterlicherseits), sein Vater Dragan Stanišić und seine Mutter (Name unbekannt) sowie sein Verwandter Gavrilo, der in Višegrad lebt.

Weitere Figuren, die im Text vorkommen (eine Auswahl):[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Andrej (Dorfpolizist in Oskoruša)
  • Grossvater Muhamed (mütterlicherseits)
  • Grossmutter Mejrema, von Saša “Nena” genannt (mütterlicherseits)
  • Miroslav “Miki” Stanišić (Verwandter, verstorben 2009, Domino Rekordmeister)
  • Rahim (Sašas bester Freund im Emmertsgrund)
  • Urgrossvater Bogosav Stanišić (Vater von Petar Stanišić)
  • Urgrossmutter Rumša
  • Urgrossvater Suljo (Vater von Mejrema)
  • Huso (ein arbeitsloser Säufer von Višegrad)
  • Josip Broz Tito (ehemaliger jugoslawischer Präsident)
  • Rike (erste Freundin von Saša)
  • Tante Lula (Schwester von Sašas Mutter)
  • Sretoje Stanišić (Bruder von Gavrilo)
  • Stevo (“Chauffeur” von Kristina)

Charakterisierung:[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Im Allgemeinen werden die Figuren oft indirekt charakterisiert. Der*Die Leser*in lernt die Figuren aufgrund von Geschehnissen und Handlungen kennen. Diese sind oft als alltägliche Anekdoten (evtl. erfunden/nicht realitätsgetreu) formuliert. Zudem wird die direkte Rede in Form von abgedruckten Chatverläufen verwendet, um einen objektiven Einblick in Eigenschaften wie die Sprache und in das reale Verhalten der Figuren zu erhalten.

Saša Stanišić:[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Saša Stanišić ist die Hauptfigur und zudem die Erzählinstanz des Romans. Er ist am 07.03.1978 in Višegrad, Bosnien und Herzegowina (damals Jugoslawien), in einer stürmischen Regennacht geboren. Saša ist religionslos aufgewachsen und scheint dies nicht zu bereuen. Zudem ist Saša ein Einzelkind. Seine Interessen als Kind waren vor allem der Fussball, wobei er nicht herausragend gut war. Vielmehr erzählt er von seinem Lieblingsklub Roter Stern Belgrad. In seiner Kindheit besuchte er oft Spiele dieses Clubs mit seinem Vater, was die beiden nahe brachte. Zudem liebte er Bücher des Genres: “choose your own adventure”. Allgemein las er bereits in seinen Kinderjahren viel. Bis zum Ausbruch des Krieges und der Flucht hatte Saša eine fröhliche und schöne Kindheit. Mit der Flucht und der neuen Heimat in Deutschland wurde das Verhältnis zu seinen Eltern etwas komplizierter. Erst in Deutschland versuchte sich Saša selbstständig als Autor. Er fing an, kleine Gedichte zu schreiben, und wurde vom Lehrer ermutigt, diesem Hobby weiterhin auf Deutsch nachzugehen. Gegen Ende des Romans erwähnt Saša seinen dreijährigen Sohn, mit dessen Kindheit er oft seine eigene reflektiert. Die Mutter des Kindes wird im Text nicht angesprochen. In der Diegese kann Saša als ehrlich charakterisiert werden. Auch wenn er (als Erzählinstanz sowie als Figur) ab und zu ein wenig dazuerfindet, ist sein Herz am rechten Fleck und Gerechtigkeit scheint ihm wichtig zu sein. Saša erweckt zudem den Eindruck, ein liebevoller (z. B. im Umgang mit seiner Grossmutter Kristina) und offener Mensch zu sein. Letzteres, da er sich auf der Suche nach seiner Herkunft ohne Vorurteile auf alles einlässt, das ihn seinem Ziel näher bringen könnte. Saša ist verspielt und mag das Fantastische. Diese Vorliebe für das Fantastische und Übernatürliche zieht sich durch den gesamten Text und ist deutlich im Abschnitt Drachenhort zu erkennen. Es scheint, als ob die Welt und die Realität für Saša manchmal nicht interessant genug sind oder Geschehnisse nicht ein genügend befriedigendes Ende und Verlauf für Saša haben. So dichtet sich Saša, um diese Mängel des Lebens zu verbessern, eine eigene Realität.

Mutter:[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Name von Sašas Mutter wird im Roman nicht preisgegeben. Ihr bosnisch-muslimischer Vater Muhamed war Eisenbahner. Durch die Freude der täglichen Wiederkehr ihres Vaters nach der Arbeit assoziiert sie das Reisen bis heute mit Freude. Ihre Familie war eher arm, sie hatte aber eine gute Kindheit. Sie hat Politikwissenschaften mit Schwerpunkt Marxismus in Sarajevo studiert. Diese schloss sie 1980 mit knapp den besten Abschlussnoten ab, was beeindruckend ist aufgrund der damaligen Benachteiligung der Frauen. Später wurde sie Marxismus-Dozentin. Von Saša wird sie als ehrgeizige und interessierte selbstständige Frau beschrieben. Zudem war ihr Umgang mit Saša selbstlos und lieb, wie der Erzähler mit den Worten “Mutter war erst für mich da, dann für andere, dann für sich” (S. 121, Z. 3-4) erklärt. Sie ist eine intelligente und rational denkende Frau.

Kristina Stanišić:[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Kristina Stanišić ist Sašas Grossmutter väterlicherseits. Im Text lernen wir zwei unterschiedliche Versionen von ihr kennen. Im Alter leidet sie zunehmend an Demenz (S. 247-250). Aufgrund ihrer Demenz erwartet sie die Rückkehr ihres mittlerweile verstorbenen Ehemannes Petar Stanišić von Oskoruša immer noch (S. 263). Kristina ist eine vielfältige Figur. Sie wusste immer, was Saša fehlte und hatte die Lösung auch gleich parat. War Saša kalt, reichte sie ihm ein Jäckchen, ohne dass er etwas sagen oder tun musste. So scheint sie also liebevoll, einfühlsam, pragmatisch sowie phlegmatisch. Andererseits war sie gemäss Saša bei der Mafia (S. 7). Auch die Schulbank drückte sie nie (S. 25).

Petar Stanišić:[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Petar “Pero” Stanišić ist Sašas Grossvater väterlicherseits, der Ehemann von Kristina Stanišić und am 14.10.1923 in Oskoruša geboren (S. 107). Er ist freundlich und offen zu allen und geht gerne angeln – beruflich war er Landwirt (S. 11, 108). Im Text erfahren wir, dass er Kommunist, somit Anhänger des Sozialismus sowie der einzige Gläubige in der Familie ist (S. 108). Aus seiner Sicht sei die Kirche der grösste Sündenfall der Menschen (S. 8). Petar gehörte vom 12.02.1945 bis 18.01.1946 der Jugoslawischen Armee (JA) an (S. 108). Gestorben ist er 1986 in Višegrad vor dem Fernseher (S. 19).

Gavrilo Stanišić:[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Gavrilo ist ein Verwandter von Saša, Schweinezüchter und Jäger (S. 26, 30). Er lebt noch mit seiner Frau Marija in Oskoruša und empfängt Kristina und Saša herzlich und kümmert sich fürsorglich um sie. Er trägt eine Narbe (S. 37). Gavrilo hat eine Tochter, die studiert hat, und einen Bruder namens Sretoje, der “[...] die Drachen füttern [...]” ist (S. 46).

"Herkunft", Luchterhand Literaturverlag, München, 2019, 9. Auflage

Form[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

“Herkunft” ist ein autobiografisch geprägter Roman. Der letzte Teil des Texts besteht aus einem “Choose your own adventure”-Teil. Der Roman hat verschiedene Enden, dieser Teil ist offensichtlich fiktional und hinterfragt somit auch die Glaubwürdigkeit des restlichen Textes. Stanišić erzählt von seinem Leben, wobei manche Szenen unrealistisch erscheinen und im Verlauf des Romans teilweise auch als erfunden identifiziert werden.

Der Text ist nicht chronologisch aufgebaut und verfügt über verschiedene, ineinander verwobene Handlungsstränge. Manche Szenen tragen nicht direkt zu einem Handlungstrang bei, sondern dienen dazu, Figuren aufgrund ihres alltäglichen Verhaltens zu charakterisieren.

Saša Stanišić hat einen leicht lesbaren Stil mit zahlreichen Passagen in der direkten Rede. Seine Wortwahl ist adäquat und er verfügt über einen umfangreichen Wortschatz. Er verwendet die Sprache dazu, die Gedankengänge der verschiedenen Figuren zu verdeutlichen. So wird beispielsweise die Demenz der Grossmutter mithilfe von bruchstückhaften und wirren Passagen illustriert.

Narratologie[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Text ist in der Ich-Perspektive verfasst. Dabei kann zur meisten Zeit davon ausgegangen werden, dass der Text eine autodiegetische Erzählinstanz aufweist. Der Grund dafür sind die autobiographischen Eigenschaften des Textes.

Da der Roman zudem frei erfundene Passagen enthält, verschiebt sich der Erzählmodus dort ins homodiegetische. Der Leser muss sich im Klaren darüber sein, dass der Text keine tatsächliche Autobiographie ist. Dass der Text erfundene oder wenigstens nicht wahrheitsgetreue Passagen enthält, wird in der Diegese selbst aufgefasst. Die Grossmutter erklärt dem Jungen Saša, der Erzählinstanz, dass er zwar nie täuschte und log, aber dennoch immer übertreibt und erfindet. Weiter unten bekräftigt sie diese Aussage noch, indem sie sagt dass die Erzählinstanz heute sogar ihr Geld mit dem Erfinden und Übertreiben verdient. Dies zeigt die Tendenz, dass die Erzählinstanz gerne erfindet. Dazu kommen verschiedene Stellen im Text, die aufzeigen, dass wohl auch in diesem Text Elemente erfunden und übertrieben sind. Beispielsweise erzählt uns der Erzähler zuerst aus der autodiegetischen Perspektive, wie sein Vater eine Schlange getötet hat. Später im Text vergewissert ihm jedoch sein Vater, dass er dies nie tun würde, da er Angst vor Schlangen habe. Der Vater zieht daraufhin in Erwägung, dass die Erzählinstanz sich dies bloss ausgedacht hat. Das zeigt auf, dass der autodiegetischen Erzählinstanz nicht immer Glauben geschenkt werden kann und die effektive Wahrheit hinter dem Erzählten und somit die Erzählinstanz folglich stets hinterfragt werden muss.

Abweichungen von der Ich-Perspektive werden gezielt verwendet um den*die Leser*in persönlich anzusprechen. Es wird teilweise abrupt in die 2. Person Singular gewechselt, um die Erfahrungen und Gefühle des Protagonisten deutlicher hervorzuheben. (z.B S. 134- 137)

Zudem ist dieser Wechsel zur 2. Person Singular im letzten Teil des Romans, dem Drachenhort, angewendet. In diesem “Choose your own adventure” -Teil des Textes ist diese Änderung gezielt gewählt, um die lesende Person effektiv in die Geschichte zu integrieren. Nebst der Inhaltlichen Komponente der Entscheidungen, die der*die Leser*in treffen darf/muss wird sie so in das Abenteuer Integriert.

"Herkunft", Luchterhand Literaturverlag, München, 2019 9. Auflage

Ehrungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Saša Stanišic gewann mit dem Roman „Herkunft“ verschiedenste Literaturpreise. Der wohl renommierteste Preis den der Roman “Herkunft” gewonnen hat, ist der Deutsche Buchpreis 2019.

Der Roman erhielt unter anderem folgende Ehrungen:[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
  • Eichendorff-Literaturpreis
  • Hamburger „Buch des Jahres“ 2019
  • Usedomer Literaturpreis 2020
  • Hans-Fallada-Preis der Stadt Neumünster 2020
  • Deutscher Buchpreis 2019
Folgendermassen wurden die Ehrungen begründet:[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

„Saša Stanišić ist ein so guter Erzähler, dass er sogar dem Erzählen misstraut. Unter jedem Satz dieses Romans wartet die unverfügbare Herkunft, die gleichzeitig der Antrieb des Erzählens ist. Verfügbar wird sie nur als Fragment, als Fiktion und als Spiel mit den Möglichkeiten der Geschichte. Der Autor adelt die Leser mit seiner großen Phantasie und entlässt sie aus den Konventionen der Chronologie, des Realismus und der formalen Eindeutigkeit. “Das Zögern hat noch nie eine gute Geschichte erzählt”, lässt er seine Ich-Figur sagen. Mit viel Witz setzt er den Narrativen der Geschichtsklitterer seine eigenen Geschichten entgegen. “Herkunft” zeichnet das Bild einer Gegenwart, die sich immer wieder neu erzählt. Ein “Selbstporträt mit Ahnen” wird so zum Roman eines Europas der Lebenswege.“

- Jury Deutscher Buchpreis 2019[1]

“Der Autor schickt in seinem autofiktionalen Text den Ich-Erzähler auf Expeditionen in den Erinnerungsschatz seiner Familie, der sich über drei Generationen hinweg bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs erstreckt. [...] Dies alles geschieht in einer offenen, wunderbar geschmeidigen Erzählform und einem spielerischen Sprachgestus, der die bitteren Momente migrantischer Erfahrung zärtlich und ohne billigen Trost aufbewahrt.”

- Jury Hans-Fallada-Preis der Stadt NeumünsterReferenzfehler: Ungültige <ref>-Verwendung: „ref“ ohne Inhalt muss einen Namen haben.

Rezeptionen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Roman “Herkunft” wurde von Literaturkritiker überaus positiv bewertet. Negative Kritiken am Roman gab es nur einzeln und meistens einzig zu seiner Einbringung politischer Meinung, jedoch selbst diese Kritiker lassen dies im Kontext zum Rest des Textes verblassen.

Positiv dotierte Kritik:[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

“Liest man ‘Herkunft’, mag man kaum glauben, dass Stanišić erst im Alter von 14 Jahren Deutsch gelernt hat, so funkelnd, farbig und brillant ist seine Sprache. Er setzt sie souverän ein und spielt mit ihr wie auch mit seinen Lesern.[...] Eine Freude ist es außerdem, dem Autor in seinen zahlreichen Volten und Hakenschlägen zu folgen; Stanišić erzählt nicht linear, sondern springt munter zwischen den verschiedenen Zeitebenen hin und her. Fast schon eine Poetologie seines bisherigen Schreibens liefert er mit den Worten: „Ich werde einige Male ansetzen und einige Enden finden, ich kenne mich doch. Ohne Abschweifung wären meine Geschichten überhaupt nicht meine. Die Abschweifung ist Modus meines Schreibens.“

- Stefan Jäger, Variablen der Sehnsucht, Literaturkritik.de

„Herkunft“ verbindet verschiedene Stränge in einer fragmentarischen, kreisenden, chronologisch sprunghaften Erzählbewegung: die Familiengeschichte, die Rekonstruktion des untergegangenen Vielvölkerstaats Jugoslawien, der nicht nur in der Kinderperspektive mit den traumatischen Bildern von Krieg und Völkermord kontrastiert; schließlich die Erinnerung an die Ankunft in Deutschland, den migrantischen Bildungsroman, der aus den kalten frühen 90ern bis in die Gegenwart führt: Europaweit kehrt ein Denken in Kategorien von Eigenem und Fremdem wieder, das fatal an die Tragödie auf dem Balkan erinnert. Dass ein Buch wichtig sei, sagt sich leicht, dieses ist, gerade heute, gerade hier, von großer Bedeutung.”

- Richard Kämmerlings, Warum das Schicksal Jugoslawiens uns eine Warnung sein sollte, Welt.de

“[...]Denn erstens ist Saša Stanišić ein Autor, der auch über ein Stück Käse oder das Leben einer Maus oder Verkehrspolitik so präzise, poetisch, politisch und persönlich schreiben könnte, dass man es unbedingt und gerne freiwillig lesen möchte. Zweitens geht es ihm in der Beschreibung seiner Herkunftswelt genau darum: die Fesseln lösen, um sich und andere zu befreien. Sie in Geschichten verwandeln, sodass sie sich in lebendige Erinnerung auflösen und nicht mehr zum Über-den-Kopf-Ziehen von irgendwem verwendet werden können. Ein Superbuch.

- Volker Wiedermann, Ein Superbuch!” (Spiegel Kultur)

Negativ dotierte Kritik:[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

“Ein ganz klein wenig getrübt wird die Lesefreude einzig durch die zuweilen etwas unvermittelt eingeschobenen Sätze, in denen Stanišić die gesellschaftspolitischen Entwicklungen der Gegenwart kommentiert.[...]”

- Stefan Jäger, Variablen der Sehnsucht, Literaturkritik.de

Interpretationsansätze[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Cover von "Herkunft"

Natürlich gibt es wie in jedem literarischen Werk verschiedene Deutungsansätze. Hier wird lediglich ein solcher vorgestellt, dies ist jedoch aufgrund der Natur von Interpretationen pur spekulativ.

Bereits auf dem Cover ist die grundlegende Hauptmotivik des Romans auf den ersten Blick, zu erkennen. Sie handelt von Drachen (nebst dem Drachen auf dem Cover ist dies unschwer ersichtlich, z.B. weil ein ganzer Abschnitt des Textes Drachenhort heisst.)

Die Verbindung zwischen der Familie Stanišić und den Drachen:[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die erste Erwähnung von Drachen im Text (S. 31) zeigt auf, dass die Leute in Oskoruša (mehrheitlich des Geschlechts Stanišić) sich schon seit Längerem mit Drachen auseinandersetzen. Daraus kann interpretiert werden, dass Drachen und die Familie Stanišić eine spezielle Verbindung haben, so sind diese beispielsweise auch in ihren Häusern als Statuen oder Bilder präsent. Weiter wird auf Seite 53 diese enge Verbindung zwischen den Stanišićs und den Drachen aufgezeigt und verdeutlicht: Gavrilo erzählt Saša Stanišić die Geschichte von seinen Ahnen. Drei Brüder kommen von Montenegro nach Oskoruša, wobei einer der Brüder sich in einen Drachen verwandelt und vorausfliegt, um den Weg auszukundschaften. Dies ist in der chronologischen Abhandlung der Diegese das erste Mal, dass Drachen vorkommen. Das Märchen symbolisiert somit den Anfang der Familiengeschichte der Stanišićs in Oskoruša.

Weitere prävalente Motive, die auch mit Drachen in Verbindung stehen, sind der Gipfel Vijarac und die darunterliegenden Feuerfelsen. Diese erscheinen oft im direkten Zusammenhang mit Drachen (z.B. S. 46, Z. 6-7: “[...] wurde Gavrilo ernst und deutete ins Gebirge: ’Sretoje ist die Drachen füttern…’“). Zudem wird die Verbindung zwischen den Feuerfelsen und den Drachen im Drachenhort deutlich. Als Saša und seine Grossmutter seinen Grossvater Pero in der Nähe des Gipfels Vijarac suchen, betreten sie bei den Feuerfelsen eine Höhle. Dort treffen sie auf zahlreiche Drachen (S. 349). Die Höhle befindet sich in unmittelbarer Nähe von Oskoruša, dem Heimatort der Stanišićs.

Als somit die Brüder aus Gavrilos Erzählung, einer davon als Drache, nach Oskoruša kommen, siedeln sich nicht nur die menschlichen Brüder in Oskoruša an, sondern mit dem Drachen-Bruder auch die Drachen in unmittelbarer Nähe – beim Gipfel Vijarac, in den Feuerfelsen.

Nach dieser Interpretation stehen die Drachen als Allegorie für den Zusammenhalt der Familie. Man kann unter Berücksichtigung dieser parallelen Ansiedlung der Stanišićs und der Drachen im selben Dorf, sagen, dass Oskoruša das Epizentrum der Familie Stanišić darstellt. Die These, Oskoruša als Zentrums der Familie Stanišićs, ist mit Bezug auf die Diegese kontig. Als Saša nämlich den Friedhof besucht, stellt er fest, dass fast ausschliesslich Stanišićs in Oskoruša gelebt haben.

Zudem wird im Text darauf verwiesen, dass Sretoje die Drachen füttern geht. Dies könnte hier bedeuten, dass die Stanišićs die Drachen in irgendeiner Weise am Leben halten und pflegen. Im übertragenen Sinn sind die Stanišićs (oder zumindest ein Teil davon) darum bemüht, den Familienzusammenhalt weiterhin aufrecht zu erhalten.

Als die Saša bei Gavrilo in Oskoruša war, sah er ein Wandbild (S. 49-50). Darauf kämpft ein Reiter gegen einen Drachen, der zu verlieren scheint. Die Bilder fangen sich für den betrunkenen Saša zu bewegen an, immer mehr Blut tropft aus dem Hals des Drachens. Zudem bemerkt er, dass die Augen des Reiters dasselbe Braun aufweisen wie die Augen aller Stanišićs. (“Die Augen des heiligen Reiters waren vom Braun aller hier. Von meinem Braun. Er ist die Bestie, dachte ich, er.”  (S. 50, Z. 19-21)) Saša ist sich also sicher, dass er ebenfalls ein Stanišić sein muss. Marija, die Frau von Gavrilo, erklärt Saša, dass der Ritter der “Drachentöter” sei. Hierbei ist aber nicht klar, worauf sich “die Bestie” bezieht. Einfacher scheint es, dass Saša den Drachen mit seinem fürchterlichen Auftreten und Aussehen als “die Bestie” bezeichnen würde. Bei genauerem Lesen erweist sich allerdings das Gegenteil als plausibler. Saša sieht den Ritter als Bestie. Als Marija fragt, ob er mehr Essen wolle, sieht die er dies als Aufforderung, mehr zu sehen und zu interpretieren. “Meinte sie den Reiter und den Drachen? Und dass ich - wenn ich wollte - in allem mehr sehen durfte als das, was vordergründig zu sehen war. Das wollte ich ja!” (S. 50, Z. 12-14) Nach dieser Aussage erwähnt der Erzähler nochmals die groben Gipfel des Vijarac. Dies ist eine Aufforderung, weiter zu interpretieren und die Geschichte nicht so hinzunehmen, wie sie präsentiert wird. Dies gilt hier auch für die Drachen (aufgrund des Verweises auf den Vijarac). Die Drachen sollten, wie Gavrilo sagt als er die Geschichte der Brüder berichtet, nicht wörtlich genommen werden: “[...] und sagte, ich solle doch nicht alles wörtlich nehmen. Der [der Bruder, der sich angeblich in einen Drachen verwandelt hat] sei vielleicht einfach der schnellste gewesen.”(S. 53, Z. 1-3)Daraus folgt, dass für den Drachen sowie für das Wandbild eine allegorische Bedeutung gesucht werden muss.

Beim sinnbildlichen Betrachten des Wandbilds fällt schnell auf, dass die Erzählinstanz im Bild etwas Negatives wahrnimmt, denn er sieht einen seiner Blutsverwandten als Bestie an. Folglich muss ihm die Ermordung des Drachens negativ vorkommen. Unter Berücksichtigung der Allegorie des Drachens als Heimat würde dies aussagen, dass ein Stanišić den Zusammenhalt der Familie “tötet”. Somit zerfällt die Familie von innen und endogene Faktoren müssen für diesen Zerfall verantwortlich gemacht werden. Der Zeitpunkt, der dieses Wandbild darstellt, ist unklar. Die Szenerie könnte zu Entstehungszeitpunkt des Bildes schon passiert sein oder nicht. Im letzteren Fall könnte es als eine Art Prolepse angesehen werden. Am plausibelsten ist aber, dass der Zerfall ständig (mal mehr mal weniger) stattfindet und unumgehbar ist.

Die Symbolik des Reiters und des Drachens erscheint im Text weiterhin. Erkennbar wird die Thematik nochmals auf S. 274, wo die Erzählinstanz einen weiteren Stanišić trifft, der am linken Unterarm ein Schwert und ein Schild sowie auf dem rechten Unterarm einen dreiköpfigen Drachen tätowiert hat. Es wird darauf verwiesen, dass der Vater der Erzählinstanz ein ähnliches Tattoo hat – ein Schwert und einen Kranz. Auf den ersten Blick scheint es fragwürdig, dass sich ein Stanišić die Verkörperung des Zerfalls der Familie tätowieren würde. Dies kann aber damit begründet werden, dass diese Bestie nun mal Teil der (hier nicht nur Positiven) Familiengeschichte ist. Der Ritter wird zudem als “heilig” beschrieben. Dieses Adjektiv kann positiv im Sinne von grossartig, göttlich und rein verstanden werden. Dies ist vermutlich nicht die Bedeutung, die hier gemeint ist. “Heilig” ist hier wahrscheinlich negativ dotiert. Vielmehr ist “heilig” hier als “unumgehbar” zu verstehen. Der allmähliche Zerfall der Familie kann demnach nicht gestoppt werden. So verliert in Gavrilos Wandbild der Drache, der die Familie symbolisiert, gegen den Ritter, welcher den Familienzerfall darstellt.

Jugoslawien bricht in einem von innen angezettelten Krieg auseinander, die Länder formen eigene Territorien und schotten sich ab. Dieser Zerbruch ist ebenfalls im Wandbild als Analepse zu erkennen. Zudem kann es durch dieses Wandbild auch auf die Familie Stanišić angewendet werden. Das Wandbild könnte somit im weitesten Sinn auch den Grund für die allmähliche Verteilung der Familie unterstreichen oder voraussagen. Die Familie bricht mit dem Bürgerkrieg in Jugoslawien auseinander, wobei die Erzählinstanz mit seinen Eltern nach Deutschland flüchtet. Die Flucht wird durch den ersten Treffer, den der Reiter landet, symbolisiert, der Familienzusammenhalt ist beschädigt. Jetzt tötet der Reiter den Drachen, also bricht nach dem Bürgerkrieg die Familie weiter auseinander, bis sie zerfällt.

Die Erzählinstanz verweist den ganzen Text über auf die Familie, seine Herkunft und auf sein Verhältnis zu seiner Familie. Gleichzeitig aber wohnt die Erzählinstanz heute in Hamburg, weit weg von seiner Familie und dessen Wurzeln (Oskoruša, Višegrad etc.). Die Grossmutter kann weiterführend als Metapher für die (überbleibende) Familie verstanden werden. Saša kann sich aufgrund der Distanz zwischen ihm und der Grossmutter nicht mehr ausreichend um sie kümmern, als sie es am meisten nötig hätte. Es scheint, als würde sich Stanišić dafür schuldig fühlen, als würde er sich mit dem Reiter des Wandbildes identifizieren. Nicht Schuld an der anfänglichen Verletzung des Drachens, aber an seiner Tötung. Er reflektiert gegen Ende des Romans, dass er seine Familie und seine Herkunft vernachlässigt hat. Weiterführend hat er seine Familie nicht genügend unterstützt. Beispielsweise die Grossmutter, welche sich traditionell als älteres Familienmitglied um die Jüngeren kümmerte. Die Erzählinstanz vernachlässigte dies manchmal. Als sich die Grossmutter endgültig nicht mehr um sich selbst kümmern kann, wählt er den einfachen Weg und bringt sie in ein Altenheim, anstatt sie bei sich aufzunehmen und sie selbst zu pflegen. Kristine will nicht ins Altenheim, weil sie die Verbindung zu Oskoruša, Sarajevo und der Familie nicht aufgeben will. Hier kann interpretiert werden, dass die Erzählinstanz an sich nicht aktiv an dem Zerfall der Familie schuld ist. Dadurch, dass er diesem Zerfall aber nicht aktiv entgegenwirkt, trotzdem Teil dieses Problems wird. Er hat also tatsächlich Eigenschaften des heiligen Reiters.

Ein wichtiger thematischer Schwerpunkt des Textes ist die Demenz der Grossmutter. Wenn wir wie oben annehmen, dass die Grossmutter im weitesten Sinn für die Familie der Stanišićs steht, kann man dies verbinden. Die Grossmutter (symbolisch für die Familie) wird langsam älter, und nachdem die Familie auseinanderbricht, beginnt irgendwann die Demenz, wobei die Familie und ihrer Geschichte immer mehr vergessen geht. Ihrem Tod am Ende des Textes signalisiert somit das Ende der Familiengeschichte der Stanišić. Hierbei ist klar, dass es nicht das absolute Ende ist, da die Erzählinstanz und sein Sohn noch leben. Jedoch ist es das Ende einer Epoche mit Oskoruša und den Drachen.

Auf der ersten Seite des Texts sucht die Grossmutter eine jüngere Version von sich selbst (also eine jüngere Version ihrer Familie, in der “Blütezeit”). Sie sieht diese durchs Fenster, als sie jedoch die Treppe hinuntersteigt, um dieser zu begegnen, verschwindet diese. So auch die Geschichte der Stanišićs, die mit der Demenz immer weiter verschwindet. Diese Unterscheidung zwischen der alten und neuen Familie wird mehrmals im Stoff aufgegriffen. Als er auf die Suche nach seiner alten Familie geht, trifft er nur auf den Friedhof mit allen toten Stanišićs. Diese alte Familie ist schon verschwunden. Da auch die Grossmutter ihr Gedächtnis in Bezug auf diese alte Familie verliert, geht diese im Verlauf des Textes endgültig verloren. Man könnte auf der ersten Seite die Grossmutter mit Saša selbst ersetzen, der in der Ferne noch den Geist seiner ehemaligen Geschichte sieht, je näher er sich jedoch darauf zubewegt, desto mehr verblasst sie jedoch.

Drachenhort:[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Drachenhort ist ein Choose-your-own-adventure- Teil des Romans. Die Form und Struktur sind plötzlich anders, verglichen mit dem Rest des Textes. Im Drachenhort distanziert sich die Diegese deutlich von der Realität. Auf der Seite 297 direkt vor dem Drachenhort sitzt Saša im Flughafen, um nach einem (wahrscheinlich letzten) Besuch seiner Grossmutter nach Deutschland zurückzukehren. Zufälligerweise hört er am Flughafen eine Geschichte mit einem Happy End. Nun ist Saša entschlossen, dass er auch ein glückliches Ende will. (“Ich kann der Geschichte erst nicht folgen, dann aber doch, und am Ende ist alles gut, und ich hätte gern ein anderes Ende.” (S. 297)). Kurz vor Schluss des Textes entscheidet er sich also, sich nicht auf diese Weise von seiner Grossmutter zu verabschieden. Diese ist zu diesem Zeitpunkt im Altenheim. Er sucht also nach einem glücklichen Ende. Der Drachenhort widerspiegelt diese Suche.

In den meisten Szenarien des Drachenhorts geht Saša mit seiner Grossmutter nach Oskoruša und zu den Feuerfelsen. Zudem kommen zum ersten Mal in der Diegese lebende Drachen vor (in den Höhlen bei den Feuerfelsen). Der ganze Drachenhort ähnelt in dieser Weise der Geschichte von Pero. Dieser ist nach den Angaben der dementen Grossmutter auch in die Berge in Richtung Feuerfelsen aufgebrochen und seither nicht mehr zurückgekehrt. Dort hört die Geschichte und das Leben von Pero laut Grossmutters Angaben auf. Parallel dazu ist der Drachenhort das Ende der Diegese und Saša sowie die Grossmutter brechen in Richtung der Feuerfelsen auf. Die Grossmutter, um Pero zu suchen, Saša wohl eher um ein glückliches Ende mit seiner Familie (der Grossmutter) zu erleben und die Drachen zu sehen. Bei diversen Enden finden die beiden tatsächlich Drachen. Diese sind nach der obigen Interpretation eine Metapher für Familienzusammenhalt, wobei Saša bei diesen fiktionalen Enden ein Happy End erhält. Dies geschieht, indem er den Familienzusammenhalt findet (zumindest mit seiner Grossmutter) und letzte schöne Momente mit seiner Grossmutter vor ihrem Tod erleben darf. Da die Geschichten wohl aber frei erfunden sind, kann dieser Teil auch als Verarbeitung des Todes seiner Grossmutter angesehen werden. So verdeutlicht er seine Reue über seinen Umgang mit seiner Grossmutter und der restlichen Familie mit einem frei erfundenen Happy End.

Drachen als Herkunftsersatz:[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einen anderen Ansatz, den Drachen als Symbol zu verstehen ist, dass der Drache als fiktionalen Herkunftsersatz für die Erzählinstanz steht. Stanišić stösst auf der Suche nach seiner Heimat auf keinen tatsächlichen Durchbruch. Um also mit der Frustration dieser unvollständigen Antwort auf die Frage nach seiner Herkunft umzugehen, greift Saša auf seine Imagination zurück. Im Text schreibt die Erzählinstanz selbst, dass sie das, was ihr fehlt, mit Erfindungen ergänzt (“Das, was ihr [Sašas Mutter] fehlt, ergänzt sie heute nicht mit Erfindungen wie ich” S. 120). Die Familie fehlt ihm, beziehungsweise fand er sie auf seiner Suche nicht wirklich, weshalb er den Drachen als Ersatz für die Familie beziehungsweise Herkunft nimmt. Die Drachen sind in der Diegese mit den Stanišićs verbunden, weshalb sie für diesen Ersatz auch geeignet sind. Zudem findet er im Drachenhort auch die Drachen, dies würde symbolisieren, dass er am Ende des Textes doch noch in irgendeiner Form seine Herkunft ergründet.

Die beiden Thesen zur Drachenmotivik schliessen einander nicht aus. Sie ergänzen einander und können beide parallel bestehen.

"Herkunft", Luchterhand Literaturverlag, München, 2019, 9. Auflage

Kontext[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Handlung des Textes beginnt im vorkrieglichen Jugoslawien. Der Grundstein für den Vielvölkerstaat ist 1918 gelegt worden – damals noch unter dem Namen: SHS-Königreich. Das Königreich umfasste dazumal die heutigen Staaten Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Kroatien, Montenegro, Nordmazedonien, Serbien und Slowenien.

Ursprünglich war das Königtum eine konstitutionelle Monarchie (1918-1929). Das zentralistische Königreich war von Anfang an geprägt von nach Autonomie strebenden Bewegungen der Teilstaaten. Dieses Bestreben nicht-serbischer Ethnien blieb jedoch weitgehend unterdrückt. Die religiösen Spannungen blieben jedoch bestehen. Nach einem missglückten Lösungsversuch dieser Spannungen setzte eine Staatskrise ein, die den serbischen König Alexander I. dazu veranlasste, die Verfassung ausser Kraft zu setzen und die Königsdiktatur (1929-1941) auszurufen. Ab sofort hiess der Vielvölkerstaat Königreich Jugoslawien.

1941 wurde das Königreich Jugoslawien mit dem Einmarsch von NS-Deutschland und dem Königreich Italien besetzt und aufgelöst. Der König flüchtete ins englische Exil. Serbien blieb als Vasallenstaat militärisch besetzt, während Slowenien zwischen Deutschland, Italien und Ungarn geteilt wurde. Kroatien inklusive Bosnien-Herzegowina wurden zu einem grosskroatischen Vasallenstaat.

Noch während des Zweiten Weltkriegs wurde der Grundstein für eine Föderation unter der Führung der Kommunistischen Partei Jugoslawiens (KPJ) gelegt. Nach Kriegsende erteilte der König aus dem Exil heraus Josip Broz Tito den Regierungsauftrag. Die von Titos kommunistischer Partei gewonnenen Wahlen führten im November 1945 zur Gründung der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien – aus denselben sechs oben genannten Staaten. 1946 erhielt der Vielvölkerstaat eine nach dem Vorbild der Sowjetunion verfasste Verfassung – dem Stalinismus angelehnt.

Mit der Zeit distanzierte sich jedoch Tito immer weiter von der Sowjetunion und verfolgte mehr und mehr seine eigene Form des Kommunismus – dem Titoismus. Gleichzeitig näherte sich die Föderation immer mehr dem kapitalistischen Westen an.

Im April 1963 wurde der Staat schliesslich in die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien (1963-1992) umbenannt.

Der Zerfall Jugoslawiens begann mit einer Wirtschaftskrise in den Achtzigerjahren. Es kam zum Streit um die finanziellen Mittel. Die ärmeren Teilrepubliken wollten Unterstützung von den wohlhabenderen Teilrepubliken Kroatien und Slowenien. Infolgedessen kam es zu nationalistischen Tendenzen, die zuvor unter dem 1980 verstorbenen Staatsgründer Josip Broz Tito unterdrückt worden waren. Die Spannungen führten dazu, dass sich zunächst Kroatien und Slowenien, später Bosnien-Herzegowina und Mazedonien von Jugoslawien lossagten. Diese Unabhängigkeitsbestrebungen versuchte Serbien zunächst militärisch zu unterdrücken, indem die jugoslawische Volksarmee 1991 zuerst in Slowenien (10-Tage-Krieg) und danach in Kroatien (Kroatienkrieg) einen misslungenen Intervenierungsversuch startete. Daraufhin verschob sich der Krieg immer mehr nach Bosnien-Herzegowina (Bosnienkrieg). Letztlich konnten die Staaten ihre Unabhängigkeit durchsetzen. Dies war auch der Zeitpunkt, zu dem Saša mit seinen Eltern über Serbien, Ungarn und Kroatien nach Heidelberg, Deutschland flohen. Am 24. August 1992 kamen sie in Heidelberg an (S. 67).

"Herkunft", Luchterhand Literaturverlag, München, 2019, 9. Auflage

Einzelnachweise/Quellen:[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. https://www.deutscher-buchpreis.de/news/eintrag/sasa-stanisic-erhaelt-den-deutschen-buchpreis-2019-fuer-herkunft/, zuletzt aufgerufen am 17.09 2020
  2. https://www.neumuenster.de/kultur-freizeit/kultur/kulturfoerderung/hans-fallada-preis/

https://literaturkritik.de/stanisic-herkunft-erinnerung-erinnerungsverlust,25618.html, zuletzt aufgerufen am 17.09 2020

https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article190665023/Herkunft-von-Sasa-Stanisic-Von-Bosnien-nach-Deutschland.html, zuletzt aufgerufen am 17.09 2020

https://www.spiegel.de/kultur/literatur/herkunft-von-sasa-stanisic-ein-superbuch-a-1258440.html, zuletzt aufgerufen am 17.09 2020

https://www.bpb.de/apuz/256921/kleine-geschichte-jugoslawiens, zuletzt aufgerufen am 12. September 2020.

https://de.wikipedia.org/wiki/Jugoslawien, zuletzt aufgerufen am 12. September 2020.

https://de.wikipedia.org/wiki/Jugoslawienkriege, zuletzt aufgerufen am 12. September 2020.

https://www.spiegel.de/geschichte/jugoslawien-krieg-antworten-auf-die-wichtigsten-fragen-a-1099538.html, zuletzt aufgerufen am 02. September 2020.

"Herkunft", Luchterhand Literaturverlag, München, 2019 9. Auflage

  1. Stadt Neumünster: Hans-Fallada-Preis. Abgerufen am 18. September 2020.