Benutzer:Rainer Kilb/Antiaggressivitätstraining (AAT)

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Anti-Aggressivitäts-Training*/ Coolness-Training*

Beim Anti-Aggressivitäts- (AAT) und Coolness-Training (CT) handelt es sich um eine delikt- und defizitspezifische Behandlungsmaßnahme für gewaltbereite Mehrfachtäter. Die Trainingsdauer beträgt 6 Monate bei einer mehrstündigen Gruppensitzung pro Woche, flankiert von Einzelgesprächen. Das AAT wird primär in der Justiz, das CT primär in Jugendhilfe und Schule als spezialisierte Form des Sozialen Trainings eingesetzt. AAT/CT orientieren sich an einem lerntheoretisch-kognitiven Paradigma und werden theoretisch dem Begriff der Konfrontativen Sozialen Arbeit zugeordnet. Seit 1987 wird dieser Behandlungsansatz praktiziert, mittlerweile in über 20 deutschen Städten und der Schweiz. Die Begriffe AAT/CT sind beim Marken- und Patentamt München geschützt, um eine seriöse Praxisumsetzung sicher zu stellen.

Theoretischer Rahmen: Konfrontative Soziale Arbeit

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Beim Begriff der „Konfrontativen Sozialen Arbeit„ geht es um eine Wiederbelebung der konfrontativen Methodik in der Alltagspraxis Sozialer Arbeit und Pädagogik. KSA versteht sich als Ergänzung, nicht als Alternative, zu einem lebensweltorientierten Verständnis. KSA begreift sich als sozialpädagogische ultima ratio im Umgang mit Mehrfachauffällige. KSA ist interventionistisch, denn abwarten und gewähren lassen, das bedeutet bei gewalttätigen Auseinandersetzungen sich pseudotolerant zu verhalten, das heißt auch Opfer billigend in Kauf zu nehmen. Für Professionelle ein unverzeihlicher Fauxpas! (Colla/ Scholz/ Weidner 2001). Politische und pädagogische Hardliner seien darauf hingewiesen: Hier geht es nicht um die Wiederbelebung autoritärer Strukturen in einem neuen terminologischen Gewand. Die Professionellen, die hinter jedem konfrontativen Handeln Ansätze „Schwarzer Pädagogik„ vermuten, seien darauf hingewiesen, dass vor jeder Konfrontation der Beziehungsaufbau steht. Voraussetzung für eine Konfrontation ist die Interventionserlaubnis der konkret Betroffenen ! D.h., auf der Grundlage einer von Sympathie und Respekt geprägten Beziehung, gilt es das wiederholt aggressive Verhalten ins Kreuzfeuer der Kritik zu nehmen. Ziel ist eine Einstellungs- und Verhaltensveränderung beim Betroffenen. Entsprechend ist konfrontatives Handeln nur für Settings bzw. Schonräume geeignet, in denen Kontinuität gelebt werden kann.

Sozialisationstheoretische Bezüge

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Der aggressive Mehrfachauffällige wird sozialisationstheoretisch als produktiver Realitätsverarbeiter begriffen. Kernpunkt der Sozialisation ist die Entwicklung und Förderung von Handlungskompetenz. Auffällig ist der interaktive Kompetenzmangel bei wiederholt aggressiv Agierenden, die körpersprachlich zwar imposant bis einschüchternd auftreten, aber außer einem fulminanten Beleidigungsrepertoire wenig Konfliktbewältigungsstrategien zu bieten haben. Hier setzen AAT und CT an, in dem sie folgende zentrale Dimensionen der Handlungskompetenz fördern: Empathie, Frustrationstoleranz, Ambiguitäts- oder Ambivalenztoleranz sowie Rollendistanz. Bezogen auf aggressive Mehrfachauffällige ergibt sich hier ein ernüchterndes Bild: Empathie in Bezug auf Opferfolgen ist nur marginal ausgeprägt. Die Frustrationstoleranz scheint bei Aggressiven, die biografieanalytisch meist auch mehrfach frustriert wurden, nahezu aufgebraucht. Der Ambivalenztoleranz und ihrer mehrdeutigen Rollenerwartung werden Aggressive kaum gerecht, wenn sie etwa dem Werkstatt-Meister mit den Interaktionsritualen und dem Scene-Slang der eigenen Subkultur begegnen. „‘Noch so’n Spruch Kiefernbruch‘, das ist bei meinen Kumpels ein Lacher, bei meinem Meister eine Abmahnung„, so die nicht sehr überraschende Erkenntnis des 17-jährigen Wolfram. Auch die Rollendistanz, also die Fähigkeit mit Ironie und Humor auf Abstand zur eigenen Rolle zu gehen, ist bei aggressiven Mehrfachauffälligen förderungswürdig, die mit großem Ernst in ihrer, z.T. martialischen Rolle verhaftet sind. Neben dem Ausbau der Handlungskompetenz verfolgt die KSA als weitere Sozialisationsziele die Festigung moralischen Bewusstseins sowie die Förderung pro sozialen Verhaltens, d.h. willentlich für andere Personen, gerade auch die ehemaligen Opfer, einen Vorteil anstreben, beispielsweise durch helfen, teilen, spenden oder unterstützen.

Erziehungsstil und methodische Bezüge

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KSA umschreibt prononciert folgendes professionelles Verständnis im Umgang mit Aggressiven : Danach sollten 80% der professionellen Persönlichkeit einfühlsam, verständnisvoll, verzeihend und non-direktiv bleiben, aber um 20% Biss, Konflikt- und Grenzziehungsbereitschaft ergänzt werden. KSA grenzt sich von einem autoritär - patriachalischen Erziehungsstil ab, ebenso von einem ausschließlich akzeptierenden Begleiten und einem rein permissiven Verständnis, das die Ursachen abweichenden Verhaltens primär im gesellschaftlichen Kontext bzw. als Ausdruck von Labeling -Prozessen sieht. KSA orientiert sich an einem „autoritativen„ Erziehungsstil, wie er von Silbereisen/ Schuhler definiert wird (1993:278ff): Wärme, Zuwendung, verständlich begründete, klare Strukturen und Grenzen, entwicklungsgerechte Aufgaben und Herausforderungen. Die Vorteile dieses Stils, in Abgrenzung zum autoritären und permissiven Verständnis, werden mit pro sozialerem Verhalten der Betroffenen, größerer Aufgeschlossenheit und sozialerer Kompetenz, sowie einem angemessen - durchsetzungsfähigen Alltagsverhalten beschrieben. Besonders Letzteres ist bedeutend für aggressive Mehrfachauffällige, die sich auch nach einem Resozialisierungs-Prozess als durchsetzungsstark definieren möchten. Mit dem Satz „nicht mehr totschlagen, aber tot labern„ brachte das ein AAT-Absolvent auf den Punkt. Der autoritative Ansatz impliziert eine pädagogisch gelenkte Streitkultur im sozialen Schonraum. Motto: aggressives Verhalten verstehen, aber nicht einverstanden sein.

KSA – und hier ist der Begriff entlehnt - ist geprägt durch die kognitionspsychologisch orientierte konfrontative Therapie (Corsini 1994:555ff.) sowie die provokative Therapie Farrellys (1994:956ff.), deren verblüffende, humorvolle, paradox-interventionistische Alltagsarbeit gerade bei sozialarbeitsgesättigten Aggressiven auf Neugier und Interesse stößt, wenn u.a. Übertreibung, Verzerrung, Spott oder Ironie zum Vorteil des Betroffenen verwandt werden, um dessen Gewalt - Rechtfertigungen in Frage zu stellen. Farrelly folgt zehn Postulaten, von denen eines für das vorliegende Thema besonders bedeutend ist: die Angst der Professionellen, dass Jugendliche zusammenbrechen, wenn Sozialpädagogen/-arbeiter diese mit den Tat-Folgen konfrontieren. Ein zurückhaltender Mitarbeiter der Jugendhilfe formulierte das auf sehr bildhafte Weise: „Wissen Sie, wenn Sie (der Verfasser) aggressive Täter mit ihren Straftaten so hart konfrontieren besteht die Gefahr, dass diese aus Verzweiflung in die Elbe springen„. Diese Verantwortung wolle er nicht tragen. Aggressive Jugendliche, die von diesen Bedenken hörten, konterten nicht weniger pointiert: „Wir springen bestimmt nicht in die Elbe, wir schmeißen den in die Elbe!„ Farrelly kommentiert diesen schwarzen Humor sehr realistisch: die psychische Fragilität der Betroffenen werde weit überschätzt ! Die konfrontative Therapie Corsinis strebt einen schlagartigen, schnellen Erkenntnisgewinn des Menschen an, methodisch orientiert an Perls ‚hot seat‘ und Morenos ‚Hinter-dem-Rücken-Technik‘: Der aggressive Jugendliche erklärt und rechtfertigt sein Verhalten. Danach ‚verlässt‘ der Protagonist den Raum symbolisch, in dem er sich aus der Gruppe heraus begibt und nach außen blickt. Der Rest der Gruppe diskutiert ‚hinter seinem Rücken‘ über ihn. Die so gehörten offenen Statements der anderen Gruppenmitglieder werden im Anschluss zusammen mit dem Betroffenen reflektiert: zuhören, aber nicht zuschlagen wird da zum Lernprinzip.

Zusammenfassend favorisiert die KSA folgenden Leitsatz: Professionelle der Sozialen Arbeit sollten pädagogisch (nicht juristisch) auf Kleinigkeiten reagieren, damit Grosses erst gar nicht passiert. In Deutschland wurde in den 70iger bis 90iger Jahren des letzten Jahrhunderts eher umgekehrt gearbeitet: Kleines wurde als jugendtypisch entschuldigt und nur bei Großem wurde interveniert. Dies scheint kein zukunftsweisender Weg zu sein, denn gerade die kleinen Auseinandersetzungen sind erfolgversprechend auflösbar und derart beziehungsfördernd, dass sie eine gute Basis zur Lösung auch großer Konflikte darstellen. In diesem Sinne plädiert die KSA für eine Paradigmenverschiebung.

Die Methode: Anti-Aggressivitäts- und Coolness Training)

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Aggression gilt als ubiquitäres Phänomen, d.h. als art- und kulturvergleichend vorhanden. Aggression kann zu aggressivem Verhalten führen, das sublim oder offen sein kann. Aggressivität – und um die soll es hier gehen – ist vom offenen Verhalten ableitbar und kann als eine relativ überdauernde Bereitschaft zu aggressivem Verhalten verstanden werden (Selg 1974:14ff.). Wiederholt gewalttätig agierende Menschen sind dabei häufig durch folgende verhaltensprägende kognitive Hypothese geprägt: Aggressivität macht unberührbar und signalisiert Macht, Überlegenheit und Respekt. Friedfertigkeit dagegen signalisiert Schwäche, Feigheit und wird als „weibisch„ diffamiert. Diese Einstellung gilt es zu verändern.

Rahmenbedingungen

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Die Umsetzung des AAT/CT in die Praxis Sozialer Arbeit ist durch folgende Charakteristika geprägt ( Weidner/ Kilb/ Kreft 2002):

  1. Das AAT ist im Berech tertiärer Prävention, bei der Bewährungs- und Jugendgerichtshilfe, beim §10 Jugendgerichtsgesetz und im Strafvollzug anzusiedeln. Behandlung unter Zwang wird als sekundäre Einstiegsmotivation akzeptiert. Das CT wird im Bereich der sekundären Prävention angewandt und setzt in Schule, Streetwork, Jugendhilfe auf Freiwilligkeit.
  2. Die Zielgruppe umfasst Menschen, die sich gerne und häufig schlagen und Spaß an der Gewalt zeigen. Sie müssen kognitiv und sprachlich dem Programm folgen können.
  3. Die Gruppenleitung besteht aus zwei geisteswissenschaftlichen Hochschulabsolventen, davon einem mit qualifizierter AAT/CT-Zusatzausbildung, incl. Selbsterfahrung auf dem „heißen Stuhl„.
  4. Der Trainingseinstieg betont die Motivationsarbeit durch Tätergespräche und erlebnispädagogisches „Locken„, sowie eine spannende, konfrontative Gesprächsführung. Der zeitliche Rahmen beträgt bei einer Gruppe von fünf Teilnehmern ca. 60 Stunden.
  5. Die Trainingsinhalte umfassen folgende Eckpfeiler: Einzelinterviews, Analyse der Aggressivitätsauslöser und Gewaltrechtfertigungen, Tatkonfrontation und Provokationstests auf dem heißen Stuhl, Opferbriefe, -filme, -aufsätze zur Einmassierung des Opferleids, Distanzierungsbrief an die gewaltverherrlichende Clique.
  6. Die Schlusssequenzen der Konfrontationssitzungen gilt es besonders zu beachten: eine Nachbereitung mit den Elementen Entspannung und Reflexion ist unverzichtbar.
  7. AAT/CT folgen einem optimistischen Menschenbild: den Täter mögen, bei gleichzeitiger massiver Ablehnung seiner Gewaltbereitschaft.

Methodenvermittlung

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Die Methodik von AAT/CT wird am IKD Hamburg (Prof. Dr. J. Weidner), an der Hochschule Mannheim (Prof. Dr. R. Kilb/ contra-de-Version) sowie am Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS), Frankfurt am Main, vermittelt. Die berufsbegleitende Zusatzausbildung dauert 14 Monate und umfasst 7x3 Tage.

Forschungsergebnisse

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AAT/CT sind intensiv beforscht worden (Weidner 2003). Die Ergebnisse: Die Rückfalluntersuchung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsens für die Zeit von 1987-1997 ergibt, dass 63% der behandelten, ehemals inhaftierten Gewalttäter nicht wieder einschlägig rückfällig wurden. Von den Rückfälligen agierte die Hälfte deliktschwächer. Diesen Wert erreichen z.B. auch sozialtherapeutische Abteilungen (Ohlemacher 2001). Testpsychologische pre - post Untersuchungen (Fragebogen zur Erfassung von Aggressivitätsfaktoren) bestätigen eine Reduzierung von Aggressivität und Erregbarkeit bei den Behandelten (Weidner 2001). Praktikerbefragungen ergeben eine hohe methodische Akzeptanz der Methode (Kilb 2000) etwa durch die Reduzierung aggressiver Konflikte vor Ort.

Resümee: erfolgreiche Gewalttäter-Behandlung ist auch erstklassiger Opferschutz. AAT/CT können hierbei einen wichtigen Beitrag leisten.

Literaturhinweise

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Bandura, A: Aggression. Stuttgart 1979 Colla,H./ Scholz,C./ Weidner,J. (Hg.): Konfrontative Pädagogik. Mönchengladbach 2001 Corsini, R.: Konfrontative Therapie, in: ders. (Hg.): Handbuch der Psychotherapie, Bd.1,Weinheim 1994 , S.555-570 Farrelly,F./ Brandsma,J.: Provokative Therapie. Berlin 1986 Kilb,R./ Weidner,J.: Eine neue Methode im Aufwind ? In: Sozialmagazin 25, 1/2000, S.33-38 Kilb, R./ Weidner, J./ Gall, R.: Konfrontative Pädagogik in der Schule. Weinheim, München 2006 Selg,H.: Menschliche Aggressivität. Göttingen, Toronto 1974 Silbereisen,R./Schuler,P.: Prosoziales Verhalten, in: Markefka,M./ Nauck,B. (Hg.): Handbuch der Kindheitsforschung. Neuwied 1993, S.275-288 Weidner,J.: Anti - Aggressivitäts - Training für Gewalttäter. Mönchengladbach 2001 Weidner,J./ Kilb,R./ Kreft,D.(Hg.): Gewalt im Griff. Bd. 1 Weinheim 2002 Weidner,J./ Kilb,R./ Jehn,O. (Hg.): Gewalt im Griff. Bd. 3., Weinheim 2003 Weidner, J./ Kilb, R.: Konfrontative Pädagogik. Wiesbaden 2005


Autorenverzeichnis:

Weidner, Jens, Dr. phil., Prof. für Erziehungswissenschaften und Kriminologie an der HAW Hamburg (Anti-Aggressivitäts-Training)

Kilb, Rainer, Dr. phil., Prof. für Methoden in der Sozialen Arbeit an der Hochschule Mannheim/ Fakultät für Sozialwesen