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Tiefenökologie

Tiefenökologie (englisch: deep ecology) ist eine ganzheitliche Umwelt- und Naturphilosophie, welche die naturwissenschaftliche Ökologie mit ethisch-spirituellen Wertefragen verbindet. Tiefenökologie betont die enge Verflechtung und gegenseitige Abhängigkeit zwischen Natur- und Menschenwelt und plädiert dafür, den dualistischen Begriff der 'Umwelt' durch den Begriff der 'Mitwelt' zu ersetzen. Sie transzendiert anthropozentrisches Denken und gibt allen Lebensformen einen intrinsischen Wert, der über die Bewertung durch den Menschen hinausgeht. Leitgedanke tiefenökologischer Aktion ist die Vereinigung von analytischem Denken, mitfühlendem Sein und ökologischer Spiritualität, die zusammen zu einem neuen politischen Handeln führen sollen.

Der norwegische Philosoph Arne Næss (1912–2009) führte 1972 den Ausdruck deep ecology in dem Essay „The shallow and the deep, long-range ecology movement“ im Journal Inquiry in die philosophische Literatur ein. Diese Unterscheidung “deep“ vs. „shallow ecology movement" war die ‚Geburtsstunde’ der tiefenökologischen Bewegung. Naess wollte mit dieser Unterscheidung auf die Verschiedenartigkeit der Motive und Ziele hinweisen. Ein ‚shallow ecology movement’ (seichte/oberflächliche Ökologie bzw. ökologische Reformbewegung) richtet sich vor allem auf den Erhalt der Gesundheit des Menschen (insbesondere in den entwickelten Ländern) sowie auf den Kampf gegen die Verschmutzung und Zerstörung der Biosphäre sowie gegen den Raubbau der Ressourcen. Im Vordergrund stehen effiziente Rohstoffnutzung und die Reduktion von Schadstoffen mit technologischen Lösungen. Das ‚deep ecology movement’, die tiefenökologische Bewegung ist kein Gegensatz zur ökologischen Reformbewegung, sondern unterstützt diese. In ihrer Suche nach einer neuen Umweltethik, Erkenntnistheorie und Metaphysik reicht sie über das bisherige ökologische Denken hinaus. Sie strebt gleichermaßen einen Wertewandel wie auch einen Wandel der sozialen Organisation/Strukturen an (vgl. DEVALL, in BIRNBACHER 1997: S. 17 ff.). Die Tiefenökologie vertritt eine holistische Position, da sie die Natur als Lebensnetz in ihrer Gesamtheit betrachtet und ihr einen moralischen Eigenwert beimisst. Aus letzterem folgt, dass die Selbstverwirklichung des Menschen in Einklang mit der Selbstverwirklichung des Ganzen steht. Aus dem naturwissenschaftlichen Raum zeigt sich die Tiefenökologie inspiriert von der Allgemeinen Systemtheorie und Gaia-Hypothese, wonach die Erde ein lebendiger, sich selbst regulierender Organismus ist. Neuere naturwissenschaftliche biologische und kognitionswissenschaftliche Ansätze mit Bezug zur Tiefenökologie finden sich im 20. Jahrhundert bei Wissenschaftlern wie Gregory Bateson und Ervin Laszlo. Kulturhistorisch hat die Tiefenökologie starke Bezüge zu indigenen Weltanschauungen, griechischen Philosophen wie Heraklit, der christlichen Mystik wie z.B. Hildegard von Bingen, Meister Eckart, Franz von Assisi und der deutschen Romantik. Weitere namhafte Vertreter:innen der Tiefenökologie sind u.a. Joanna R. Macy, Dolores LaChapelle, John Seed, Bill Plotkin, Jochen Kirchhoff, Geseko von Lüpke.

Ökopsychologische Ansätze

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Arne Naess hat den Begriff des ‚Ökologischen Selbst' eingeführt, um deutlich zu machen, dass sich menschliche Identität nicht nur auf den physischen Körper beschränken sollte, sondern die ‚Mitwelt' einschließt, die diesen Körper am Leben erhält. Eine psychologische Variante der Tiefenökologie hat Theodore Roszak in seinem Buch „Ökopsychologie – Der entwurzelte Mensch und der Ruf der Erde“ (1994) entwickelt. Mit der Forderung nach ‚biosphärischer Gleichheit‘ ist der Gedanke des Mitgefühls für alles Lebendige verbunden. Die Vorstellung, der Mensch stehe im Mittelpunkt seiner jeweiligen Um-Welt verändert sich in die Sichtweise, dass der Mensch ein integraler Bestandteil seiner natürlichen, sozialen und geistigen Mit-Welt ist. Die Ökopsychologie geht davon aus, dass sich die menschliche Seele in den Jahrhunderttausenden der menschlichen Evolution in enger Verbindung mit der natürlichen Evolution entwickelt hat und dieses ‚ökologische Unbewusste' die eigentliche Grundlage tiefer Naturverbundenheit darstellt, die sich in vielen indigenen Völkern noch finden lässt. Die Domestizierung der Wildnis hat aus der Perspektive der Ökopsychologie dazu geführt, dass diese seelische Verbundenheit weitgehend verloren gegangen und durch die Wahrnehmung einer dualistischen Trennung (Mensch vs. Natur) ersetzt wurde. Diese wahrgenommene Entfremdung von der Natur gilt ihr als tiefste Wurzel der ökologischen Krise und Naturzerstörung.

Entwicklung im deutschen Sprachraum

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Neben den philosophischen (Arne Naess) und wissenschaftstheoretischen Quellen (Systemtheorie, GAIA-Hypothese) wurde für die entstehende tiefenökologische Bewegung im deutschen Sprachraum ab Beginn der 1980er Jahre folgende Schwerpunkte bedeutsam: 1. Die ökopsychologische, erfahrungsbasierte und systemkritische Gruppenarbeit "The Work that Reconnects" (Die Arbeit die wieder verbindet) der amerikanischen Religionswissenschaftlerin, Ökophilosophin und Aktivistin Joanna R. Macy, die sowohl von der Systemtheorie wie von buddhistischen Lehren und Praktiken inspiriert ist. 2. Die handlungsorientierten, gewaltfreien Widerstandsformen des australischen Begründers des Rainforest Information Centers und Regenwald-Aktivisten John Seed. 3. Die öko-spirituellen Ansätze des vietnamesischen Buddhisten Thich Nhat Hanh, des brasilianischen Befreiungstheologen Leonardo Boff und des anglikanischen Schöpfungstheologen Matthew Fox. Seit Mitte der 1990er Jahre wird eine Vielzahl von ein- und mehrtägigen Workshops bis hin zu intensiven Ausbildungen (Holon -Training, Active Hope - Training) als erlebnisorientierte Einsichten in die Tiefenökologie angeboten. Es besteht ein ‚Netzwerk Tiefenökologie‘ im deutschsprachigen Raum. In den Jahren ab 2018/2019 erlangten insbesondere die philosophischen Ansätze von Charles Eisenstein mehr Bedeutung, ebenso der von Prof. Jem Bendell in Großbritannien entwickelte Ansatz der „Deep Adaptation“ (Tiefenanpassung) , der die tiefenökologische Arbeit um notwenige Einstellungsänderungen angesichts der Klimakatastrophe ergänzt.

Kritik und Auseinandersetzung

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Der Ökokommunalist Murray Bookchin (1992, S. 13 u. 168) greift die Tiefenökologie als antihumanistische, theistische und mystizistische Bewegung an: „Deep Ecology, ‚spirituelle’, antihumanistische und menschenfeindliche ökologische Ansätze führen in die Irre, wenn sie unsere Aufmerksamkeit von sozialen Ursachen auf soziale Symptome ablenken“ (BOOKCHIN 1992, S. 13). Hinter dieser Äußerung steht die Auffassung, dass der Biozentrismus generell und die Tiefenökologie speziell der Menschheit ihren besonderen Wert rauben, wenn sie für Egalität in der Biosphäre eintreten. Damit würde die Gesellschaft gegen die Natur, die Menschheit gegen die Biosphäre ausgespielt. Diese Polarisierung lenkt nach Auffassung von Bookchin (ebd.: S. 10 f.) von den Unterschieden und Spaltungen in der Gesellschaft ab. Denn verantwortlich für die ökologische Krise sei nicht der einzelne Mensch, sondern vielmehr die „habgierige Gesellschaft mit ihren wohlhabenden Nutznießern“, das Geflecht aus „gigantischen Konzernen, korrupten Bürokratien und dem ganzen gewalttätigen Staatsapparat“ (ebd. S. 12). "Bei all ihrem Interesse an der Manipulation der Natur" habe die Tiefenökologie "sehr wenig Interesse an der Frage, wie menschliche Wesen einander manipulieren, außer vielleicht, wenn es um die drastischen Maßnahmen geht, die angeblich ‹nötig› sind für die ‹Bevölkerungskontrolle›." Næss' Ausführungen zur Bevölkerungspolitik ist einer der Hauptkritikpunkte an seinem Konzept. Er sprach sich für einen ‚Rückgang‘ und eine Reduzierung der Menschheit auf ein „vertretbares Mindestmaß“ aus. Diese Überlegungen spielen in den heutigen Varianten der Tiefenökologie keine Rolle mehr; insofern ist diese Kritik überholt und richtet sich ohnehin eher auf Aspekte des Gesamtwerks von Naess als auf seine Vorschläge zur „deep ecology“. Allerdings muss sich die deutsche Tiefenökologie seit 2018 im Zuge der erstarkenden nationalistischen und rechts-politischen Bewegung vermehrt gegen ideologische Vereinnahmung abgrenzen und definiert sich politisch als integralen Bestandteil grüner, kapitalismus- und globalisierungskritischer Bewegungen. Sie versteht sich als Impulsgeber für einen ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Kulturwandel hin zu einer egalitären, freiheitlichen und kulturell vielfältigen Post-Wachstumsgesellschaft für das 21. Jahrhundert. Dies geschieht auf der Basis der Allgemeinen Menschenrechte, die um Naturrechte ergänzt werden. Der französische Wissenschaftssoziologe Bruno Latour sieht die Tiefenökologie als „fundamentalistische Ökologie“. Sie sei einer politischen Ökologie, wie sie angesichts der Umweltbedrohungen nötig sei, genau entgegengesetzt, da sie die Möglichkeiten politischen Gestaltens letztlich leugne. Die Realität zeigt eine gegenteilige, politisch durchaus bewusste und aktive Praxis der Tiefenökologie: Seit 2010 setzen sich Netzwerktreffen und Konferenzen der globalen Zivilgesellschaft vermehrt mit den Ansätzen der Tiefenökologie auseinander und beziehen sie als ein Fundament ihrer politischen Aktionen ein. Ab 2019 identifizieren sich Teile der Jugendbewegungen ‚Fridays for Future' und ‚Extinction Rebellion' mit Aspekten der Tiefenökologie, wenn sie explizit von der ‚Verteidigung der lebenden Erde' sprechen die Parole 'Wir sind Natur, die sich selbst verteidigt' nutzen. Auch für die aktive therapeutische Auseinandersetzung mit Zukunftsängsten angesichts der Klimakrise werden die Erfahrungen der Tiefenökologie nachgefragt.

Gottwald, Franz-Theo / Klepsch, Andrea (Hrsg.): Tiefenökologie – Wie wir in Zukunft leben wollen, München 1995 Heinrichs, Johannes: Öko - Logik. Geistige Wege aus der Klima- und Umweltkatastrophe, München 2007 Loibl, Elisabeth: Tiefenökologie – Eine liebevolle Sicht auf die Erde, München 2014 Macy, Joanna: Geliebte Erde, gereiftes Selbst – Mut zu Wandel und Erneuerung, Paderborn 2009 Macy, Joanna / Gahbler, Norbert: Fünf Geschichten, die die Welt verändern – Einladung zu einer neuen Sicht auf die Welt, Paderborn 2013 Macy, Joanna / Johnstone, Chris: Hoffnung durch Handeln – Dem Chaos standhalten ohne verrückt zu werden, Paderborn 2014 Macy, Joanna / Brown, Molly: Für das Leben! Ohne Warum, Paderborn 2017 Macy Joanna / Johnstone, Chris: Active Hope - der Ökologischen Krise mit Kreativer Kraft und Resilienz entgegentreten, Paderborn 2024 Hamburger, Barbara und Gunter: “Breaking The Silence In Germany” in: Macy, Joanna, edited by Stephanie Kaza: A Wild Love for the World, Boulder, USA 2020, über die Geschichte der Tiefenökologie aus Sicht des Holon-Instituts (keine dt. Übersetzung)

https://unitedearth.us/ United Earth: Deep Ecology (englisch) https://en.wikipedia.org/wiki/Deep_ecology Arne Naess: Deep Ecology (englisch) https://files.eric.ed.gov/fulltext/EJ638001.pdf Arne Naess: Deep Ecology and Education (englisch) https://tiefenoekologie.de/ Die deutsche Seite des Netzwerkes Tiefenökologie https://workthatreconnects.org/ Die amerikanische Seite der Tiefenökologie: The Work that reconnects (englisch) https://www.activehope.info/ Die englische Seite der Tiefenökologie, dort als Active Hope bezeichnet https://www.joannamacy.net/main Die Seite von Joanna R. Macy

Einzelnachweise

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 Arne Næss: The shallow and the deep, long-range ecology movement, in: Inquiry, An Interdisciplinary Journal of Philosophy 16 (1-4), S. 95 – 100 (1973).
 Bill Devall: Die tiefenökologische Bewegung, in: Dieter Birnbacher (Hrsg.): Ökophilosophie, Stuttgart 1997, S. 17–59 (enthält 15 Grundprinzipien der Tiefenökologie).
 Das Wort Holon wurde von dem ungarischen Schriftsteller A. KOESTLER geprägt. Es ist ein Kunstwort, das aus zwei Teilen besteht: Dem griechischen „holos“ (=ganz) und dem Suffix „on“ (als Nachsilbe = ein Teil eines Ganzen). Ein Holon ist somit ein Ganzes, das gleichzeitig Teil eines Ganzen ist, eine wesentliche Charakteristik der Allgemeinen Systemtheorie.
 Roszak, Theodore: Ökopsychologie. Der entwurzelte Mensch und der Ruf der Erde, Stuttgart 1994. 
 Bendell, Jem: https://jembendell.com/2018/07/26/the-study-on-collapse-they-thought-you-should-not-read-yet/, deutsche Fassung: http://lifeworth.com/DeepAdaptation-de.pdf ; sie auch ein Gespräch zwischen Joanna Macy und Jem Bendell vom 05.06.2019 auf Youtube:  https://www.youtube.co/watch?v=k1wUY6945kY&feature=youtu.be
 Murray Bookchin: Die Neugestaltung der Gesellschaft, Grafenau-Döffingen (1992)
 Bruno Latour: Das Parlament der Dinge. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2010, S. 41f.