Benutzer:W.S.Herrmann/Spielwiese/Aulenspeegel

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Datei:Ssaule.jpg
Wie Aulenspeegel seine Aura sieht. Gemälde von Georgia Roeder

Inhaltsverzeichnis

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

1. Ich heiße Till Aulenspeegel

2. Wie Aulenspeegel dreimal getauft wurde

3. Wie Aulenspeegel auf dem Seil tanzte

4. Wie Aulenspeegel seine Saule fand

5. Aulenspeegel im Bienenkorb

6. Wie Aulenspeegel die Kranken heilte

7. Wie Aulenspeegel Engel und Saulen buk

8.Wie Aulenspeegel vom Turme blies

9. Wie Aulenspeegel ein Stück Gottesland kaufte

10. Aulenspeegels Bußgeldbescheid

11. Wie Aulenspeegel einem Esel das Lesen beibrachte

12. Wie Aulenspeegel die Schneider belehrte

13. Wie Aulenspeegel vier Schneider auffliegen ließ

14. Wie Aulenspeegel den Pelzmachern übel mitspielte

15. Wie Aulenspeegel den übel mitspielte

16. Aulenspeegels Weihenacht

17. Wie Aulenspeegel den Schmied vom Stuhl blies

18. Wie Aulenspeegel den Pfarrer überraschte

19. Wie Aulenspeegel starke Bauchschmerzen hatte

20. Wie Aulenspeegel falschen Richtern zum Opfer fiel

21. Aulenspeegels Bestattung

22. Aulenspeegels Erben

23. Aulenspeegels Wappen und Kleidung

Erste Historie: Ich heiße Till Aulenspeegel

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Es läuten die Glocken der Stadtkirche zu Mölln. “Aulen”, “Aulen”, schwer und tief geht´s hin und her: “Aulen, Aulen”. Zwischendurch klingt es heller: “Speegel, Speegel, Speegel”. Das Speegel-Glöckchen geht schneller, und so gibt es ein buntes Durcheinander.: “Au-Speegel-len- Speegel-Spee-Au-gel”. “Lange tot”, sagt dazu die tiefste Glocke, die erst ein wenig später angefangen hat. “Lan- Speegel-Au-Spee-len-ge- Spee-len-Au- tot”. Es ist ein rätselhaftes Durcheinander, das die Glocken da schwatzen. Kaum jemand achtet auf die Botschaft. “Au-Lan-Speegel-len-Spee-ge-tot.”

Ich aber, der ich von höchster Ferne zuschaue, höre, was die Glocken sagen. Sie rufen ihre Meinung hinaus in den dunstigen Morgen, der über dem Möllner See liegt. Sie rufen, was sie wollen, hinein in den Marktplatz, von wo schon einige Bürger zur Kirche herzukommen. Man ist festlich gekleidet, und die Glocken sind dreistimmig. Wahrlich nicht jeden Tag schaltet der Küster alle drei Schwengel ein. Oft genug heißt es nur “Au” und “len” und “Au” und “len”, um zu berichten, dass eine volle Uhrzeit angefangen hat. Danach ein einziges “Tot” für “Ein Uhr”, oder “Lange tot” für nachmittags um drei.

Man möchte denken, dass diese Glocken unbestechlich die Wahrheit verkünden. Die Turmuhr geht pünktlich, und der Klang der Glocken kündet verlässlich die Wahrheit über die Zeit der Zeiten, die sich Gegenwart nennt. In all den Zeiten hat die Möllner Turmuhr objektiv und wahr die Uhrzeit angesagt. Nicht so lange, wie ich schon unter der Erde bin. Aber irgendwann, als man die Uhr erfunden hatte, fingen auch die Möllner Glocken damit an, objektiv zu werden.

Jedoch heute schwatzen sie subjektiv. Sie wollen etwas von Aulenspeegel erzählen. Liebe Freunde, als ob ich da nicht zuhörte! Ich bin doch interessiert daran, was die Glocken über mich schwatzen. Gibt es doch inzwischen genügend Bücher über mich. Die sind still, aber man hat auch Opern aus mir gemacht – schöne und hässliche: genau wie mein Leben verlaufen ist. Die Opern und auch die Theaterstücke, die Lieder und die Moritaten: sie alle erklingen und erzählen von meinem Leben. Aber das Meiste ist Blödsinn.

Es beginnt schon damit, dass sie mich “Eulenspiegel” nennen. Ich heiße Aulenspeegel und habe mit Eulen, wie sie des Nachts Kuit und Kivit rufen, rein gar nichts zu tun. “Aulen” heißt “Reinigen”, und ich reinige die Mitmenschen.

Auch mit dem Spiegel ist mein Name nur sehr indekt verbunden. “Speegel” ist das Hinterteil, und ich reinige durch Hinternzeigen. Natürlich kann man heute meinen Namen nicht mehr denken, ohne dass die in Jahrhunderten dazufantasierten Bedeutungen mitschwingen. So haben die Maler und Bildhauer mir eine Eule und einen Spiegel in die Hand gegeben. Fein sieht das aus, finde ich. Auch die schönen bunten Farben! Richtig fein! – Aber die Maler täuschen sich. Ich war nicht gerade fein angezogen, nicht im Leben und auch nicht im Tod. Wenn ich mal ein paar Thaler hatte, so brauchte ich sie, um zu essen und zu trinken einzukaufen. Klamotten hatte ich aus langer Zeit von irgendwo her. Solange die ihren Dienst taten, wurden sie nicht ausgewechselt.

Und “Lan-Au-Speegel-len-ge” klingen die Möllner Glocken. Ob sie wohl ein wenig von der Wahrheit über mich verkünden? Ich bin gespannt darauf. Aber vorsichtshalber werde ich mal ein wenig hochdeutsch reden. Vielleicht könnt ihr auf diese Weise heute endlich – nach so vielen Hunderten von Jahren, in denen man mehr oder weniger absichtlich die Wahrheit über mich verdreht hat – etwas Wahreres über mich zur Kenntnis nehmen.

Ihr müsst dabei bedenken: die Leute hatten ein Interesse daran, mein Leben falsch zu erzählen. Immerhin hatten sie sich viele Male – jeder auf seine Weise – dumm angestellt. Am Ende hatten sie mich sogar zum Tode verurteilt, obwohl ich niemals Böses begangen hatte. Man fühlte sich nur immer wieder falsch gespiegelt. Und wie ihr wisst, die schlimmsten Beleidigungen sind die, die wahr sind. Allerdings sagen die Gesetze aller Zeiten, dass die Wahrheit nicht als Beleidigung verurteilbar ist. Das passiert den Menschen nur immer wieder. Und so ist es auch bei mir gewesen. Die Mächtigen haben sich beleidigt gefühlt. Darum hat man mich davon gejagt.

Am Ende war meine Hinrichtung ja auch eine Art des Davonjagens. In die Hölle, haben sie gedacht. Aber das ist es, was euch die Glocken heute vor allem verkünden. Ich schaue aus dem Licht zu euch herab. Ich bin niemandem mehr böse. Das mag zu Lebzeiten manchmal anders gewesen sein. Aber über dem langen Weg vom 14. Jahrhundert bis zum Möllner Glockengeläut von heute liegt der Mantel des Verzeihens. Nicht des Vergessens, denn wir wollen alles haarklein wiedererzählen. Diesmal ohne Bemäntelung bürgerlichen Beleidigtseins. Diesmal wie es die Glocken sagen: “Au-len-speegel-lan-ge-tot”.

Zweite Historie: Wie Aulenspeegel dreimal getauft wurde

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Datei:Tauffe.jpg
Aulenspeegels Taufe: Gemälde von Georgia Roeder

Ich muss gestehen, dass ich mich nicht mehr genau erinnere. Immerhin war ich noch nicht einmal ein Jahr alt. Aber meine Erwachsenen - also mein Vater Claus Aulenspeegel und meine Mami Ann Wibcken - haben mir die Geschichte wieder und wieder erzählt. Und ich weiß darum ziemlich genau, wie sich meine Taufe eignet hat.

Zuerst war da die Kirche mit dem entsetzlich kalten Taufbecken. Warum muss eigentlich das Wasser in diesen Becken immer nur scheußlich kalt sein? Quälerei ohne Sinn für das Wesentliche, wie ich meine.

Aber das kalte Wasser war nicht der Hauptgrund für meine Proteste. Der Pfarrer nannte mich Till Eulenspiegel. Also ihr wisst schon: so wie es sich auf »Igel« oder »Riegel« reimt; und vor allem am Anfang: EU wie der mitternächtliche Vogel - obwohl ich mit AU anfange wie »Aua« oder »Auto«.

Ich hörte diesen Unsinn und fing an zu schreien. Seither - glaube ich - ist lautes Brüllen meine Spezialität. Ich habe darum einen entzündeten Hals; und manchmal, wenn ich so laut schreie und japse, passiert mir heute noch ein Husten, der kaum wieder aufhört.

»Ich taufe dich auf den Namen Till Eulenspiegel«. Ihr könnt euch denken, dass ich alle Kraft zusammengenommen habe, um den Pfarrer zu überschreien. Am Ende würde dieser falsche Name noch in mein Familienstammbuch eingetragen - nur weil der Pfarrer nicht richtig sprechen kann!

Endlich war die falsche Namensgebung überstanden, und man versuchte, mich nach Hause zu tragen. Der Weg führte über eine kleine Brücke - eine Art Steg; und darüber führte der Weg. Meine Mami trug mich auf dem Arm und redete mir ständig gut zu: »Mein kleiner Eulenspiegel, sei endlich still! Jetzt bist du warm und trocken, und Namen sind Schall und Rauch. Warum also weiter so grässlich brüllen?«

»Von wegen!« dachte ich. »So einfach werdet Ihr mich nicht auf den falschen Weg bringen. Ich reiße einfach aus!«

Ich lehnte mich zu weit über den Rand meines Taufkissens, meine Mami verlor das Gleichgewicht, und wir fielen gemeinsam in einen schlammigen Bach. Es war Sommer. Darum führte der Bach wenig Wasser. Aber Schlamm war genügend vorhanden, so dass wir beide - meine Mami und ich - über und über dreckig wurden. Ein Spaß war das für mich: »Voll geil!« würde man sagen, wenn so etwas heute passieren würde.

Als Vater, Onkels und Tanten uns endlich aus dem Schlamm gezerrt hatten, lästerten alle, ohne ein Mindestmaß an Taktgefühl zu wahren: »Der kleine Till: nun ist er zum zweiten Mal getauft!« »Solange sie Till sagen,« dachte ich, »ist die Welt für mich in Ordnung." Ich schwieg also still und versuchte, ein wenig zu schlummern.

Plötzlich erwachte ich. Es war angenehm warm und mich herum; und Mami sagte nette Sätze zu mir: »Mein kleiner Spatz! Jetzt wollen wir dich reinigen. Ein richtiger normaler Mensch sollst du wieder werden.«

Ich weiß noch, wie mir die Worte fehlten. »Mamma« und »da« konnte ich zu dieser Zeit sagen - nicht mehr und nicht weniger. Aber ein normaler Mensch zu werden: das schmeckte mir gar nicht. So schrie ich wieder, so laut ich nur konnte. Keiner verstand mich. Aber ich wusste, dass meine Stunde geschlagen hatte. Ich war ausersehen, gegen den normalen Menschen zu protesieren. »Normal,« dachte ich: »das heißt Eulenspiegel. Ich aber - liebe Mutter, lieber Vater, liebes Einwohnermeldeamt und lieber Pfarrer - ich heiße Aulenspeegel, so wahr mir Gott helfe!« Und mit diesem Wasser in der Baby-Wanne war ich zum dritten Male getauft. Oh wenn man mir doch wenigstens einmal meinen richtigen Namen gegeben hätte!

Dritte Historie: Wie Aulenspeegel auf dem Seil tanzte

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Datei:Sseiltanz.jpg
Aulenspeegel tanzt auf dem Seil: Gemälde von Georgia Röder

Wisst ihr, wie man auf einem Seil tanzt? Man nennt es oft Körperbeherrschung. Wenn also einer seinen Körper beherrscht, kann er eventuell auf einem Wäscheseil von einem Dachfenster über den Fluss hinweg bis ins Dachfenster des Rathauses balancieren. »Seiltanzen,« werdet ihr sagen, »kann man von Haus zu Haus! Dazu braucht man doch das Rathaus nicht.«

Aber ich, liebe Freunde, ich - Till Aulenspeegel - sage euch: Seiltanzen ist immer ein Balancieren vom Elternhaus in die Öffentlichkeit. Ich, zum Beispiel, habe den Seiltanz geübt. Man benötigt gute, feste Schuhe. Und man benötigt eine Saule, die haargenau über den Schuhen steht.

Ihr wisst ja: ich habe eine Saule; du hast eine Saule. Zusammen haben wir zwei davon. Wir haben zwei Saulen. Wer keine Saule hat, kann unmöglich vom Elternhaus aus dem Dachfenster hinüber balancieren bis ins oberste Geschoss des Rathauses.

Ich aber Till Aulenspeegel, habe diesen Seiltanz erlernt. Mein Vater hat mir gutes Benehmen beigebracht. Wenn z.B. einer der Lehrer vorbeikommt: dann muss man »Guten Morgen« sagen und sich verbeugen.

Mein Vater kannte auch die Gemeinderäte. Und er hat mir beigebracht, diesen bedeutenden Herren unserer Stadt mit glaubwürdiger Ehrerbietung meinen Gruß auszubringen. Das Seil vom Elternhaus zum Rathaus war sozusagen fest gespannt - auch wenn wir aus der Vorstadt die Brücke über den Fluss nehmen mussten, um zum Hause der weisen Stadträte zu gelangen.

Manchmal habe ich nicht richtig aufgepasst. Wisst Ihr, ich bin gerne mal in Gedanken. Dann gehe ich so vor mich hin und denke. Ich denke über Baustellen nach, die eine hinter der anderen den Weg versperren. Über Politessen denke ich auch nach, wenn sie die Autos mit albernen Zetteln behängen. Und ich denke über Plakate nach, wenn mir allen Ernstes versichert wird, Herr Meyer - unser Bürgermeister - würde sich um mein Wohl bemühen. Keineswegs würde Herr Meier einen billigen Acker vor der Stadt kaufen, den er zwei Jahre später als teures Baugrundstück verhökert.

Ich will euch nur Beispiele geben, die euch zeigen, dass ich manchmal in Gedanken bin. Und wenn dann ein Lehrer oder gar einer der von meinem Vater so hoch geschätzten Ratsherren vorbeikommt, dann kann es passieren, dass ich ihn nicht grüße; nicht weil ich unhöflich bin! Ich habe nur gedacht.

Mein Vater - Gott hab ihn selig; er ist leider frühzeitig verstorben - hat mich manchmal übers Knie gelegt, weil ich - wohlgemerkt in Gedanken - wieder einmal einen Ratsherren nicht gegrüßt hatte. Meine Saule fand das nicht gut. Sie dachte, dass Väter lieben sollen - nicht prügeln. Auch nahm ich mir vor: wenn ich selbst einmal Kinder haben sollte, würde ich sie vor Stadträten, Schulräten und Ober-Justizbefugten in Schutz nehmen.

Aber zurück zum Seiltanz! Ich will euch doch von meinem Seiltanz erzählen. »Aulenspeegel«, sagte meine Mutter immer wieder zu mir - Vater war inzwischen gestorben, und sie hatte es nicht leicht mit mir und meinen drei Geschwistern. »Aulenspeegel,« sagte sie, »bitte ängstige mich nicht mit deinen Seiltänzen! Was gehen dich die Baugrundstücke der Ratsherren an! Lerne lieber deine Vokabeln für den Englisch-Unterricht! Und präge dir ein, dass du Eulenspiegel heißt!«

Ich aber nahm ein Wäscheseil und band es am Fensterkreuz meines lieben Elternhauses an. Dann wanderte ich - ganz in Gedanken - über den Fluss bis hin zum Rathaus. Man hatte wieder einmal die Hauptstraße gesperrt, weil man zugleich am Rathaus und am Postamt Renovierungen durchführen ließ. Ich konnte also unbemerkt am Gerüst emporsteigen, um mein Seil im obersten Stockwerk des Rathauses zu befestigen. Eine straffe Verbindung hatte ich hergestellt zwischen meinem verstorbenen Vaterhaus und den Räten unserer Stadt - die wieder einmal ein Gerüst benötigten, um ihr gewaltiges Ansehen aufzubessern.

Nun stellt euch vor, wie meine Saule auf dem Seil entlangbalancierte! Kaum bin ich aus meinem Elternhaus heraus und balanciere meinen Weg auf dem Seil zum Rathaus, da versammeln sich die Leute unter mir. »Schau da oben! Dass der keine Angst hat! Wenn der herunterfällt, gibt es einen scheußlichen Fleck auf dem Bürgersteig. Stell dir vor, einer wird verletzt, wenn der da von oben auf jemanden herabstürzt! Verbieten sollte man diese Seiltänzereien in aller Öffentlichkeit. Kann dieser Lümmel nicht - wie alle normalen Menschen - auf dem Bürgersteig zum Rathaus gehen? Wenn der balancieren will, kann er auf der Bordsteinkante entlangtippeln. Das wäre weniger gefährlich: für ihn selbst und auch für uns, die wir die Bürger sind; die ganz normalen Bürger - die auf dem Bürgersteig zum Rathaus gehen.«

»Kinder,« rief ich vom Seil herab. Denn ich dachte, es wäre gut, vor allem die Kinder anzusprechen. »Kinder, wenn Ihr mir zuschauen wollt, müsst Ihr mir etwas bezahlen. Sonst mache ich Kehrt und verschwinde einfach wieder in meinem braven Elternhaus. Ihr müsst mir etwas von eurer Saule geben.«

Als ich das Wort »Saule« aussprach, geriet ich aus dem Gleichgewicht und musste herunter an meinen rechten Schuh greifen, um die Balance zu wahren. Die Kinder meinten daraufhin, sie sollten mir ihren rechten Schuh geben. Sie legten jeder ihren rechten Schuh in einen Wäschekorb - und man befestigte den Korb an einem Stück Seil, das ich herunter reichte. Ich nahm den Wäschekorb mit den Schuhen an langer Leine zu mir herauf und sah nach, ob auch jeder seinen rechten Schuh gegeben hatte. »Wenn sie mir schon nichts von ihrer Saule geben,« so dachte ich, »dann soll es der rechte Schuh sein. Etwas von rechts will ich haben, damit sie rechts ein bisschen nackig sind, während ich ihnen zeige, wo's langgeht auf dem Weg vom Elternhaus zum Rathaus.«

Freunde, Ihr kennt mich. Als ich erst einmal den Wäschekorb voller Schuhe hatte, da gab's für mich kein Zurück mehr. Ich musste den Korb nehmen. Und am langen Seil pendelte ich ihn hin und her - und her und hin -, bis genügend Schwung erreicht war. Im rechten Augenblick - wohl gemerkt: nicht im linken - ließ ich das Pendel los, und der Wäschekorb mitsamt den Schuhen sauste in den Fluss und schwamm davon. Entlang der Strömung. So wie alles davonschwimmt, wenn erst einmal eine Hauptströmung erreicht ist.

»Hähähä,« lachte ich von oben herab und verkroch mich in meinem Vaterhaus. Schnell schnitt ich noch das Seil von unserem Fensterkreuz. Denn es sollte niemand beweisen können, dass ich das Seil aus unserem Fenster zum Rathaus gespannt hatte. Man hätte sonst Mutter zur Verantwortung gezogen. Sie müsste die rechten Schuhe ersetzen: alle 20 Schuhe, die ich in den Fluss gependelt hatte.

Denkt einmal nach, welche Schwierigkeiten meine Mutter bekommen hätte. Man kann doch nicht einfach ins Geschäft gehen und 20 rechte Schuhe kaufen. Schuhe gibt es nur paarweise. Da gehört immer ein Linker mit dazu; und eben diesen Linken, der vielleicht von Herzen kommt: diesen linken Schuh wollte keiner haben.

Ich entfernte alle Reste meines Seiles vom Fensterkreuz und kroch in mein Bett zum Zeichen, dass ich krank sei. Hüsteln und Schluchzen, Stöhnen und aus dem Hintern kacken - dachte ich mir! So kannst du die Polizei überzeugen. Denn natürlich kamen sie: die Obermeister von der Polizeiwache. »Frau Eulenspiegel!« - wieder dieser falsche Name! - »Frau Eulenspiegel, Ihr Sohn hat die rechten Schuhe verdorben. Sie müssen 20 Paar Schuhe ersetzen!«

Man kam in mein Krankenzimmer und sah mich mit meinem Hintern im Bette liegen. Ich hustete heftig und ächzte. Denn man sollte sich davon überzeugen, dass ich Bettruhe brauchte. So ein Kranker konnte unmöglich auf dem Seil über alle Köpfe hinweg getanzt sein.

Drei Wochen lang blieb ich im Bett, denn ich hatte die Hoffnung, dass alle Kinder nach drei Wochen ein neues Paar Schuhe haben würden. Besonders den rechten Schuh - der bekanntlich nicht von Herzen kommt - würden Sie wieder tragen; und mein Schabernack mit Seiltanz und Schuhen würde vergessen sein. Man hatte sich blamiert und wollte von der albernen Geschichte nichts mehr hören. Denn man ging auf dem Bürgersteig vom Elternhaus zum Rathaus; und wenn einer balancieren wollte, tölpelte er auf der Bordsteinkante: rechts hoch - links unten - rechts wieder hoch, und links wieder unten: so gehört es sich!

Vierte Historie: Wie Aulenspeegel seine Saule fand

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Datei:AAura.jpg
Wie Aulenspeegel seine Aura fand: Gemälde von Georgia Röder

Ich kam in Magdeburg bei einem Barbier vorbei. Der Meister stand Pfeife rauchend vor seiner Ladentür und ließ die Abendsonne in seine Seele. Ich schaute in die Fenster und sah, dass mehrere Stühle vor große Spiegel gestellt waren. Da bekam ich Lust, mir den Laden einmal anzuschauen.

"Meister", sprach ich, "wollt Ihr mit mir eine Wette abschließen?"

"Mein Junge", gab der Barbier zur Antwort, "behalte dein Taschengeld! Und schließe keine Wette mit Erwachsenen ab! Die haben am Ende doch immer Recht."

"Und wenn es diesmal aber anders wäre? Oder seid Ihr zu feige, es mit einem Jungen aufzunehmen?"

"Nun denn," sprach der Barbier, "einen Thaler will ich gegen deine 5 Groschen setzen. Was willst du behaupten?"

Ich holte eine kleine Stoffpuppe aus der Tasche. Sie sah aus wie eine echte Eule, und ich rief dazu: "Kuit, Kuit!"

"Was willst du denn mit dieser närrischen Babypuppe! Bist du denn noch nicht aus dem Puppenspielalter heraus?" wunderte sich der Alte.

"Lasst mich vor einen Eurer Spiegel treten, und Ihr werdet sehen, dass Eulenspiegel einen bunten Heiligenschein trägt, wie Ihr ihn noch nie zuvor gesehen habt!"

"Was brauchst du dafür meinen Spiegel! Aber wie du willst! Geh hinein. Du kannst dich vor einen meiner großen Spiegel setzen und deine Thorheiten ausprobieren. Geh nur voran, und rufe mich, wenn du alles vorbereitet hast. Ich will dann nachkommen und nach dem Rechten sehen."

Ich ging hinein und nahm vor einem seiner schönen großen Spiegel Platz. Dann zog ich eine Eulen-Puppe aus meiner Jackentasche um die herum ein bunter Heiligenschein genäht war. Ich schloss die Augen und sah mich selbst mit meiner Aura. Es sah aus, als schwebte eine helle Gestalt wie ein weiß-blauer Schatten hinter mir, über mir und um mich herum. Dann wurde ich müde und schlummerte ein wenig ein.

Als ich wieder aufwachte, hatte der Meister mir sorgsam ein Kopfkissen hinter den Kopf geschoben. Meine Aura schimmerte hellblau und schön, und ich freute mich, dass ich so schön im Spiegel aussah. Offensichtlich war das meine Saule. Ob sie mich wohl darum "Aulenspeegel" nennen?

Auf dem Rasiertisch lag ein nagelneuer, blinkender Thaler. Der Meister war wohl schon zum Abendessen gegangen. Still und vergnügt machte ich mich davon. Es ist eine Freude, von guten Geistern umgeben zu sein.

Fünfte Historie: Aulenspeegel im Bienenkorb

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Datei:Bbienenkorb.jpg
Aulenspeegel im Bienenkorb: Gemälde von Georgia Röder

Liebe Freunde, man kennt heute kaum noch den Bienenkorb. Aber zu meiner Zeit - also vor etwa 700 Jahren - waren Bienenkörbe eine Art von Schatz. Man hatte lange Zeit Bienen gezüchtet, und das Bienenvolk hatte Honig angesammelt. Jetzt hatte man die Bienen verjagt und einen mehr oder weniger schweren Korb mit Honig zurückbehalten: je mehr Honig die verjagten Bienen angesammelt hatten, um so schwerer war der Korb.

Stellt euch vor, ich hatte mir einen Schwips angetrunken. Ich war 15, und es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich einen Schwips hatte. Um meinen Rausch auszuschlafen, kroch ich in einen Bienenkorb. Es dauerte keine 3 Minuten, und ich war eingeschlafen. Wie schon oft träumte ich von meinem früheren Leben. Ich muss ein Imker gewesen sein: also einer, der Bienen züchtet; und ich hatte meine Bienen sehr lieb.

Wie diese Tiere tanzten und sich gegenseitig halfen, das war mir damals wie heute eine große Freude. Darum schlief ich in schönstem Traume, als man an meinem Bienenkorb schüttelte. Zwei Diebe waren gekommen, weil sie meinen Korb klauen wollten. "Der hier", sagte der erste Dieb - und er meinte den Korb, den er angehoben hatte, - "ist der schwerste. Hier muss besonders viel Honig drin sein."

"Was wartest du noch!" schimpfte der andere Dieb. "Pack an," wir tragen den fort!" Schaukelnd und ächzend wurde ich Schritt für Schritt fortgetragen und musste mir Sorgen machen. Wann würden die Diebe mich entdecken? Und wie zornig würden sie werden, wenn sie anstatt des erwünschten Honigs mich finden würden: mich, einen fast noch kindlichen Jungen, der sich auf der Kerb einen ehrlich erworbenen Schwips angetrunken hatte?

Es war völlig außer Frage: ich musste den Schuften einen Streich spielen. Zuerst schlüpfte ich aus dem Korb und zerrte dem Vordermann die Haare. Er drehte sich um, aber ich war schon wieder in meinem Bienenkorb verschwunden.

"Du Arschloch!" rief der vordere Dieb in seiner ungeheuren Ausdrucksweise. "Willst mein Kumpel sein? Und ziehst mir derart die Haare? Ich hätte gute Lust, dir mal die Ohren gehörig lang zu ziehen! Du altes Arschloch!"

Der Hintermann wunderte sich und starrte vor sich hin. Er dachte an Honig, und dass er viel Geld erwirtschaften werde, wenn sie den schweren Bienenkorb auf dem nächsten Wochenmarkt zum Verkauf anbeiten würden.

Jetzt kroch in wieder aus dem Korb und zog dem Hintermann die Haare lang, dass er aufschrie vor Schmerzen. Ein ganzes Büschel von Diebeshaaren hielt ich in meiner kleinen, frechen Hand.

Er schlug nach mir, aber ich war schon wieder entwischt und sicher in meinem Bienenkorb versteckt. "Okay!" dachte ich. "Diese zwei Tunichtgute werden keinesfalls an ein Geistwesen glauben, das aus dem Jenseits kommt und bösen Buben die Ohren lang zieht. Sie werden glauben, der Andere sei der Schuft. Der Andere - so böse wie Diebe sind - will mich zerren, dass ich den Korb fallen lasse: damit er den gesamten Honig vermarkten kann."

Freunde, ich sage euch: ich bin kein Unerfahrener. Aber wie die Zwei sich gegenseitig in die Haare gegangen sind: so etwas hatte ich bis dahin noch nicht gesehen.

Kann denn ein Tier einem anderen so heftiges Leid zufügen, ohne sich Gedanken über eigene Schmerzen zu machen? So viele Faustschläge auf dieselbe blutige Wunde des Gegners! Das war mit meinen Begriffen von Nächstenliebe und schalkhaftem Spott nicht vereinbar.

Aber ich hatte den Streit nun einmal angezettelt; und so musste ich zumindest versuchen, der mörderischen Schlägerei Einhalt zu gebieten. Ich kletterte furchtsam aus meinem Bienenhäuschen und beschwor die kämpfenden Diebe: "Aufhören! Aufhören! Ihr thorhaften Diebe! Bevor ihr euch gegenseitig umbringt, will ich erklären, wie alles sich zugetragen hat."

Aber die kämpfenden Ungeheuer hörten mich nicht. Sie schlugen die Schnauze und brachen die Knie. Sie dachten nur Rache bis spät in der Früh.

Oh ich armer Aulenspeegel! Schon sein 700 Jahren wird es mir angelastet, dass ich die beiden Bienenkorb-Diebe zum Totschlag verleitet hätte. Aber ich habe mit Engelszungen gerufen: "Jungs, hört mich! Es war ein Scherz."

Sie waren zum Morden geboren. Keine 10 Pferde hätten sie davon abhalten können, einer den anderen jämmerlich zu erdrosseln.

Ich aber, Till Aulenspeegel, hatte überlebt. Meine Bienen, die ich früher wie heute sehr liebte, hatten mich wohl in Schutz genommen. Mein guter Bienengeist hatte mich gerettet.

Sechste Historie: Wie Aulenspeegel die Kranken heilte

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Datei:Kkrankenhaus.jpg
Wie Aulenspeegel die Kranken heilte: Gemälde von Georgia Röder

In Lübeck sprach ich beim Oberbürgermeister vor. Er hatte bekanntgegeben, dass er einen neuen Doktor für sein Krankenhaus sucht.

»Unser Hospital,« sprach er, »ist überfüllt. Allzu viele eingebildete Kranke liegen da herum und wollen nicht nach Hause gehen. Wenn aber einer kommt, der wirklich Hilfe braucht, dann haben wir kein Bett für ihn frei.«

»Lasst mich nur machen,« gab ich zur Antwort. »In drei Wochen sind 100 Betten leer. Dann könnt Ihr genauso viele Kranke neu aufnehmen.«

»Wenn Ihr das schafft,« atmete der Oberbürgermeister auf, »dann gebe ich Euch 5000 Taler.« Ich wusste natürlich, dass ich mehr verlangen musste; sonst würden die Leute glauben, ich sei ein billiger Doktor; und billige Ärzte haben schlechte Chancen.

»Ihr müsst mir 10.000 geben, und zwar heute schon. Denn ich muss teure Pillen herstellen, um Eure Kranken zu heilen.« Der Oberbürgermeister willigte ein und gab mir die geforderte Summe.

Zu Hause - das heißt in meiner Jugendherberge, die sich in der Nähe des Doms befand - mischte ich mir acht Töpfe voll Brei, aus dem ich um Mitternacht Pillen formen wollte. Eine Schüssel mit saurem Brotteig. Sie war besonders groß, denn ich brauchte den Teig als Füllung für alle meine Kügelchen. Für die Umhüllung der Tabletten wählte ich Zuckerguss aus verschiedenen Farben:

Rot für die Gebein -

Rot-Gelb für den Po.

Für Leber und Galle soll's hellgelb sein.

Grün, dass das Herz wird froh.

Der Hals braucht ein helles Blau.

Die Stirn mach´ mit Lila schlau!

Für alles, was oben im Kopf ist,

weiße Pillen ihr nehmen müsst.

Am Abend rollte und knetete ich die Kügelchen. Als die Turmuhr zwölfmal schlug, tauchte ich die Pillen in Farbe:

"Rot für die Gebein, Gelb-rot für den Po. Für Leber und Galle soll's hellgelb sein. Grün, dass das Herz wird froh!"

So flüsterte ich um Mitternacht, bis alle Pillen fein bunt waren.

Am nächsten Morgen ging ich ins Hospital. Ich trug meinen weißen Kittel, und hinter mir ließ ich 10 Assistenten laufen. Sie zogen den Wagen mit den Krankenblättern und wisperten Gerüchte: »Der Eulenspiegel soll ein berühmter Doktor sein. Der heilt die Leute durch Handauflegen.«

Zuerst trat ich ans Bett einer alten Dame. Sie war vor Monaten hingefallen und hatte ihr rechtes Bein gebrochen. Das Bein war eingegipst worden und zusammengeheilt, aber sie konnte nicht wieder gehen. Sie war hilflos geblieben, weil ihre Saule es wollte. - Ihr wisst ja, liebe Kinder:

»Ich habe eine Saule, du hast eine Saule. Wir haben zusammen zwei Saulen.«

Ich setzte mich zu ihr und redete mit ihr. Sie erzählte mir, dass sie zu Hause allein war. Ihr Mann war schon gestorben, und alle Kinder lebten irgendwo in der Welt.

»Nehmt diese rote Pille, und schließt die Augen,« sagte ich. »Ich werde Euer krankes Bein anfassen: ungefähr da, wo's gebrochen war. Dann werde ich die Augen schließen und an Euch denken. Macht bitte auch die Augen zu, und lasst Eure Gedanken baumeln!«

Kaum hatte ich die Augen geschlossen, sah ich die alte Dame: wie sie auf einem Stuhl saß, und ihre Beine waren rot. Sie hatten Wurzeln und reichten tief in die Erde; und überall, wo die Wurzeln hin wuchsen, war die Farbe dunkelrot.

Nach 10 Minuten öffneten wir beide die Augen. Die alte Dame war fröhlich und fragte, wann sie entlassen werden solle. Ich gab zu bedenken, dass ich noch zweimal wiederkommen müsse: morgen und übermorgen. Aber in drei Tagen dürfen Sie meinetwegen nach Hause.

»Dr. Aulenspeegel!« sagte die Alte und ging mit mir zur Zimmertür. Ich danke Euch für Eure Geduld. Ihr habt mir sehr geholfen.«

Jetzt kam ich zu einem nicht mehr ganz jungen Mann. Er hatte einen Herzinfarkt überlebt. Man hatte ihm ein Stück Ader an seine Herzwand genäht, und das Blut floss wieder überall hin, wo es gebraucht wurde. Trotzdem lag er im Bett und sagte: »Mein Herz geht nicht richtig im Takt. Ich weiß nicht ob´s je wieder klappt.«

Ich gab ihm eine grüne Pille und legte meine Hand auf sein Herz. Mit geschlossenen Augen sah ich, wie sein Herz schlug: grünes Blut; überall hin. Nach 10 Minuten öffnete er die Augen und fragte, wann er nach Hause dürfe. »Zweimal,« sagte ich, »muss ich noch wiederkommen: morgen und übermorgen. Aber in drei Tagen dürft Ihr nach Hause.«

Schließlich kam ich zu einem sehr alten Mann. Er war nicht ganz klar im Kopf, und ich gab ihm eine lila Pille. Dann schloss ich die Augen und sah seinen Kopf. Durch und durch war er Lila, und das Blut floss wieder durch seinen Schädel. Nach 10 Minuten öffneten wir beide die Augen. Ich fragte ihn: »Wieviel ist dreizehn mal 12?«. »Zwölfmal 12," gab er zur Antwort, »ist 144. Und 12 dazu macht 156; und wann kann ich nach Hause?«

»Zweimal muss ich noch kommen: morgen und übermorgen. Aber am dritten Tag könnt Ihr nach Hause.«

Einige Wochen trieb ich mein schönes Spiel im Krankenhaus, bis ich merkte, dass hinter meinem Rücken getuschelt wurde: »Der ist doch kein richtiger Doktor! Wir wollen wissen, was er in seinen Pillen hat; und wehe, da ist nur Brotteig drin und Zuckerguss! Dann wollen wir ihn ins Gefängnis werfen.«

Ich packte bei Nacht meine sieben Sachen und machte mich aus dem Staube. Meine Saule nahm ich mit, denn ich wusste, dass ich sie auch anderswo brauchen würde. Freunde, Ihr wisst ja:

»Ich habe eine Saule. Du hast eine Saule. Zusammen haben wir zwei Saulen.«

Siebente Historie: Wie Aulenspeegel Engel und Saulen buk

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Datei:Eengelbäcker.jpg
Aulen bäckt Engel und Saulen: Gemälde von Georgia Röder

Ich wollte wieder einmal nach Braunschweig, denn ich war ja in der Gegend geboren und getauft. Viele Jahre lang hatte ich mich nicht getraut, mich auch nur in der Nähe meiner Heimat blicken zu lassen. Vielleicht würde sich einer der Jungen von damals an mich erinnern und mir es nach wie vor verübeln, dass ich seinen rechten Kinderschuh in den Fluss geworfen hatte. - Jetzt aber fasste ich mir ein Herz und wanderte in die Nähe meiner Kindheit.

Unterwegs fragte ich einen Bäckermeister, der gerade in der Sonne vor seinem Laden stand: »Guten Tag, Herr Bäckermeister, könnt ihr mir den Weg nach Braunschweig weisen?« Er erkundigte sich nach meinem Namen, wer ich denn eigentlich sei. »Till,« gab ich zur Antwort, und ich wusste, dass dies nur die halbe Wahrheit war. Hätte ich ihm meinen Nachnamen genannt, wäre er vielleicht misstrauisch geworden.

Soweit sprach ich wenigstens nur die halbe Wahrheit. Jedoch fing ich jetzt erst so richtig an zu lügen. »Ich bin Bäckergeselle und will mir in Braunschweig einen Meister suchen.« »Wenn das so ist,« entgegnete der freundliche alte Herr, »dann brauchst du den langen Weg in die Großstadt nicht weiter fortzusetzen. Mein Geselle ist gerade gestern weitergezogen. Wenn du willst, kannst du gleich bei mir anfangen. Ich gehe heute zu meinem Skatabend und möchte morgen früh ein wenig ausschlafen.«

Er zeigte mir seine Backstube und seine Vorratskammer. Ich sollte früh um vier anfangen und Brot und Brötchen backen und vielleicht einen Kuchen und eine Torte. »So was Langweiliges!« gab ich zur Antwort. »Sollten wir nicht einmal 100 Schutzengel und 200 Saulen zum Verkauf anbieten?«

Mein Meister hörte mir kaum noch zu. »Mach, was du willst!« murmelte er und zog seinen Sonntagsanzug mit Schlips und Kragen an.

Natürlich fragte ich mich, wie Engel aussehen. Ich dachte an lange, weiße Gewänder und zwei Flügel auf dem Rücken. Schaut euch vielleicht einmal Eulen an oder andere Vögel. Sie haben anstelle von Armen ihre Flügel und außerdem zwei Beine, mit deren Krallen sie allerhand festhalten können. Engel aber haben Arme und Flügel. Das wurde mir plötzlich ganz und gar klar.

Und nun erst die Saulen! Ihr wisst ja: ich habe eine Saule, du hast eine Saule. Zusammen haben wir zwei Saulen. Eine Saule ist etwas tief in unserem Herzen; und da man die Saule nicht so ohne Weiteres malen oder gar aus Teig formen kann, nahm ich mir vor, als Hinweis auf die Saulen lauter Herzen zu kneten. Manche blieben braun und knusprig, die meisten aber bekamen einen roten Zuckerüberguss.

Am nächsten Morgen kam der Meister pünktlich um neun in den Laden und wollte Brötchen und Brot verkaufen wie üblich. Er traute seinen Augen nicht, denn im Schaufenster standen die Erzengel Michael und Gabriel; auch viele Schutzengel - wie zum Beispiel mein eigener und der des Meisters. Sie hatten Flügel und Arme und lange weiße Gewänder aus Zuckerüberguss. Dazwischen schmückten meine Seelen-Herzen das Schaufenster: Rote zumeist und dann wieder ein paar dunkelbraune. Voller Erwartungen schaute ich zum Meister auf. Denn obwohl ich kein gelernter Bäckergeselle war: die Saulen und die Engel waren mir prächtig gelungen.

»Packe deine Engel und Schutzengel ein; und deine Saulen - wie du sie nennst. Und lasse dich nicht mehr wieder hier blicken. Sonst rufe ich den Polizeimeister, dass er dich einsperrt, du dummer Stümper!«

Traurig, aber hurtig nahm ich zwei Körbe und zahlte dem Bäckermeister sogar noch eine kleine Gebühr für Mehl und Zucker und für die zwei Körbe.

Dann wanderte ich weiter: meinen Wanderstab auf der Schulter. Ein Korb baumelte vor mir, und einer pendelte hinter mir her.

Kaum war ich in dem Nachbarort angekommen, liefen die Kinder mir nach. Sie holten sich etwas Geld von den Eltern und erstanden sich je nach Reichtum einen Engel und eine Saule oder gar mehr davon.

Am Abend zog ich weiter. Sogar die Körbe hatte ich noch mit Gewinn verkaufen können; und nun baumelten an meinem Wanderstab zwei prall gefüllte Geldsäcke. In einem war der Erlös für die Engel und in dem anderen der Erlös für die Saulen.

Achte Historie: Wie Aulenspeegel vom Turme blies

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Datei:Tturm.jpg
Wie Aulenspeegel vom Turme blies: Gemälde von Georgia Röder

Der Graf von Bernburg hatte ein wunderschönes Schloss. Eine Prinzessin schaute zum Erkerfenster heraus, und im Schlosshof saßen die Ritter an langen Tischen. Sie tranken Wein und aßen den lieben langen Tag.

Aber nachts, wenn die Herren schon betrunken und halb eingeschlafen waren, erschienen vom Turm her Gespenster. Manchmal waren es freundliche Gestalten, die Zuckerwatte brachten und gute Ratschläge erteilten. Zum Beispiel rieten sie der Prinzessin, einen Junker, der immer sehr angab und prahlerische Reden führte, nicht vorzulassen. Statt seiner sollte sie einmal den Junker Piependeckel anschauen. Der war bescheiden und gebildet; und wenn es zum Kampfe kam, war Juncker Piependeckel immer in allererster Reihe. Den Junker Prahlhans hingegen fand man mehr hinten, wo´s keine Feinde gab und keine Kugeln hagelte.

»Piependeckel!" riefen die guten Nachtgespenster. »Komm zum Turm! Und bringe deine Gitarre mit! Von hier kannst du dem Fräulein ein Ständchen bringen.« Wenn aber der Prahlhans kam, dann pfiffen sie laut, dass von seinem Gesang nichts zu hören war.

Wie fast überall, so gab es auch im Turm des Grafen von Bernburg böse Schlossgespenster. Ein alter Graubart zum Beispiel kam in rasselnden Ketten. Er war wohl hingerichtet worden, weil er einen Mord begangen hatte. Da er aber nun immer noch nicht eingesehen hatte, dass sein Mord böse war, so musste er in Ketten bleiben und nachts grässliche Drohungen ausbrüllen. Einmal schwor er sogar, den Grafen umzubringen, weil er ihn habe hinrichten lassen.

Kein Wunder also, dass der Graf einen Turmbläser benötigte. »Eulenspiegel,« sprach der Graf. - Freunde, ihr wisst ja inzwischen, dass die Leute meinen Namen oft falsch aussprechen: besonders wenn sie keine Ahnung haben, wer ich bin und was ich für eine Saule habe. - »Eulenspiegel, du weißt, dass wir gute Nachtgespenster haben und böse. Wenn du vom Turme herab siehst, dass ein gutes Gespenst erscheint, dann bläst du ein schönes Lied. Zum Beispiel »Der Mond ist aufgegangen«. - Wenn aber ein böser Geist heranpoltert, dann nimmst du die Trompete und bläst zum Angriff: »Hallali, Hallalah!««

Die Unterscheidung von guten und bösen Nachtgespenstern fiel mir nicht schwer. Ich erkenne gute Geister schon an ihrer hellen Kleidung und an ihrem leisen, zarten Wesen. Sie flüstern und säuseln und schweben hin und her.

Die Bösen aber sind meist Poltergeister mit schaurig tiefer Stimme. Sie sagen »Arschloch« und »Saukerl«. Aber was die Poltergeister mit »Saukerl« meinen, hat nichts mit der Saule zu tun.

Was also die Unterscheidung der Geister betraf, hatte ich keine Not. Aber ich fand »Hallali, Hallalah!« viel lustiger als das tiefsinnige Lied von Mond und Sternen.

Also blies ich »Hallali«, als ein zarter, freundlicher Schwebegeist zur Prinzessin etwas vom Junker Piependeckel flüsterte. Der Tapferste stürmte zuerst herbei; und um ein Haar hätte der wackere Junker auf meinen lieben Schwebegeist mit dem Schwert eingedroschen. So heftig, wie der zuschlagen konnte, hätte wohl selbst ein Schwebegeist seine liebe Not gehabt.

Zum Glück erkannte er in der Dunkelheit gerade noch, welch ein gutes Gespenst vor ihm stand. Er wandte sich um zu den nachfolgenden Rittern und gab ein Handzeichen: »Halt! Haaalt!« So merkten auch die anderen Recken, dass dieser Geist freundlich war, und zogen sich wieder zurück an ihre Tische im hohen Schloss. Lauthals grölend behauptete der Junker Prahlhans, er habe das Gespenst eines grässlichen Löwen getroffen und mit seinem Schwert übel zugerichtet.

Am nächsten Morgen stellte mich der Graf zur Rede: »Habe ich dir nicht aufgetragen, das Lied vom Mond zu spielen, wenn gute Geister da sind?! Wir wollen doch, dass sie wiederkommen, und Ihnen keine Angst vor unseren Schwertern einjagen.«

Ich entschuldigte mich: »Hallali« habe viel lustiger geklungen; und ich wollte dem Prinzesschen und seinem Schwebegeist eine kleine musikalische Freude bereiten.

»Pappalapapp!« gebot der Graf. »Pass gefälligst besser auf, was ich dir sage! So eine Verwechslung darf nie wieder vorkommen.«

Am nächsten Abend kam der böse Poltergeist, der schon einmal gedroht hatte, er werde den Grafen umbringen. Er hatte die Standpauke belauscht, die mir der Graf am Morgen gehalten hatte. Also schwebte er herbei und säuselte in höchsten Tönen: »Prinzessin, Prinzess´! Komm heraus, dass ich dich fress´!«

Von meinem Beobachtersitz hoch oben auf dem Turm konnte ich natürlich nicht die Worte verstehen, die das Ungeheuer gesäuselt hatte. Ich blies mit sanften Lippen das Lied vom Mond, schloss die Augen und träumte von einem Stelldichein. Junker Piependeckel würde seine Gitarre bringen und seiner Angebeteten ein Ständchen singen. Tatsächlich kam der Junker auch, und Fräulein Kunigunde zu Bernburg streckte ihr schlankes Hälschen zum Erkerfenster heraus.

In letzter Sekunde bemerkte Junker Piependeckel den Irrtum und verpasste dem Poltergeist einen Hieb mit seiner Gitarre, dass sämtliche Saiten rissen und das Gehölz des Klangkörpers in 1000 Stücke zerbrach. Dem Poltergeist wurde schwindlig, so dass er dem Junker geradewegs in die kräftigen Arme strauchelte. Schreiend und zappelnd wurde er zum Grafen geschleift.

»Mein lieber thorhafter Poltergeist!« sprach der Graf. »Wir sind hier auf Schloss Bernburg an Gespenster gewöhnt und wollen euch keineswegs verjagen. Aber wenn Ihr in eurem früheren Leben Böses getan habt, dann müsst Ihr das jetzt einsehen und nicht weiter herumirren und laute Drohungen ausschreien. Sonst findet Ihr niemals den Weg ins Licht. Und im Licht Gottes kann ich mir ein Poltergeist-Wesen mit »Arschloch« und »Saukerl« keineswegs vorstellen.«

Der Poltergeist wurde jetzt aus dem Schwitzkasten des Junkers entlassen und machte sich murmelnd davon. Vielleicht hatte ihn die Milde des Grafen sogar ein wenig überzeugt.

»Eulenspiegel!« gebot mir der Graf am nächsten Morgen. Ich kann dich als Turmbläser nicht länger beschäftigen. Du machst zu viel Lärm um nichts und zu wenig, wenn's darauf ankommt. Du musst jetzt als einfacher Soldat in meinem Kriegsheer dienen. Eine Hellebarde gebe ich dir und eine Keule, damit du auf feindliche Soldaten losschlagen kannst."

Kaum hatte ich in einem der Kriegerzelte des Grafen von Bernburg meine sieben Sachen niedergelegt, so kam der Junker Prahlhans und schnauzte die Soldaten an: »Könnt ihr keine Ordnung halten?! Hier sieht's ja wieder mal aus wie im Saustall!«

»»Saukerl« oder »Saustall««, dachte ich: «der Mann flucht genau so wie der Poltergeist.« Ich nahm meine Keule und verpasste ihm eins auf die Rippen, so dass die Rüstung klirrte und dem Prahlhans schwindlig wurde wie es gestern dem grässlichen Poltergeist geschehen war.

»Lass´ die armen Soldaten in Ruhe,« herrschte ich den Prahlhans an; und hielt meine Hellebarde über die Brust des niedergestürzten Junkers.

Man fesselte mich und führte mich vor den Grafen. »Lieber Eulenspiegel!« verwies mich der Graf. »Auch für den Heresdienst taugst du nicht. Man darf doch nicht einfach einen Vorgesetzten verprügeln, nur weil der sich ein bisschen zu sehr aufgespielt hat. Pack´ deine sieben Sachen, und mach dich fort aus meinem Schloss! Vielleicht taugst du irgendwo als Handwerker oder Henkermeister. Für den hohen Dienst auf meinem Schloss bist du jedenfalls ungeeignet. Ich weiß, du meinst es gut. Aber du machst zu viele Fehler. Auf dem hohen Schloss zu Bernburg bist du nicht zu brauchen.«

Kleinlaut stahl ich mich vondannen. Die Keule ließ man mir für den Fall, dass ich mich würde zur Wehr setzen müssen. Meine Saule nahm ich mit. Sie war traurig und wäre gern beim milden Grafen zu Bernburg geblieben.

Neunte Historie: Wie Aulenspeegel ein Stück Gottesland kaufte

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Datei:Ggottesacker.jpg
Wie Aulenspeegel ein Stück Gottesland kaufte: Gemälde von Georgia Röder

Der Herzog von Lüneburg war ein gestrenger Herr; und weil meine Saule mal wieder einen Streich gespielt hatte, jagte mich der Herr davon. »Wenn du noch einmal mein Land betrittst,« so sagte er, »dann lasse ich dich erhängen.«

Ich machte mich auf nach Süden und hatte gar manche frohen und auch lehrreichen Erlebnisse. Leider wurde ich wieder aus dem Lande gejagt, weil ich ein junges Mädchen lieb hatte, das von hohem Stande war. Sie hieß Esmeralda und hatte mir wiederholt beteuert, dass sie mich ebenfalls liebe.

Aber der Vater bekam Wind von der Sache; und es gab einen verwitweten Grafen, der Esmeralda zu seiner Schlossherrin wählen wollte.

Weinend nahm ich meine junge Saule und floh vor den Häschern des Grafen in Richtung Lüneburg. Es half nichts mehr: ich musste die Grenze des Herzogtums Lüneburg überschreiten, wenn ich dem zürnenden Grafen nicht in die Hände fallen wollte.

Esmeralda war mitgekommen bis zur Landesgrenze und weinte ebenfalls. Sie führte mich zu einem jungen Pastor. Der hatte erst kürzlich sein Amt angetreten und war Esmeralda sehr zugetan. Nicht dass er sie nun auch noch heiraten wollte. Er liebte sie irgendwie anders als ich. Vielleicht nur mit der Saule, denn er war ein herzensguter Mensch.

»Verehrter Herr Pfarrer«, sprach ich, während Esmeralda schluchzend in einem Sessel saß. »Könntet Ihr mir ein Fuder von Eurem Gottesacker verkaufen?«

Ihr wisst es wahrscheinlich, liebe Kinder: der Gottesacker ist das Land, aus dem sich die Saulen erheben, wenn der Leichnam begraben wurde. Eigentlich sind die Saulen schon etwas entfernt vom Körper, wenn dieser noch im Totenbett liegt. Aber sie kommen öfters noch mal wieder, um zu sehen, wie es ihrem Körper ergeht. Sie freuen sich, wenn viele Menschen um ihn versammelt sind, und wollen trösten, obwohl die meisten Beerdigungsgäste sie nicht hören und auch nicht sehen können.

Der Pfarrer wies mir ein Eckchen zu, in dem noch nie ein Grab errichtet worden war. Ich schaufelte mir einen Karren voll Erde und bat, der Pfarrer möge mir eine Quittung ausstellen.

»Lasst nur gut sein, lieber Aulenspeegel,« begnügte sich der freundliche Mann. »Ihr habt so wenig Geld. Da will ich nicht auch noch mit Forderungen für die Kirche zur Last fallen.«

»Vielen Dank, lieber Pfarrer,« sprach ich. »Doch wenn Ihr mein Leben retten wollt, dann nehmt von mir einen Taler, und unterschreibt eine Quittung.«

Der Pfarrer unterschrieb und setzte zum Zeichen, dass seine Unterschrift dem Willen der Kirche entsprach, einen dicken, fetten Stempel auf das Blatt Papier:

»Herr Till Aulenspeegel, geboren im Lande Braunschweig, hat heute zum Preis von einem Taler ein Fuder Gottesacker erworben. Gezeichnet Pfarrer Herzensgut«

Ich nahm Abschied von meiner Esmeralda, küsste ihre Tränen und buddelte mich in mein Fuder vom Friedhof ein. Nur Kopf und der rechte Arm mit Peitsche guckten oben heraus, so dass ich dem Pferdchen, das meinen Karren zog, den Weg weisen konnte.

Kaum einige Stunden im Lande Lüneburg unterwegs, begegnete mir eine rasselnde Reiterschar. Es waren Jäger, und der Herzog führte sie an.

Als er mich erblickte, gebot er seinem Trupp anzuhalten. Er ritt neben meinen Karren, um mich genau zu betrachten. Dann sprach er: »Till Eulenspiegel!« - Der Pfarrer vorhin hatte meinen Namen gut ausgesprochen. Aber der Herzog tat es nicht. »Till Eulenspiegel! Ich habe dir vor Wochen angekündigt, dass ich dich hängen lassen würde, wenn du dich noch einmal auf meinem Lande würdest blicken lassen. Steige aus! Dein Stündlein hat geschlagen.«

»Exzellenz! Hoch verehrter Herr Herzog!« Gab ich zur Antwort. »Ich glaube dass Ihr die Lage gründlich verkennt. Wie Ihr seht, bin ich nicht auf Eurem Lande.« Aus meiner Brusttasche zog ich die Quittung des Pfarrers Herzensgut. »Ich befinde mich auf dem Land Gottes; und wenn Ihr unseren obersten Herrn nicht vor den Kopf stoßen wollt, dann respektiert Ihr die Hoheit Gottes auf seinem Ackerboden.«

Der Herzog zögerte. Es waren Minister unter den Jägern und hohe Würdenträger seines Reiches. Selbst ein junger Vikar, der aus dem Adelsstand in den Dienst der Kirche getreten war, befand sich unter seinen Jägersleuten. Sollten sie alle seinen Übergriff auf das Land Gottes miterleben? Zudem eine Hinrichtung durch Erhängen! Das würde der Kirche missfallen und auch den gläubigen Grafen, die er erst kürzlich wieder in Eintracht um sich versammelt hatte.

»Mach, dass du fortkommst! Du alter Rechtsverdreher! Aber lasse dir nicht einfallen, noch einmal umzukehren! Sonst hilft dir dein Fuder Kirchhof-Erde auch nicht mehr.«

Ich gab meinem Pferdchen die Zügel. Die Peitsche brauchte ich nicht. Denn das Tier hatte mit dem Herzen zugehört und war heilsfroh, dass wir mit dem Schrecken davongekommen waren.

Zehnte Historie: Aulenspeegels Bußgeldbescheid

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Datei:AulenspeegelBußgeld.jpg
Aulenspeegels Bußgeldbescheid: Gemälde von Georgia Röder

Freunde, ich muss euch etwas von meinem Eselchen erzählen. Ihr wisst ja, dass Esel keine Dummen sind. Nur der böse Leumund hat sie zu »Eseln« erklärt, und darum sagen die Leute: »Du bist ein Esel!«, wenn sie meinen, dass jemand dumm sei.

Mit meinem Karren, den der kürzlich aus Erlangen verjagte Esel Fridolin zog, war ich in Bayreuth angelangt. Hinter der Kirche nahe dem alten Schloss hatte ich mein Fuhrwerk abgestellt. »Gib acht, mein wackerer Gefährte,« hatte ich Fridolin ermahnt, »dass du nicht auf die Straße kackst! Hier laufen Politessen herum und Polizisten aller Art. Die notieren so genannte Ordnungswidrigkeiten und heften dir eine gebührenpflichtige Verwarnung an dein Halfter, wenn sie der Meinung sind, dass man hier nicht kacken darf.«

»I A.«, nickte mein Eselchen, und ich ging in die Stadt, um verschiedene Besorgungen zu erledigen. Unterwegs begegnete ich einem dieser Schriftgelehrten, die irgendwie ahnen, dass sie meist Unrecht tun, wenn sie auf der Straße üble Nachreden an die Fahrzeuge heften. Sie wissen genau, dass die Tiere kacken müssen und dass kein Herrchen wissen kann, wann der Esel aufs Klo muss. Findet sich aber ein Haufen unter einem parkenden Esel hinter der Kirche oder auf dem Marktplatz, dann ist die Zeit für den Esel gekommen. Man zückt den Notizblock und beschuldigt den Halter des Fahrzeuges. Am so und so vielten um 12:30 Uhr ist auf dem Luitpold Platz im eingeschränkten Halteverbot einem Esel die Schweinerei passiert: welch ein Vergehen!

Als ich vom Bayreuther Einkauf zu meinem Fuhrwerk zurückkehrte, war das Unglück passiert. Ein Schriftgelehrter war auf einen Haufen aufmerksam geworden, den mein Fridolin hatte fallen lassen. Er dampfte noch und war rund und glänzend anzuschauen.

Für mich war es nicht das erste Mal im Leben, dass mich - den Halter dieses braven Tieres - so ein Vorwurf der Staatsgewalt traf. Ich verspürte eine Art Brechreiz, aber es gelang mir zu verhindern, dass neben dem Haufen meines lieben Tieres noch ein menschlicher Haufen Drecks entstand.

»Komm, lass uns abhauen,« sprach ich zu meinem Fridolin. Wir armen Verkehrsteilnehmer müssen täglich hoffen, dass uns kein Schriftgelehrter begegnet, wenn wir in einer Seitenstraße parken. Und ganz im Gegensatz zur nachgesagten Dummheit der Vierbeiner: die Torheit der Menschen, die in solchen Fällen zu Ausdruck kommt, würde einem Esel nicht einmal im Traume einfallen.

Elfte Historie: Wie Aulenspeegel einem Esel das Lesen beibrachte

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Datei:Eesel.jpg
Wie Aulenspeegel einem Esel das Lesen beibrachte: Gemälde von Georgia Röder

Liebe Freunde, ich unterhalte mich gern mit Tieren. Sie sind viel weiser, als man denkt, und was sie sagen, kommt von Herzen.

Nur das Lesen, wie ihr es in der Schule lernt, wird den Tieren meist nicht so beigebracht. Und darum habe ich mich auf das Lesen der Tiere spezialisiert.

Als ich nach Erlangen kam, hatten die Professoren schon auf mich gewartet. »Wir wollen Herrn Eulenspiegel eine Aufgabe stellen, an der er sich die Zähne ausbeißt. So leicht wie die Nürnberger lassen wir uns nicht verschaukeln.«

Als ich ankam, wurde zu meiner Begrüßung eine Rede gehalten: »Wir freuen uns, den berühmten Till Eulenspiegel begrüßen zu können.«

»Wenn Ihr mich begrüßen wollt,« dachte ich, »warum sprecht ihr mich dann nicht mit meinem richtigen Namen an?« Aber ich hütete mich, dem Herrn Dekan die Aussprache beizubringen. Immerhin verstehe ich, was er meint. Im Gespräch mit den Tieren darf ich ja auch nicht dauernd mäkeln. Sonst stellen sie sich stur und sagen überhaupt nichts mehr. »Auch Dekane,« dachte ich, »sind Tiere - und sogar irgendwie hohe Tiere.«

Still verneigte ich mich vor den Erlanger Professoren und behielt jeden einzelnen im Auge. Denn ich wusste: Sie hatten sich vorgenommen, mir gefährlich zu werden.

»Lieber Till - wenn ich sie so nennen darf?« Ich nickte zustimmend und war dankbar für Einsparung meines Nachnamens. »Lieber Till, wir haben uns gedacht, Sie könnten vielleicht einem unserer Esel das Lesen beibringen. Was halten Sie davon?«

»Okay Herr Dekan, fangen wir gleich mit Ihnen an!« dachte ich. Aber ich hütete mich natürlich, dies laut auszusprechen. Also nickte ich nur freundlich und behielt den Dekan im Auge.

Man führte einen jungen Vierbeiner herein und behauptete, das Tier sei dumm. Ich aber schaute mir das liebe Eselchen näher an und fand, dass das Tier klug sei. Es hielt wie ich den Mund, weil es genau wusste: »Wenn ich der Behauptung widerspreche, dass ich dumm sei, mache ich alles nur umso schlimmer.«

»Sehr verehrter Herr Dekan, Spektabilität!« gab ich zur Antwort. »Dieses Tier ist keineswegs dumm. Man hat nur seit Jahrmillionen versäumt, den Eseln das Lesen beizubringen. Darum werde ich für diesen Unterricht einige Zeit benötigen.«

»Habe ich Sie richtig verstanden?« mischte sich jetzt der Rektor ein. »Sie wollen uns allen Ernstes sagen, Esel seien grundsätzlich zum Lesenlernen fähig. Man hätte nur versäumt, es ihnen beizubringen?«

»Magnfizenz!« gab ich zur Antwort. »Sie haben mich aufs Wort verstanden. Wir haben die Lesegene der Esel untersucht. Es ist alles vorhanden, was zum Lesen benötigt wird. Gebt mir 20 Jahre Zeit, und ich werde es beweisen«

Dekan und Rektor - also die beiden höchsten Tiere dieser hochwohllöblichen Versammlung - waren ungefähr 65 Jahre alt. In 20 Jahren würden sie fünfundachtzig. Vielleicht würden sie sogar schon gestorben sein. Auch könnte mein Eselchen sterben oder ich. Warum sollte ich die Gunst der Stunde nicht nutzen, um für uns - also mich und meinen grauen Liebling - freie Kost und freies Wohnen bis zum Lebensende zu erhalten?

Der Dekan sicherte mir all dies zu. Lediglich bedingte er sich aus, zweimal im Jahr eine kleine Anzahl von Wissenschaftlern zu schicken, die unsere Lernfortschritte überprüfen sollten. Auch dürfe ich einmal jährlich in einer öffentlichen Vorlesung über Theorie und Praxis des Esel-Lesens meine Erfahrungen berichten.

Ich nahm mein Eselchen am Halfter und brachte ihn in meinen Stall. Ihr könnt euch denken, dass ich auch mit Eulen Lesen und Sprechen übte. Katzen und Hunde waren in meinem Stall. Für Schimpansen hatte ich einen großen Käfig mit Bäumen, so dass sie auch frei klettern konnten. Sogar Delphine hielt ich in einem Schwimmbecken. Denn ich wusste, dass sie besonders klug sind und sehr viel von ihrer Weisheit an die - offen gesagt - oft nicht so sehr weisen Menschen weitergeben.

Ich fragte, ob ich ihn Fridolin nennen dürfte, und er bedankte sich dafür, dass ich ihn gefragt hatte. »IA«, sagte er und nickte auffällig mit dem Kopf.

»Zuerst versuchen wir die Blechtrommel«, kündigte ich meinem Eselchen an; und da gerade ein leerer Eimer im Bereich seiner Füße lag, stieß er mit dem Fuß daran zum Zeichen, dass er zustimmte. Aber ich merkte auch, dass er frisches Wasser wollte, und brachte sogleich eine Tränke, weil Eimer beim Saufen leicht umfallen. In die Futterkrippe legte ich eine Ausgabe der »Blechtrommel« von Günter Grass. Zwischen die Blätter des Buches streute ich Hafer, so dass mein Fridolin nur immer weiter umblättern musste, um mehr Hafer zu erhalten.

Nach einer Woche gab ich ihm das Buch ohne Hafer zum Blättern. Kinder, ihr könnt euch denken, wie laut mein liebes Eselchen »I, A« rief. Kannte er mich doch und wusste, er brauchte nur zu rufen. Gleich würde ich Hafer bringen. Gesagt getan, ich brachte Hafer, und die erste Lektion war gelernt »I. A., I. A., I. A.!«

»Sehr geehrter Herr Dekan,« schrieb ich in einem Brief, »Spektabilität, mein Esel macht gute Fortschritte. Wenn man sich davon überzeugen möchte, so biete ich eine öffentliche Vorführung an.«

Die Veranstaltung wurde für Freitag, den 11. November, anberaumt, und ich freute mich, dass man den Beginn der Faschingszeit für mich und meine Eselei reserviert hatte.

Schon den ganzen Tag gab ich meinem Fridolin nichts zu futtern. Ich baute auf dem Schlossplatz zu Erlangen eine große Krippe auf, legte eine extra große Ausgabe von Günter Grass´ Roman »Die Blechtrommel« hinein und führte meinen lieben Vierbeiner durch eine für uns beide freigehaltene Gasse in der Menge der Erlanger Mehr-oder-weniger-Klugen.

«Fridolin,« flüsterte ich, »vergiss nicht, mit dem Eimer zu poltern! Die Erlanger merken sonst nicht, wie gut du Günter Grass verstanden hast.«

Ich legte den leeren Blecheimer hinter den rechten Vorderfuß des Tieres und ließ ihn in dem übergroßen Buche blättern. »I. A., I. A.,« ertönte seine Stimme, und er stampfte mit dem rechten Vorderfuß an meine Blechtrommel.

Wie immer, wenn ich mich mit Fridolin unterhalte, schloss ich die Augen und spürte, was er meinte: Ich hörte seine Saule. »Aulenspeegel,« sprach seine Saule zu meiner Saule, »ich verstehe den Günter Grass nicht in allen Einzelheiten. Aber so viel verstehen der Rektor und der Dekan nun auch nicht davon. Eines allerdings kommt von Herzen, und das verstehe ich sehr gut: wenn viele Thoren versammelt sind, dann soll man trommeln, dass die Wände wackeln; und darum stoße ich immer wieder an deinen Blecheimer.«

Kaum hatte ich die Saule des Esel vernommen, öffnete ich meine Lippen und wollte reden. Weit offen wie zum »A« stand mein Mund, denn ich wollte «allgewaltiger Rektor« sagen und alles haarklein erklären, was Fridolins Saule mir erläutert hatte. Jedoch ich zögerte. Würde ich meine Hörer nicht beleidigen, wenn ich das von der Versammlung der Thoren wiedergeben würde?

Ich schloss meine Lippen wieder und begann: »Magnifizenz! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn mein Esel I ruft und A, dann liest er nicht die Buchstaben, sondern er fordert mich auf, ihm wie üblich Futter zwischen die Buchseiten zu legen. Aber wenn ich meine Augen schließe und die innere Stimme des Tieres höre, so sagt er, dass er aus dem Roman von Günter Grass gelernt hat zu trommeln, falls bestimmte Bedingungen gegenwärtig erfüllt seien.«

Die meisten meiner Hörer schauten schläfrig drein. Sie kannten die Botschaft der »Blechtrommel« nicht, obwohl viele von ihnen das Buch zu Hause im Schrank hatten. Vor allem aber wollten sie weder Günter Grass noch meinen klugen Fridolin verstehen. Wer glaubt schon, dass er selbst zu den Thoren gehört, die Oskar Matzerath mit Trommelwirbeln aus dem Lande treiben möchte!

Und so zogen sie es vor, mich und meinen lieben Vierbeiner davon zu jagen. Denn wofür sollten Sie 20 Jahre lang Futter und Unterkunft bezahlen? »I und A kann jeder Esel, und wir sind viel, viel klüger!« Heftig und wieder und wieder trat mein Fridolin an den Blecheinmer. Aber es half alles nichts. Der Rektor ließ abstimmen; und bekanntlich sind Abstimmungen ein ganz besonderer Anlass zum Trommeln.

Zwölfte Historie: Wie Aulenspeegel die Schneider belehrte

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Datei:Schschneiderfaden.jpg
Wie Aulenspeegel die Schneider belehrte: Gemälde von Georgia Röder

Ich ließ im ganzen Land Flugblätter verteilen: »Schneiderfortbildung in Rostock«. Auch versprach ich in meinem Flugblatt, ich würde den Schneidern aus aller Welt etwas beibringen, das für sie und ihre Kinder, Enkel und Urenkel von großer Wichtigkeit sei.

Auf der Schlosswiese zu Rostock versammelten sie sich. Viele waren von weit her gekommen und hatten für Hunger und Durst einen Rucksack voller Speisen und Getränke mitgebracht. Jetzt nahmen sie erst einmal ihr Picknick und schwatzten über die Lehren, die sie erhalten würden.

Ein bekannter Mann sei der Eulenspiegel ja wohl unbestritten. Aber ob er als Schneider einen Namen hatte, wusste niemand so recht.

Ich mischte mich unbemerkt unter die Picknick-Gäste und hörte, was sie zueinander sprachen: »Ob er uns lehren wird, vor dem Spiegel zu nähen?« »Vielleicht sollen wir die Eulen bei Nacht nähen, wenn es dunkel ist.« »Er wird uns doch wohl nicht beibringen wollen, eine Eule zu nähen?«

»Solange Sie meinen Namen nicht recht verstehen, wird es wohl auch mit meinem Vortrag wieder mal einen Misserfolg geben,« dachte ich und bestieg das Podium. »Meine sehr geehrten Herren Kollegen!« log ich, denn ich war ja gar kein Berufskollege der Schneider. Ich möchte euch etwas beibringen, was noch für eure Kinder und Enkelkinder von großer Bedeutung sein wird. Also hört gut zu!«

Die Schneider blickten auf zu mir, und ich hatte einen Moment lang den Eindruck, sie würden auf mich hören. »Wenn Ihr Ellen habt und Scheren und Nadel auch und Faden, so habt Ihr fast alles, was Ihr für Euer Handwerk benötigt. Aber Ihr müsst immer einen Knoten am Ende des Fadens binden, damit die Stiche nicht umsonst sind, die Ihr lebenslang in den Stoff stecht.«

Die Schneider blickten sich gegenseitig an und begannen, höhnisch zu lachen. »Das wissen wir doch schon seit 1000 Jahren!«

Ich fragte einen der Schneider, wie alt er sei, und er gab zur Auskunft, er sei 45. »Wie kannst du dann etwas seit 1000 Jahren wissen!«

Anstatt nun über die Vererbung des Wissens nachzudenken und damit in gewisser Weise einen Knoten in den Faden ihres Lebens zu schlagen, zogen sie es vor, wütend herum zu schreien, mich zu beschimpfen und gar mit den Fäusten zu drohen. Von sehr weit seien sie angereist, und den Rückweg müssten sie schließlich auch noch einkalkulieren. Wochen entgangenen Arbeitslohnes hätte ich zu verantworten. Sie verlangten Entschädigung.

Während sie sich schon anschickten, mit wütend geballter Faust das Podium zu besteigen, versuchte ich, sie zu beschwichtigen. »Liebe Kollegen,« log ich wieder, »Bitte schließt einmal die Augen und schaut, wie ihr einen Knoten in den Faden eures Lebens schlagt!«

»Wie sollen wir denn schauen, wenn die Augen geschlossen sind! Ein Schneider mit geschlossenen Augen würde sich nur die Finger zerstechen oder gar die Hand abschneiden.« Manche wollten mit der Schere auf mich losgehen.

Ich aber lief ins Haus und kannte einen geheimen Ausgang auf der anderen Seite. So konnte ich den wütenden Kollegen entkommen, die offenbar keine Kollegen waren. Sie waren sinnlose Kleidermacher. Ich aber wollte ihnen zeigen, wie man seinem eigenen Lebensfaden einen Sinn gibt und diesen Sinn des Lebens seinen Kindern vermittelt. So würde die Saule etwas vom Leben lernen - und auch die Saulen der Kinder. In Tausenden von Jahren hatten sie das nicht gelernt, und der Versuch, es ihnen beizubringen, war auch heute wieder fehlgeschlagen.

Dreizehnte Historie: Wie Aulenspeegel vier Schneider auffliegen ließ

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Datei:SchSchneiderpodest.jpg
Wie Aulenspeegel die Schneider auffliegen ließ: Gemälde von Georgia Röder

14 Tage lang wohnte ich in der Stadt Brandenburg. Dicht am Marktplatz gab es eine Herberge für Handwerksburschen. Man bekam dort für wenig Geld gutes Essen und ein weiches, sauberes Bett. Ihr wisst ja: ich putze gern meine Zähne, wasche mich vor dem Schlafengehen und lege meine solchermaßen gesäuberte Saule gern in ein warmes, weiches Bett.

Nebenan hatte ein Schneidermeister seinen Betrieb. Seine vier Gesellen legten morgens ein großes Brett auf vier Holzpfosten, die fest im Boden verankert waren. Danach kletterten sie mit Nadel und Faden durch ein Fenster auf das Brett und setzten sich im sogenannten Schneidersitz für den ganzen Arbeitstag auf diese einzigartige Freilichtbühne. Denn sie liebten es, sich öffentlich zur Schau zu stellen, und prahlten überall herum, was sie für tolle Kerle seien.

Mich konnten sie überhaupt nicht leiden. In ihren Augen war ich ein Langschläfer und Tunichtgut, der den ganzen Tag nur spazieren gehe, als ob er etwas zu bedenken hätte.

Tatsächlich hatte ich etwas zu bedenken. Ich überlegte mir, wie ich die vier eitlen Bübchen von ihrem Präsentierteller herunter bekommen könnte.

Nachts sägte ich alle vier Holzpfosten über die Hälfte an. Als die Gesellen ihr tolles Bühnendeck morgens auf die Pfosten gelegt hatten, blieb der gesamte Bau noch aufrecht stehen. Die Gesellen setzten sich und ließen ihre Nadeln klappern.

Etwa eine Stunde nach Beginn der Schneiderarbeit trieb der Schweinehirt seine Tiere aus dem Stall auf die Straße. Die Schweine scheuerten sich an den Holzpfeilern den Rücken, und von dieser Erschütterung brachen die Pfosten an der von mir geschaffenen Sollbruchstelle. Die Schneider stürzten mit jämmerlichem Gebrüll zu Boden und blieben vor aller Augen blamiert liegen, bis sie sich von dem Schrecken erholt hatten.

Es schien, als hätte der Wind die Bühne der Angeber eingerissen. Die Schneider aber ahnten, dass sie einem meiner Streiche zum Opfer gefallen waren. Mir war nichts nachzuweisen, aber die Gesellen blieben von jetzt an in der Stube hocken.

Als ich endlich abgereist war und auch meine Saule sich aus dem Städtchen entfernt hatte, setzten sie neue Holzpfosten ein und bauten wieder ihre stolze Bühne auf. Gänzlich unverwüstlich schien ihre Lust, sich in aller Welt als tapfere Schneiderlein zur Schau zu stellen.

Vierzehnte Historie: Wie Aulenspeegel den Pelzmachern übel mitspielte

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Datei:Ppelzmacher.jpg
Aulenspeegel spielt den Pelzmachern über mit: Gemälde von Georgia Röder

Liebe Freunde, wenn einer einen Mord in Auftrag gibt, so ist er schlimmer als der Mörder selbst. Leider sind die meisten von uns solche Anstifter zum Mord. Denn wir essen Fleisch und kaufen es vorher irgendwo ein. Von unserem Geld werden die Jäger bezahlt; und die Jäger sind schließlich die Mörder.

Jedoch gibt es Fleischfresser auch unter den Tieren. Wir sind also in dieser Hinsicht nicht besser und nicht schlechter als die Raubtiere.

Aber die Pelzmacher sind viel schlimmer. Sie geben den Mord nicht in Auftrag, um ihren Hunger zu stillen; sondern sie wollen aus dem Fell der Tiere einen prunkvollen Pelz machen. Viele feine Tiere werden geopfert für einen dummen Pelz.

Schon seit Jahrhunderten gibt es Kleiderstoffe, die keinen Tiermord mehr erfordern. Es gilt nur noch als Zeichen von Reichtum und Macht, wenn man sich einen teuren Pelz umhängt.

Und darum, liebe Freunde, habe ich schon seit meiner frühesten Jugend den Pelzmachern gern mal einen üblen Streich gespielt. Zum Beispiel habe ich in Berlin einen Job als Pelzmacher angetreten und aus etwa 100 teuren Wolfsfellen kleine Spielfiguren genäht: Wölfe für Kinder, damit sie Wölfe gern haben. Mein Meister hat mich damals geohrfeigt und mit lautem Gebrüll aus der Stadt gejagt.

Bei der nächsten Pelzmacher-Messe hat er darum überall herumerzählt, was ich für ein schlechter Pelzmacher sei. Darum habe ich in ganz Deutschland keinen Job mehr als Anstifter zu sinnlosen Morden erhalten.

Ich nahm mir vor, den Leipziger Pelzmachern auf andere Weise einen Streich zu spielen. Nur wusste ich lange nicht, wie ich es am besten anstellen sollte, um den Schuften der Stadt einmal richtig zu zeigen, was sie für üble Kerle sind.

Ich erfuhr zufällig, dass die Pelzmacher zu ihrem Faschings-Stammtisch immer Hasenbraten aßen. Also kaufte ich beim Jäger einen Hasen, den er erschossen hatte. Ich zog das Fell ab und nähte eine lebendige Katze hinein.

Sicher könnt Ihr euch denken, was für ein Geschrei die Katze aufführte und wie sehr sie um sich biss und kratzte. Aber schließlich hatte ich sie ins Fell des Hasen eingenäht, so dass sie fast so aussah, als wäre sie ein Hase. Wenn Menschen das Fell eines Bären tragen, sehen sie ja auch beinahe aus wie Bären.

Mit meinem falschen Hasen ging ich zum Pelzmacher Fellner. »Wollt Ihr vielleicht einen Hasen billig kaufen?« Ich wusste, dass er das Geschäft nicht auslassen würde. Er war zwar einer der reichsten Reichen. Aber er sparte, wo er nur konnte, weil er tief im Herzen - da wo die Saule ist - geizig war.

Zum Schutze seines Reichtums hielt er sich zu Hause einen Hund. Als er am späten Nachmittag in seiner Luxusvilla ankam, ließ er den Hasen in den Garten laufen. Bald danach schloss er den Hundezwinger auf. Der Hund jagte natürlich sofort hinter dem Hasen her, der ja in Wahrheit eine Katze war. Hunde achten nicht auf Pelze. Sie erkennen mit Leichtigkeit des Hasen Kern.

In ihrer Not sprang die Katze auf den Baum und schrie »miau«, so dass auch der dümmste unter den Pelzmachern nicht weiter glauben konnte, der wahre Kern des Hasenfells sei ein Hase.

Der geizige Herr Fellner wurde daraufhin sehr zornig. Denn er hatte einen ganzen Thaler vergeudet. Vor allem aber schmerzte ihn die Blamage: trotz aller Warnungen des Berliner Kollegen war er auf mich hereingefallen. Am liebsten hätte er mich wegen des einen Thalers vor Gericht gezerrt. Aber dann hätte die ganze Stadt davon erfahren, dass Pelzmacher nur auf die äußere Hülle achten und der Blick für das Wesentliche ihnen meist fehlt.

Selbst der Vorsitzende der Pelzmacher-Vereinigung, ein gewisser Herr Hasenclever, riet davon ab, mich vor Gericht zu zerren. Allzu peinlich schien den Herren der Begleitumstand meines kleinen Betruges. Ich hatte die Schwäche des Berufsstandes offen gelegt:

Wer nicht aufs Wesen achtet, nach Pelzen gerne trachtet.

Fünfzehnte Historie: Wie Aulenspeegel den Schmied vom Stuhl blies

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Datei:Schschmied.jpg
Wie Aulenspeegel den Schmied vom Stuhl blies: Gemälde von Georgia Röder

Für den Winter suchte ich mir gern eine Arbeit beim Schmied. Man hält Eisen übers Feuer, bis es glüht; und dann schlägt man es mit dem Hammer, dass es die Form erhält, die man dem Eisen geben möchte. Bei den Menschen ist es genauso. Man muss sie für eine Sache erwärmen. Dann nimmt die Saule die Form an, die man ihr geben möchte.

Mein Meister aber hatte eine harte Saule, die ich für nichts erwärmen konnte. Ich stand neben ihm und blies mit einem Blasebalg viel Luft ins Feuer, damit es lichterloh brannte. Mir wurde warm, und ich fing an, ein Lied zu summen: »Summ, Summ, Summ! Bienchen summ herum!« Im Takt dazu blies ich: Blas, blas, blas! Blaschen, blas her-blas!«

"Hör auf mit deinem albernen Gesumme!« schnauzte der Schmied. »Du sengst mir mit den vielen Funken noch das ganze Haus an.«

Kinder, ihr könnt euch denken, dass ich meinen Meister beim Wort nahm. Ich war so voller Freude über mein neues Lied und blies dabei mit dem Blasebalg, dass die Funken bis zur Decke stiegen. »Blas, blas, blas! Blaschen, blas her-blas!«

Der Meister hatte sich mürrisch auf einen Stuhl geflegelt und war eingeschlafen. Ich aber war in bester Laune und sang: "Blas, blas, blas! Blaschen, blas her-blas!«

Plötzlich erfasste das Feuer den Stuhl des Meisters und züngelte an seinen Beinen, bis diese krachend zusammensanken, und der dicke Schmied stürzte mit lautem Karacho zu Boden. Wutschnaubend erhob er sich und wollte mit einem kalten Eisen auf mich losgehen.

Aber ich war längst in meinem schönen Rhythmus davongelaufen: "Blas, blas, blas! Blaschen, blas her-blas!«

Sechzehnte Historie: Aulenspeegels Weihe-Nacht

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Datei:Wweihenacht.jpg
Aulenspeegels Weihenacht: Gemälde von Georgia Röder

Am Heiligenabend wollte ich nicht in meiner Herberge bleiben. Nur schnarchende Schufte waren da und ein griesgrämiger Wirt, der überall herumkommandierte.

So ging ich hinaus in den Wald. Die Blätter lagen dunkel und braun auf dem Boden. Der Sturm der letzten Nächte hatte viel Geäst von den Bäumen gerissen. Grausig-grün standen die kahlen Stämme gegen den Nebel-umwölkten Himmel, der in ein geheimnisvolles Jenseits der Weih-Nacht verwies.

Ich hatte eine Decke und setzte mich auf eine glitschig-kalte Bank. Dann schloss ich die Augen und schaute in mich hinein.

Bald sah ich das Christkind in der Krippe liegen. Es hatte nichts an und schrie vor Hunger und Kälte: »Hört auf mit dem Schießen und Bombardieren! Hört auf mit dem Lügen und Betrügen! Unterlasst das Fluchen, Schlagen, böse Reden!«

Ich zerteilte meine Decke in zwei Hälften und breitete die trockenere über das kleine Baby. Es erwärmte sich, hörte auf zu weinen und schlief ein. Mir aber schien es, als leuchtete der Stern von Bethlehem und die Menge der himmlischen Heerscharen jubelte den Wohlklang der Sphären-Harmonien.

Jetzt kam ein brummender Weihnachtsmann und wollte mir weismachen, ich sei unartig gewesen. Meine Streiche hätten den Bäcker verärgert, die Schneider und Pelzmacher. Er drohte allen Ernstes mit seiner Rute, als ob er mir eine Tracht Prügel als Strafe für meine Sünden verpassen wollte.

»Hoch verehrter, lieber Weihnachtsmann!« Mit diesen Worten stellte ich mich vor ihn hin. »Ihr seid uns gesandt zum heiligen Fest. Darum bitte ich euch von Herzen. Stellt Euer Gebrumm ein und Eure seit 2012 Jahren überholten Prügeleien! Das Christkind will, dass wir uns lieben. Darum bitte ich Euch, mit gutem Beispiel voranzugehen.«

»So, so,« brummte der Alte, »du bist ja ein mutiges Bürschchen. Das wollen wir loben; und deine Streiche wollen wir anerkennen. Du meinst es immer gut mit den Bürgern - auch wenn sie dich verjagen oder gar erhängen wollen. Nimm dies Paket aus meinem Rucksack! Ich glaube, dass du es recht verwenden wirst.«

Mit »Danke« und »Sogleich« knotete ich die Verschnürung auseinander. Hunderte von Kerzen waren im Paket und eine Schachtel mit Streichhölzern. Ich zündete eine Kerze an und baute die anderen um die Krippe herum zu einem rötlich schimmernden Kranze auf; und je mehr Kerzen ich um das Himmelskind herum entfachte, umso wärmer wurde mir. Die Engel sangen in meinem Herzen. Maria und Joseph schmiegten sich aneinander und schwiegen in seliger Ruhe.

»Oh Gott, so eine Weihnacht!« stammelte ich. »Ein frohes neues Jahr, lieber Weihnachtsmann. Oh Freude, schöner Götterfunken!«

Siebzehnte Historie: Wie Aulenspeegel den Pfarrer überraschte

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Datei:Ppfarrer.jpg
Wie Aulenspeegel den Pfarrer überraschte: Gemälde von Georgia Röder

Der Bischof zu Bremen ist mein Freund. Er lädt mich zum Essen ein, wenn ich wieder einmal in Bremen bin; und wir unterhalten uns immer sehr angeregt. Ich mag seine Art, über Gott zu denken; und er liebt meine Streiche - wenngleich er selbst natürlich keine Streiche anstellt.

Manchmal unterhalten wir uns auch über Wunder und Zauberei. Selbstverständlich lehnt der Bischof Zauberei ab. »Zauberei,« sagte er, »ist schwarze Kunst. Irgendwo ist immer ein fauler Trick dabei. Wunder sind etwas ganz Anderes; und die kommen von Gott.«

»Ganz recht,« gab ich zur Antwort. »Ich aber, Till Aulenspeegel, so wie ich heute hier vor Euch sitze, kann ein Wunder bewirken.«

Natürlich dachte der Bischof, ich wollte ihm einen Streich spielen, und lächelte gutmütig: »Wenn Ihr Lust habt, auch an mir einen eurer Tricks auszuprobieren: nur zu! Ich habe Humor und will gern zum Ende über alles lachen.«

Ich beteuerte, dass es mir Ernst sei um das Wunder, und bat ihn, sich mir Stuhl gegen Stuhl gegenüberzusetzen und die Augen zu schließen. Ich würde dann ins Jenseits schauen und fragen, ob ein lieber Verstorbener ihm etwas mitzuteilen habe.

Der Bischof rückte seinen Stuhl zurecht und versank ins Gebet. Ich schloss ebenfalls die Augen und atmete tief. Dann bat ich Gott, er möge mir helfen.

Jetzt klappte ich noch einmal meine Augen auf und blickte den betenden Bischof an. Ich schloss die Augen wieder und sah einen weißhaarigen alten Herren, der dem Bischof irgendwie ähnlich sah. Er blickte mich freundlich an, und ich spürte, dass er mir etwas mitteilen wollte. Ohne dass er die Lippen bewegte, spürte ich ihn sagen: er sei der Großvater des Bischofs und sein Name sei Heinrich gewesen. Schon vor 30 Jahren sei er gestorben, und sein sehnlichster Wunsch sei gewesen, dass sein einziges Enkelkind Geistlicher würde. Er selbst sei Kinderarzt gewesen, und er habe seinem Enkelkind so gern die Märchen vom Rotkäppchen und Schneewittchen erzählt. Am allerliebsten aber habe er immer wieder aus dem Buch »Der kleine Prinz« vorgelesen. Darum habe er seinen Enkel auch meistens als »Prinzchen« bezeichnet. »Lieber Aulenspeegel, sagt meinem Prinzchen, dass ich ihn sehr lieb habe und dass ich stolz auf ihn bin, weil er so ein liebevoller und tüchtiger Pfarrer geworden ist.«

Ich öffnete die Augen und spürte eine große Freude in mir. Es war mir, als ob die Ruhe und die Seligkeit des Großvaters sich auf mich ein wenig übertragen hätte.

Der Bischof öffnete ebenfalls die Augen und fragte mich, was ich erlebt hätte. Ich berichtete ihm von seinem Großvater: dass er der Kinderarzt Dr. Heinrich Popendeckel war; und dass er seinem »Prinzchen« immer so gern die Geschichte vom kleinen Prinzen vorgelesen hat.

»Lieber Aulenspeegel,« staunte der Bischof. »Ich danke Euch von ganzem Herzen für die liebe Botschaft, die Ihr mir da von meinem Großvater übermittelt habt. Unmöglich konntet Ihr wissen, dass meine Mutter als Mädchen »Popendeckel« geheißen hat. Tatsächlich hat mir mein alter Opi oft die Geschichten vom kleinen Prinzen vorgelesen und mich immer »Prinzchen« genannt.«

Er schloss wieder seine Augen, und ich sah, wie die Tränen über seine Wangen liefen. Leise schlich ich aus dem Zimmer und verließ in aller Stille sein Haus. Denn der Bischof verharrte noch stundenlang im Gebet - als ob ich ihn verzaubert hätte. Dieser Zauber, liebe Freunde, war aber keine schwarze Kunst. Er war ein Geschenk Gottes, das an diesem Abend der Bischof und ich gemeinsam erhalten hatten. Vielleicht war dies der schönste Streich, den ich je in meinem Leben gespielt habe.

Achzehnte Historie: Wie Aulenspeegel starke Bauchschmerzen hatte

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Datei:Bbauchschmerz.jpg
Wei Aulenspeegel Bauchschmerzen hatte: Gemälde von Georgia Röder

Ich musste wohl etwas Schlechtes gegessen haben. Jedenfalls war mir speihübel, und ich hatte Bauchschmerzen.

Der Apotheker zu Mölln besaß neben dem Geschäft auch ein Krankenzimmer. Als ich zu ihm kam, sah er sogleich, dass ich krank war. Ich bat um etwas gegen meine Bauchschmerzen, und der Apotheker zeigte auf sein Krankenzimmer: »Geht nur da hinein! Ihr könnt Euch etwas hinlegen, und ich bringe die Medizin.«

Während er das sagte, meinte ich, einen spöttischen Unterton zu hören. Mir fiel ein, dass ich ihn schon einmal gesehen hatte. Vielleicht kannte er mich und wollte die Gelegenheit nutzen, heute den Spieß herum zu drehen und mir einen Streich zu spielen.

Ich legte mich aufs Bett und erwartete des Apothekers Medizin. »Hier bringe ich Euch ein sehr bewährtes Mittel. Nehmt stündlich einen Löffel aus dieser Flasche, und morgen früh seid Ihr gesund.«

Als er die Tür hinter sich schloss, hörte ich, dass er von außen den Schlüssel herumdrehte. Er hatte mich eingeschlossen.

Ich roch an der Flasche und leckte vorsichtig eine winzig kleine Probe von dem Inhalt. Mein Verdacht bestätigte sich: es war das Abführmittel Rhizinus. Offenbar wollte der Apotheker erreichen, dass ich mir in die Hose machte. Denn ich war eingeschlossen und hätte für ein dringendes Geschäft nicht aufs Klo gehen können.

Ich nahm also nichts von dem Abführmittel, sondern goss den Inhalt der Flasche in einen Blumentopf. Dann deckte ich mich gut zu, legte beide Hände auf den Bauch und schloss die Augen. Nach kurzer Zeit sah ich vor meinem geistigen Auge die Mitte meines Bauches. Alles schien braun und schwarz zu sein, und ich musste mir fest einbilden, es würde nach und nach gelb werden.

So lag ich da, dachte an gelbe Farbe in meinem Bauch und schlief ein. Ich träumte von gelben Mägen und gelben Därmen. Selbst meine Leber und meine Nieren wurden knallgelb in diesem Traum.

Einmal wachte ich auf, und es war tiefe Nacht. Ich musste sehr nötig ein großes Geschäft verrichten. Da ich keine bessere Lösung für mein Problem wusste, hob ich eine Blume aus ihrem Topf. Ich wollte mich auf den Topf setzen und ein Geschäft verrichten, aber ich sah im Dunkeln, dass tief im Blumentopf eine Geldbörse versteckt war. Eilig hob ich die Geldbörse heraus und setzte mich auf den Topf. Als ich mich erleichtert hatte, deckte ich ein Kissen über den Topf und legte mich wieder ins Bett. Ich atmete tief, legte die Hände auf den Bauch und dachte an gelbe Eingeweide: gelber Magen, gelber Darm, gelbe Leber, gelbe Nieren. So schlief ich wieder ein.

Als die Sonne aufging, erwachte ich und fühlte mich kerngesund. Auch fiel mir die Geldbörse wieder ein, die ich des Nachts im großen Blumentopf entdeckt hatte. Ich öffnete sie und fand rund 500 Taler darin. Anscheinend hatte der Apotheker seine Ersparnisse im Blumentopf versteckt und in seiner Bosheit vergessen, den Topf aus dem Zimmer zu nehmen, bevor er mich hinein geschickt hatte.

Ich legte 450 Thaler zurück und behielt mir 50. Denn ich wollte nicht stehlen. Für die 50 Thaler, die ich entnommen hatte, legte ich einen Zettel in die Börse mit der Aufschrift: »Till Aulenspeegel hat 50 Thaler geborgt, um den Apotheker zu bezahlen.«

Als der Apotheker das Zimmer betrat, stellte ich mich schlafend. Ich wischte mir die Augen und stöhnte: »Guten Moooorgen! Was habe ich gut geschlafen! Apotheker, Ihr habt euch 30 Thaler verdient.«

Ich ahnte, dass er mehr verlangen wollte, um über seinen Betrug später besonders höhnisch lachen zu können. Er forderte 50 und wir einigten uns auf 40.

Ich aber nahm meine Mütze, legte noch 10 Thaler auf das Kissen, das den stinkenden Topf bedeckte, und verschwand.

Gierig griff der Apotheker nach den 10 Thalern und stieß dabei das Kissen vom Topf. »Bäh, zum Teufel!« schimpfte er. Immerhin sah er, dass seine Rhizinus-Flasche leer war, und nahm an, meine stinkende Bescherung sei seinem Mittel zu verdanken.

Als er jedoch die Geldbörse und meinen Schuldzettel hervor gekramt hatte, fluchte er lauthals und rannte zum Fenster, um mir etwas Böses hinterdrein zu rufen. Aber er hatte die Fenster so fest verschlossen, dass er sie nun selbst nicht öffnen konnte. So musste er seine Wut über den Aulenspeegel für sich behalten. Ich denke: den Frust hatte er sich verdient.

Ich aber war gesund geworden und zog weiter: einer anderen Stadt und neuen Streichen entgegen.

Neunzehnte Historie: Wie Aulenspeegel falschen Richtern zum Opfer fiel

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Datei:Rrichter.jpg
Wie Aulenspeegel falschen Richtern zum Opfer fiel: Gemälde von Georgia Röder

Als ich eines Tages nach Mölln kam, hatte ich böse Vorahnungen. Würde es immer wieder so glimpflich abgehen wie bisher, wenn ich meine Streiche gespielt hatte und die Häscher vergeblich hinter mir her waren? Es brauchte ja nur ein einziges Mal etwas schief zu gehen: dann würde man mich ins Gefängnis werfen und jämmerlich zu Tode prügeln, verhungern oder verdursten lassen - oder gar öffentlich hinrichten durch Galgen oder Fallbeil.

Die Möllner Kinder waren mir besonders ans Herz gewachsen. Sie hörten so gern zu, wenn ihnen jemand ein Märchen erzählte. In den Geschichten durften Hexen vorkommen und Engel. Vor Kobolden graulten sie sich; und wenn Prinz oder Prinzessin ein Leid wiederfuhr, fingen sie an, vor Mitleid zu weinen.

Kaum war ich zum Stadttor hereingekommen, da hefteten sie sich an meine Fersen. »Aulenspeegel,« fragte die kleine Elke, »erzählst du uns auf dem Marktplatz eine feine Geschichte?«

»Und bei der Gelegenheit,« gab ich zur Antwort, »werde ich euch meine Saule zeigen.« Elke und auch die anderen Mädchen und Buben schauten mich mit großen Augen an: »Deine Saule? Was ist das denn?«

»Liebe Kinder,« sprach ich, »wartet es ab! Meine Saule werde ich euch noch früh genug zeigen. Heute nachmittag um 4:00 Uhr ist große Vorstellung auf dem Marktplatz. Dann erzähle ich euch die Geschichte von meiner Saule.«

Die Kinder gingen jetzt erst einmal nach Hause zum Mittagessen. Natürlich erzählten sie der Mutter, dass Aulenspeegel seine Saule zeigen wollte; und die Eltern hegten die merkwürdigsten Befürchtungen. Hatte »Saule« etwas mit Schweinerei zu tun? Wollte der Aulenspeegel vor den Kindern Unanständigkeiten ausbreiten? Jedenfalls sollte man die Polizei verständigen, so dass man rechtzeitig würde eingreifen können.

In bunten Farben war der Marktplatz geschmückt. Die vielen Kinder trugen gelbe, blaue und weiße Kleider. Ich trug wie so oft meinen roten Narrenanzug mit Kapuze und langem Bommel; und am Rande standen einige Polizisten mit grüner Uniform und schwarzem Gummiknüppel.

»Liebe Kinder,« eröffnete ich die Versammlung, »ich will euch eine Geschichte von mir erzählen, und auf dem Höhepunkt der Geschichte zeige ich euch meine Saule.«

Ein Polizist zückte seinen Notizblock und notierte: »Höhepunkt und Saule um 16:05 Uhr.« Dann steckte er sein Büchlein wieder in die Jacke und tat, als ob nichts gewesen wäre.

»Es war einmal ein Mann.« So begann ich meine Geschichte. Sogleich zückte der Polizist wieder sein Büchlein: »Geschichte eines Mannes: 16:06 Uhr.«

»Der war schon sein ganzes Leben lang von einem Örtchen zum anderen gezogen und hatte überall lustige Streiche gespielt. Jetzt kam der Mann nach Bremen und erzählte den Frauen, er werde jeden Liter Milch aufkaufen, den sie ihm bringen würden. Er hatte ein großes Fass aufgestellt und schrieb mit weißer Kreide auf das Fass, wie viel Milch ihm jede einzelne Frau gebracht hatte.

Schließlich hatte der weitgereiste Mann 400 Liter in seinem Fass und erklärte den Bremerinnen, er habe zur Zeit kein Geld. Aber in 14 Tagen würde er wiederkommen und seine Schulden brav bezahlen. Er öffnete seine Hosentaschen und krempelte sie um; denn er wollte beweisen, dass sich kein Geld in den Taschen befand.«

»Offene Hose: 16:15 Uhr,« notierte der aufmerksame Hüter der Ordnung.

»Nun schimpften die Frauen und drohten, sie wollten die Polizei rufen. Was der Mann ihnen angetan habe, sei Betrug.

Der weit gereiste Narr mit den umgekrempelten Hosentaschen lenkte ein. Es sei genau notiert, wie viel Milch eine jede Frau abgeliefert habe. Wenn man auf die Geldzahlung in 14 Tagen nicht warten wolle, so könne die Milch zurückgefüllt werden. Es solle nur jede Frau gut darauf achten, dass sie nicht mehr zurücknehme, als sie abgeliefert hätte. -«

Die Möllner Kinder fingen an zu lachen, denn sie ahnten, was nun passieren würde.

»Auf dem Marktplatz zu Bremen«, erzählte ich weiter, »entstand ein heilloses Durcheinander. Die Frauen beschuldigten sich gegenseitig, zu viel Milch zurückgefüllt zu haben. Sie gerieten sich in die Haare und verprügelten einander, bis schließlich das große Fass umfiel und die Milch sich auf dem Marktplatz ausbreitete, als hätte es statt Regen einen heftigen Milchschauer gegeben.«

»Prügelei und Verschmutzung: 16:30 Uhr,« notierte der grüne Polizist.

»Als man aber nach dem Anstifter des ganzen Unglücks suchte, war er längst über alle Berge davongelaufen. Nur seine Saule war noch zugegen. Aber der Saule konnte kein wütendes Marktweib, kein Polizist und kein Richter oder Staatsanwalt etwas antun.«

»Aulenspeegel!« rief eines der Möllner Kinder. »Was ist eine Saule? Du wolltest uns doch deine Saule zeigen.«

»Und nun, liebe Kinder,« gab ich zur Antwort, »kommen wir zum Höhepunkt des heutigen Nachmittags. Ich zeige euch meine Saule.«

»Verspricht, seine Saule zu zeigen: 16:35 Uhr,« notierte der böse Polizist.

»Bitte schaut mich mal alle ganz genau an! Keiner darf etwas sagen. Alle Kinder sollen mich ganz genau anschauen.« Ich ging mehrfach auf und ab. Es war ganz still, und die Kinder starrten mich an.

»Jetzt, liebe Kinder müsst ihr eure Augen schließen. Dann seht ihr meine Saule.«

Die Kinder standen schweigend da: mit geschlossenen Augen. Viele von ihnen sahen in Gedanken ein freundlich lächelndes Wesen mit zwinkernden Augen und einem Spiegel in der rechten Hand. Auf der linken Schulter dieser Saule sahen sie eine Eule sitzen, und sie hörten, wie die Eule rief: »Kibietz, Kuit, Kuit, Kuit«

Plötzlich hörte man eine mächtige Männerstimme. Und weil es auf dem Marktplatz so schön still war, hörten es auch die Kinder, die zu spät gekommen waren und nur noch in dem hintersten Winkel Platz gefunden hatten. »Herr Eulenspiegel, sie sind vorläufig festgenommen wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses und wegen schmutzigen Redens in Gegenwart von Kindern.«

Die Möllner Kinder rissen die Augen auf und sahen, wie zwei Männer in grüner Uniform ihrem Aulenspeegel die Handschellen angelegt hatten. Sie führten mich ab: der Schriftgelehrte vorweg, denn er war der Anführer. Zwei grüne Fräcke rechts und links neben mir, und zur Vorsorge gegen Ausbruchversuche nach hinten marschierte der vierte Polizist hinterdrein.

Der Weg führte mich direkt ins Gefängnis. Kein Verhör mit Anlegen einer Akte. Ich wurde einfach ins Verlies gesperrt. Es handelte sich um einen unterirdischen Raum, in dem etwa 100 Gefangene zum Teil schon seit Jahren dahinvegetierten: an der Oberkante einer Wand führten schräge Schächte zu offenen Luken, die mit schweren Gitterstäben versperrt waren. Die Tür war aus Eisen und krachte Grauen-erregend hinter mir ins Schloss.

Da draußen noch die Sonne schien, konnte ich nach einigen Minuten zahllose finstere Gestalten erkennen. Kaum einer nahm von mir Notiz. Man dämmerte nur noch teilnahmslos vor sich hin.

Es stank entsetzlich, weil die Gefangenen seit Jahrzehnten hin gekackt hatten, wo immer es ihnen gefiel. Von den Wänden lief das Wasser, das irgendwo stinkend in den Boden versank. Wer sich die Hände waschen wollte, musste mit diesem Wasser vorlieb nehmen.

Ich suchte mir einen halbwegs trockenen Platz, kramte mir etwas von dem herumliegenden Stroh zusammen und warf mich zu Boden, um über meine gegenwärtige Lage nachzudenken.

Was in aller Welt hatte ich verbrochen? Bestand irgendeine Chance, hier wieder herauszukommen? Oder würde man mich in dem Dreckloch verrotten lassen, bevor ich überhaupt einem Richter vorgeführt würde?

Zu meinem Erstaunen erschien schon am nächsten Morgen ein Trupp von vier Polizisten. Sie brüllten »Eulenspiegel«, legten mir Handschellen an und marschierten mit mir in derselben Formation wie gestern zum Gericht.

Einer der Polizisten sagte: »Mit dem wird es schnell gehen. Sie wollen, dass die Kinder ihn nicht vergessen, bevor sie sehen, was mit solchen Schandbuben passiert.«

Der Richter fragte mich zuerst, welches denn mein richtiger Name sei. Die Kinder hätten mich Aulenspeegel genannt, aber in seinen Akten stehe deutlich zu lesen »Till Eulenspiegel«.

Ich erklärte, dass die Behörden in meinem Geburtsort nicht richtig hören und schreiben könnten. Mein eigentlicher Name sei Till Aulenspeegel.

Der Richter vollführte eine abfällige Handbewegung und vermerkte auf seinem Blatt »Till Eulenspiegel aus Braunschweig«. Was ich denn gegen Behörden einzuwenden hätte. Die seien doch überall in Deutschland gute und besonders befähigte Menschen.

Von diesem Zeitpunkt an wusste ich, dass der Richter - wie so viele - sein Urteil längst gefällt hatte. Der wollte von mir nicht die Wahrheit erfragen, sondern der suchte Gründe, mich an den Galgen zu bringen; und den Hauptgrund hatte er schon gefunden: ich mag die meisten Behörden nicht.

Der Richter versprach, sogleich zur Hauptsache zu kommen. Er wollte zunächst wissen, ob ich die Kinder angelockt hätte mit dem Versprechen, ihnen meine Saule zu zeigen. Ich bestätigte dies wahrheitsgemäß.

Weiterhin erklärte mir der Richter, es liege ein Gutachten des Möllner Schulmeisters vor. Der sei ein gelehrter Mann, und man müsse ihm unbedingt glauben.

»Was behauptet der Gutachter?« fragte ich. »Wenn Ihr mir das verratet, kann ich euch wahrscheinlich viel besser sagen, ob wir dem Gutachter glauben können.«

Der Richter gebot mir, still zu schweigen. Ich dürfe nur sprechen, wenn ich gefragt würde. Sollte ich nochmals ungefragt reden, werde er eine Geldstrafe verhängen.

»Ich habe doch gar kein Geld, und mehr als mein nacktes Leben könnt Ihr mir trotz Eurer unschätzbaren Autorität nicht nehmen.« Ich hatte jetzt wieder Mut gefasst, denn ich wusste, dass ich noch heute erhängt werden sollte. Meine Saule würde mir auch der Henker nicht nehmen können.

Der Richter klopfte mit einem Hämmerchen auf den Tisch: »Es ergeht Beschluss: der Eulenspiegel hat einen Betrag von 20 Thalern an die Staatskasse zu entrichten wegen unerlaubten Redens vor Gericht.«

Jetzt zeigte er mir eine Abbildung, auf der zu erkennen war, dass ein Mensch einigen anderen seinen Hintern zeigte und sich dabei höhnisch zu ihnen herum drehte. Unter dem Bild stand geschrieben: »Till Eulenspiegel«.

Der Richter erklärte mir, es seien gestern auf dem Möllner Marktplatz vier Polizeibeamte zugegen gewesen, und sie hätten übereinstimmend ausgesagt: »Till Eulenspiegel hat vor den Kindern in aller Öffentlichkeit seine Hosen heruntergelassen.« Er fragte noch, ob ich bei so erdrückender Zeugen-Belastung weiterhin leugnen wollte. Ich holte noch Luft, aber mir blieb die Stimme weg, als hätte sich schon jetzt die Schlinge um meinen Hals zusammengezogen.

Der Richter schloss geräuschvoll die Akten. Ich sollte mich erheben. Er ziehe sich zur Beratung zurück.

Nach etwa einer Minute - die Uhr hatte gerade 13 geschlagen - kehrte der Richter zurück und verkündete: »Till Eulenspiegel, geboren im Land Braunschweig, wird zum Tode durch Erhängen verurteilt.« Zur Begründung führte er an, ich hätte den Kindern öffentlich meine Saule gezeigt. Der Dorfschulmeister habe die Saule eindeutig als den Körperteil beschrieben, mit dem selbst der feinste Edelmann einen Gestank wie die Sau erzeugen könne. Außerdem sei durch Zeugnis einiger Eltern und mehrerer Polizisten die öffentliche Unzucht des Herrn Eulenspiegel erwiesen.

Noch am Nachmittag wurde ich - wieder von vier Polizisten - auf den Möllner Marktplatz geführt. Dort hatte man schon am Morgen einen Galgen errichtet. Man führte mich hinauf und schickte sich an, der Öffentlichkeit das Urteil zu verlesen. In dieser Zeit gelang es mir, unter den Handschellen die Schnalle meines Gürtels zu lösen.

Als unter mir der Hocker weggezogen wurde, auf dem ich stand, gab es einen Ruck im ganzen Körper: oben brach mir der Hals, aber unten - das konnte ich in letzter Sekunde noch wahrnehmen - rutschte meine Hose weg, so dass tatsächlich mein Hintern in aller Öffentlichkeit vorgezeigt wurde.

Jetzt waren zwar keine Kinder anwesend. Die durften bei meinem letzten Streich nicht zuschauen. Aber die Möllner Polizisten haben Recht behalten: der Hintern des Till Aulenspeegel wurde öffentlich zur Schau gestellt; und meine Saule, die bereits einige Meter über dem Galgen schwebte, musste schmunzeln über meinen letzten Aulenspeegel-Streich.

Liebe Freunde, dies alles ist schon 700 Jahre her. Wahrscheinlich ist meine Saule seither einige Male wieder durch ein ganzes langes Leben gegangen. Aber sie ist der Menschheit aus der Zeit des Till Aulenspeegel über die Jahrhunderte nicht verloren gegangen. Der Tod kann nur den Körper nehmen und auch die Wahrnehmung und das Denken. Aber die Saule bleibt erhalten. Und wenn sie Till Aulenspeegel hieß, dann liest man noch lange über sie in den Büchern aller Welt.

Zwanzigste Historie: Aulenspeegels Erbe

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Datei:Eerbe.jpg
Aulenspeegels Erbe: Gemälde von Georgia Röder

Freunde, ich habe euch schon erzählt, dass ich eine böse Vorahnung hatte, als ich nach Mölln hereinkam. Zur Mittagszeit, als die Möllner Kinder ihren Eltern erzählten, dass ich ihnen meine Saule zeigen wollte, versteckte ich in meiner Herberge eine große alte Kiste. Sie war von außen kostbar beschlagen und mit schweren Schlössern versehen. Den Schlüssel aber versteckte ich unter meiner Matratze.

Inzwischen hatte man mich hingerichtet, und meine Saule - wie die meisten Saulen kurz nach dem Sterben - schwebte über der Stadt. Zuerst sah ich, wie mir am Galgen die Hose herunter rutschte; und ich musste lachen, dass der böse Richter nun doch noch irgendwie recht behalten hatte: ich hatte den Möllnern den Hintern gezeigt.

Dann aber konzentrierte ich mich auf meine Schatzkiste. Würden die Möllner sie finden? Würden sie die Schlösser öffnen? Was für einen Zank würden sie um mein Erbe veranstalten?

Ein Zimmermädchen entdeckte die Kiste. Sie versuchte, die Schlösser zu öffnen, denn sie wollte heimlich etwas stehlen. Sie zerrte am Deckel, aber die Schlösser gaben nicht nach.

Dann holte sie ihren Freund, der es mit einem Brecheisen versuchte. Aber er wurde vom Wirt überrascht, der zugleich der Bürgermeister war. »Die Kiste,« sprach er mit beachtlicher Stimme, »gehört der Stadt. Wenn keine Erben da sind, fällt das Vermögen eines Verstorbenen an die Stadt. Hüte dich du Galgenvogel, noch einmal Hand an diese Schatzkiste zu legen!«

Kaum hatte er den Freund des Zimmermädchens verjagt, versuchte er selbst, mit dem Brecheisen meine Kiste zu öffnen. Es müsste doch gelingen, vorab etwas auf die Seite zu schaffen. Kein Mensch konnte wissen, wie viel Geld ich in der Kiste verwahrt hatte. Der Öffentlichkeit würde man danach nur noch einen Rest des Schatzes überlassen.

Aber der Wirt wurde vom Polizeiobermeister überrascht, der zufällig ins Gasthaus kam, um ein Glas Bier zu trinken. »Ich wollte nur mal ausprobieren,« fauchte der Wirt erschrocken, »ob man die Kiste ohne fachmännische Hilfe öffnen kann. Mir scheint jedoch, dass man den Schlosser rufen muss. Er soll im Auftrag der Stadt und unter Aufsicht der Polizei die Schlösser erbrechen.«

Natürlich erfuhr auch mein feiner Richter von meiner Hinterlassenschaft. »Es liegt ein Beschluss vor, dass Eulenspiegel 20 Taler wegen unerlaubten Redens vor Gericht zu zahlen hat.« Bevor man das Erbe übernehme, seien also 20 Taler für die Gerichtskasse abzuziehen. Auch sei sein Urteil - wenngleich krass rechtswidrig - nicht unentgeltlich. Ein Betrag von 100 Talern sei für das hohe Gericht einzubehalten.

»Nicht so eilig,« rief der Wirt. »Eulenspiegel hat bei mir gewohnt. Für Kost und Logis sind zu allererst 100 Taler an mich abzuzweigen.«

Jetzt kam der Friedhofsverwalter und verlangte Bestattungsgebühren. Der falsche Oberpolizist wollte Geld für seinen feinen Notizblock.

So stritten sie alle, während der Schlosser sich mit einem Dietrich an den Verschlüssen der Kiste zu schaffen machte. Schließlich half alles nichts: man musste mit einem richtigen Brecheisen die kostbare Kiste zerstören, um sie zu öffnen.

Freunde, ich habe euch doch von Elke erzählt, die von mir wissen wollte, was die Saule sei. Sie war die Tochter des Wirts und spielte im Zimmer, als die Erwachsenen sich um mein Erbe zankten.

»Elke!« flüsterte ich als unsichtbarer Geist. "Schau doch mal unter die Matratze! Ich habe da etwas für dich.« Elke jubelte: »Hier sind doch die Schlüssel. Hurra, hurra! Aulenspeegels Schlüssel sind wieder da!«

Aber die schöne Kiste war inzwischen zerbrochen. So waren die Schlüssel unnütz geworden.

Jetzt klappte der Schlosser den Deckel auf. Totenstille trat ein. Denn in der Truhe fand man nichts als kleine und größere bunte Steine.

Verärgert wandte sich der falsche Richter ab. Er warf dem Wirt vor, unnötig die Öffentlichkeit befasst zu haben. »Das grenzt an Erregung öffentlichen Ärgernisses. Seid froh, dass Ihr Bürgermeister seid! Sonst würde ich Euch deswegen vor Gericht stellen!«

Der Pfarrer bekreuzigte sich, weil er den Teufel in der Truhe vermutete. Küster, Polizist und einige verärgerte Stadträte zogen enttäuscht vondannen.

Nur die kleine Elke blieb an meiner Schatztruhe. Auch kamen noch ein paar andere meiner geliebten Möllner Kinder hinzu.

Elke nahm einen grünen Stein und behauptete, dies sei der Kasper. »Tri Tra Trallala" sang sie, und der kleine Heinrich aus dem Haus gegenüber nahm einen roten Stein. »Schau,« rief er, »dies ist der Aulenspeegel!« Er stellte den Stein senkrecht auf und verstellte seine Stimme: »Liebe Kinder, jetzt will ich euch meine Saule zeigen. Hieck, Puup, Tschatschtscha." So sang er zu den tanzenden Bewegungen meines roten Steines.

Ich freute mich bei meiner Beobachtung von weit oben über der Stadt. So haben meine lieben Kinder doch etwas von mir geerbt: »Tri Tra Trallala« und »Hieck, Puup, Tschatschtscha." Das ist mein Vermächtnis.

Einundzwanzigste Historie: Aulenspeegels Bestattung

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Datei:Bestattung.jpg
Eulenspiegels Bestattung: Gemälde von Georgia Roeder

Schließlich machte ich mich davon. Ich schwebte immer noch hoch über der Stadt und sah mir an, was da unten mit meinem Körper geschah.

Verächtlich hatte man ihn in einen Karren geworfen und auf den Friedhof geschoben. Eine alte Holzkiste stand irgendwo herum, die für meine Körpergröße viel zu lang war. Hinein damit, und Deckel zu! Man ging nicht gerade zimperlich mit meinen sterblichen Überresten um.

Nach Tagen hatte man ein Grab geschaufelt. Anstatt - wie üblich - den Sarg an Seilen sanft in die Tiefe gleiten zu lassen, stülpte man die Kiste der Länge nach in das geschaufelte Loch. Da der Sarg viel zu lang war, rutschte mein Körper in der Schräge nach vorn-unten. Die Kiste schlug um, und mein Leichnam stand in der Kiste auf dem Kopf.

»Ist doch egal!« schnauzte der Friedhofsverwalter. »Nichts als Steine hat Eulenspiegel hinterlassen. Dafür kann er auch im Kopfstand ruhn! Schaufelt das Grab zu, und stellt einen dicken Felsbrocken darauf, damit der böse Geist des Eulenspiegel nicht herauskann!«

Auf den Stein ritzte man meinen falschen Namen und machte sich davon. Denn auf dem Friedhof ahnt man oft, dass boshafte Bestattung ein Nachspiel hat.

Ein Nachspiel, liebe Kinder! Das war es, was ich mir vornahm, als ich sah, wie diese Flegel mit meinem Leichnam umgegangen waren. »Bevor ich ins Licht gehe und den Frieden der Engel genieße, werde ich noch einen Streich spielen, den die Möllner nicht vergessen sollen.«

Zuerst rollte ich den Fels zur Seite und bröckelte meinen falschen Namen heraus. Nach einigen Tagen bemerkte der Friedhofsverwalter, dass auf meinem Grab der Stein fehlte. Er verständigte den Pfarrer und man suchte die ganze Gegend ab, ob man einen Felsbrocken mit der Inschrift »Till Eulenspiegel« fände; darum rätseln die Menschen heute noch, wie mein Grabstein wohl abhanden gekommen sein könnte. Er lag aber ein wenig zerbröckelt im nächsten Gebüsch und war von den übrigen Steinen in der Umgebung nicht zu unterscheiden. Die Leute wollten einfach nicht glauben, dass mein Gespenst die Inschrift herausgekratzt hatte.

Nachdem meine Saule nun einmal in einem Gespenst drinnen war, beschloss ich, noch ein paar Besuche abzustatten. Zuerst schwebte ich ins Haus meines hohen Richters. Er lag gerade neben seiner mageren Frau im Schlafe, und ich begann, im Hause ein wenig zu poltern.

»Richterchen,« rief ich, »mein Lieber!« Aber ich meinte nicht wirklich, dass er lieb sei. Ich sah, wie er erwachte und vor lauter Angst an allen Gliedmaßen schlotterte. »Richterchen!« rief ich. »Ich will dir, bevor ich ins Licht gehe, noch erzählen, was eine Saule ist.«

Entsetzt starrte mich der Richter an. Träumte er, oder sah er ein leibhaftiges Gespenst? Wie konnte so ein Unhold von Eulenspiegels Saule wissen? Erlaubte sich da ein Einbrecher einen üblen Scherz mit ihm? Gleich morgen früh würde er die Polizei beauftragen, nach Spuren eines Einbrechers zu suchen. Das hohe Gericht musste unbedingt vor solcherlei grobem Unfug in Schutz genommen werden.

»Richterchen«, rief ich wieder. »wo hast du meine Akte aufbewahrt? Hol´ sie aus dem Regal und zeige sie mir! Sonst sollst du ein blaues Wunder erleben.«

Schlotternd brachte der Richter meine Akte ins Schlafzimmer und zeigte sie mir. Er legte den Finger auf meinen Namen und las vor: »Till Eulenspiegel, geboren in Braunschweig«.

»Richterchen,« flüsterte ich. »Weißt du noch, wie ich in Wahrheit heiße?« Der hohe Herr wurde wieder leichenblass und stammelte: »Aulenspeegel?«

»Na also, mein Lieber!« Ihr wisst schon: ich meinte keineswegs, dass er lieb sei. »Nun nehmt Tinte und Feder. Und schreibt meinen richtigen Namen in die Akte. Morgen früh werdet Ihr Euch dann erinnern, dass meine Saule da war und Euch zur Nachbesserung der Akte gezwungen hat. Bitte seid so gut, und setzt auch die Unterschrift mit heutigem Datum neben die Aktenkorrektur.«

Der Richter tat schlotternd, wie ich ihn geheißen hatte, und taumelte zurück in sein Bett. Ich wisperte noch ein paar »Hieck, Puup, Tschatschatscha« und verschwand auf dem Weg, den ich gekommen war: über den Markt zum Friedhof; hinein in die Kiste und hoch in die Wolken über der Stadt, von wo aus ich das Haus des Richters im Auge behielt.

So konnte ich sehen, wie am nächsten Morgen die Polizisten kamen und das Haus des Richters nach Einbruchsspuren absuchten. Als sie nichts finden konnten, schlug einer der Herren mit seinem Gummiknüppel eine Fensterscheibe von außen ein. So bewies man dem Richter, dass ein Strolch in sein Haus eingedrungen sei. Man versprach ihm, in den nächsten Nächten eine Wache hinter dem Haus aufzustellen, damit er wieder in Ruhe schlafen könnte.

Aber vor meiner Saule, liebe Kinder, kann man auch den dicksten Falschrichter in aller Welt nicht behüten. »Noch eine Nacht!« nahm ich mir vor. »Sollen doch Pfarrer und Bürgermeister nicht leer ausgehen!« Die Glocke schlug Mitternacht, und der Pfarrer saß noch auf einen Schoppen beim Wirt am Marktplatz. Ich blies alle Kerzen aus im Wirtszimmer. Es waren wohl 100 Kerzen, die der Wirt an diesem Abend angezündet hatte. Denn man hatte von meinem nächtlichen Streich beim Richter gehört und wollte sichergehen, dass so etwas nicht auch beim Wirt passierte.

"Blas, Blaschen, blas!" Ich stimmte mein Blaslied an, und eine Kerze nach der anderen verlosch. Je dunkler es wurde, umso deutlicher konnte man die Umrisse des schwebenden Gespenstes mit seinem Blasebalg erkennen.

»Herr Pfarrrrrer«, flüsterte ich und gab mir Mühe, ein überlanges R bei der Anrede des Geistlichen zu sprechen. »Wisst Ihrrr, was ein Geist ist? Als studierrrrter Herrrr solltet Ihrrr von solchen wichtigen Errrrscheinungen des Lebens etwas wissen.«

»Geister gibt es nicht, du Strolch,« stöhnte der Pfarrer und warf mit dem Weinglas nach mir. Das Glas verfehlte sein Ziel nicht. Es sauste durch mich hindurch und zertrümmerte eine Fensterscheibe.

»Was meint Ihr, lieber Herr Bürgermeister?« redete ich den Wirt an. »Wer soll denn die Reparatur der Scheiben bezahlen? Der Pfarrrrerrr hat nach einem Geist geworrrfen.«

»Eulenspiegel, was wollt Ihr von mir? Ich habe euch nichts getan. Ich bin der Bürgermeister von Mölln und trage keine Schuld an Eurer Hinrichtung. Wendet Euch an Polizei und Richter. Bürgermeister können kein Gerichtsurteil aufheben.«

»Wolltet Ihrrr nicht aus meinerrr Schatztruhe etwas stehlen?« fragte ich den alten Bravtuer. »Wascht Ihrrr heute noch Eurrre Hände in Unschuld, wie einst schon Pilatus, als man Jesus Christus verrrurrrteilt hatte?«

Ich zapfte ein Bier und goss es dem Bürgermeister über den Kopf, so dass er wie ein begossener Politiker dastand.

Im selben Moment ging die Tür auf, und der Polizeiobermeister trat herein. Er zückte ein Messer und seinen Knüppel. »Halt Stopp, du Spitzbube! Ich werde dich spuken lehren!« Er drang auf mich ein und wollte mich ermorden.

»Hieck, Puup, Tschatschatscha« tanzte ich vor ihm her. "Du boshafterrr Falschzeuge! Du hast längst fürrr meinen Tod gesorrrgt. Mit deinem Messer kannst du mirrr nicht mehrrr gefährrrlich werden. Knie niederrr, und entschuldige dich fürrr falsche Prrrotokollnotizen! Dann will ich dich künftig in Rrruhe lassen.«

Ich schwebte zurück über Marktplatz und Friedhof. Hinein in den Sarg und hinauf in die Wolken. Und als ich da oben angekommen war, sah ich den Wirt und den Pfarrer und auch den Polizeiobermeister. Sie knieten in der Wirtsstube und beteten: »Eulenspiegel oder Aulenspeegel! Wie immer du heißt! Vergib uns, was wir dir angetan haben! Wir wollen dir einen Gedenkstein setzen. Darauf soll für alle Zeiten geschrieben stehen, dass du bei uns gelebt hast und vor einer Woche hingerichtet wurdest. Aus aller Welt sollen die Leute an deinen neuen Grabstein treten, den wir in die Kirche einmauern. Sie sollen auch in 100 Jahren noch lesen, was wir an dir verbrochen haben.«

Als ich von oben herab sah, dass die Herren Reue zeigten, gab ich mich zufrieden. Ich schloss die Augen und sah das Licht Gottes. Nie wieder bin ich ein Gespenst gewesen. Nur in den Träumen meiner lieben Kinder, da singe und tanze ich immer noch: »Hieck, Puup, Tschatschatscha« und "Blas, Blaschen, blas´".

Zweiundzwanzigste Historie: Aulenspeegels Wappen und Kleidung

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Datei:Kkleidung.jpg
Aulenspeegels Wappen und Kleidung: Gemälde von Georgia Röder

Es macht mir Spaß, mich zu verkleiden. Bin ich Bäcker, trage ich weiß. Bin ich Schmied, trage ich grau. Bin ich Schneider, trage ich braun. Als Doktor trage ich weiße Kittel und eine Brille. Beim Pfarrer bin ich schwarz. Auch in der Universität trage ich einen schwarzen Talar.

Doch jetzt erst, seit ich verstorben bin, da sehen die Kinder mich rot, gelb und grün, weil ich der Aulenspeegel bin.

Mir gefällt mein Narrenkleid. Aber wenn ich es zeitlebens getragen hätte, so wäre ich viel zu früh erkannt worden; und meine Streiche wären kaum jemals gelungen.

Auch mein Wappen durfte ich immer erst an die Türen malen, wenn mein Streich vollbracht war. Ich schlich mich dann nachts an die Tür des Thoren und malte eine Eule und einen Spiegel:

Die feinen Herrschaften wischten mein Wappenzeichen möglichst bald von ihrer Tür ab. Aber seit ich nicht mehr am Leben bin, hat sich das geändert. Wenn ich heutzutage mein Wappen an eine Tür gemalt habe, dann kommen am nächsten Tag die Sachverständigen. War hier wieder einmal ein Graffiti am Werk? Oder hatte sich ein Nachbar einen Scherz erlaubt? Nur dass ich der Maler des Wappens war, das wollen allein die Kinder glauben.

Und ich sage euch, liebe Freunde, Ihr habt recht, wenn Ihr mir das glaubt. Ich komme immer mal wieder zur Welt, um bei den modernen Bürgern meine Streiche zu versuchen.

Neulich zum Beispiel war ich in Wittenberg. Aus Mölln hatte ich meinen Totenschädel mitgenommen. Liebe Kinder, es war kein Diebstahl, als ich in Mölln den Schädel des Aulenspeegel ausgrub. Zwar musste ich es nachts tun, damit mich niemand sah. Sonst hätte man mich wieder aufgehängt - und mir wäre wieder die Hose herunter gerutscht. Jedoch der Schädel war mein. Ich war nur - wie fast jede Seele - wieder einmal geboren worden.

Vom Goldschmied ließ ich mir den Schädel in Silber einfassen und gründlich reinigen. Ich durfte dem Meister nicht verraten, dass der Knochen, den er da in seinen Händen hatte, mein Schädel war. Das hätte der mir niemals geglaubt.

In Wittenberg kannte ich einen Pfarrer, der sehr geschäftstüchtig war. »Wenn Ihr mich einmal predigen lasst, lieber Pfarrer Fürchtegott, dann will ich dafür sorgen, dass die Leute reichlich spenden. Die Hälfte der Spenden soll für Euch und Eure Gemeinde sein.«

Er willigte ein, und am nächsten Sonntag - nach Gemeindegesang und Schriftlesung - bestieg ich die Kanzel. »Lieben Freunde, ich habe hier den Kopf des heiligen Brandanus. Obwohl er schon vor 200 Jahren gestorben ist, hat er mir aufgetragen, für den Neubau einer Kirche zu sammeln. Jeder, der geben will, soll in den Mund des Schädels einen Schein stopfen. Allerdings darf die neue Kirche nur von reinem Geld erbaut werden. Wenn ein Schein eines Betrügers in des Brandanus Mund gelangt, so wird er wieder ausgespuckt. Bedenkt also vorher, ob Ihr durch Betrug an Euer Geld gelangt seid! Denn wenn der Schädel es ausspuckt, so seid Ihr vor allen Leuten bloßgestellt, und Euch wird vielleicht gar der Prozess gemacht.«

Zögernd kamen die Leute. Denn sie hatten Angst, sie würden als Betrüger angesehen werden, wenn sie nichts geben würden - wohl wissend, dass Brandanus ihren Geldschein ausspucken würde. Alle schauten zu, ob der Schein wieder herauskam. Selbstverständlich blieb er aber drin, so dass der Spender vor aller Öffentlichkeit als ehrlicher Mensch dastand. Mit stolz geschwellter Brust ging daraufhin ein jeder vor den Anderen zurück auf seinen Sitzplatz. Denn er war in aller Augen ein ehrlicher Mann.

Freunde, ihr glaubt nicht, wie viel Geld an diesem Sonntag zusammenkam. Ich wusste natürlich, dass jeder schon einmal betrogen hatte. Aber mein Schädel nahm alles Geld an, und die Spender waren glücklich, dass sie auf diese Weise so schön zu mehr oder weniger falschem Ansehen gelangt waren.

Der Pfarrer bekam an diesem Tag von mir 5333 Taler, und Ihr wisst bestimmt, wie viel ich dabei verdient habe. Am nächsten Morgen aber fand der Pfarrer an der Kirchentür mein Wappen.

Er holte eilig Schwamm und Wasser. Nach einer halben Stunde war die Kirchentür ganz und gar glänzend sauber gewaschen.