Benutzer:Wolfgang Bähner/Archiv Dip

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Archiv Dip - Hermann Herrigel und die "Neue Richtung". Zur Erwachsenenbildung in der Weimarer Republik - 1994


Wie ich selbst erst vor kurzem erfahren habe, wurde meine Diplomarbeit (mit vielen anderen und auch Dissertationen) mittlerweile (vermutlich mit der Schliessung der Pädagogischen Fakultät in Düsseldorf) "makuliert", so die Auskunft der Universitätsbibliothek.


Einleitung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg war für die Erwachsenenbildung eine Zeit der Veränderung und des Aufblühens. Viele Volkshochschulen entstanden 1919. Theorie und Praxis wurden von einem neuen Denken beeinflußt: dem Denken der "Neuen Richtung". Diese Entwicklung wurde von Hermann Herrigel, der zunächst in der Volksbildung tätig und dann Redakteur der "Frankfurter Zeitung" war, kritisch begleitet. Gegenstand dieser Arbeit ist es, diese Beziehung zu untersuchen.

Zum Verständnis der Geschichte der Erwachsenenbildung wird in dem umfassenden Buch "Das Zwischenspiel freier Erwachsenenbildung" von Fritz Laack bedauert, daß "viele Fakten und Zusammenhänge - auch aus der Zeit vor 1919 - unbekannt sind" (Laack 1984, S. 1). Laack, ein Zeitzeuge, möchte einen Beitrag leisten, um diese Lücke zu schließen. Dabei wird der Person Hermann Herrigels - obwohl an exponierter Stelle genannt - nicht viel Platz gewidmet. Laack kann auf die Studien von Jürgen Henningsen verweisen, der sehr eindringlich die Bedeutung Herrigels hervorgehoben hat. Henningsen, einer der profundesten Kenner der Erwachsenenbildung der Weimarer Zeit, schreibt in seiner Arbeit "Zur Theorie der Volksbildung": "Von Herrigel wissen die meisten, denen ein ungefähres Bild der Geschichte der deutschen Erwachsenenbildung gegenwärtig ist, so gut wie gar nichts", und er betont, "daß jede Darstellung, die für die von Herrigel ausgegangenen entscheidenden Anstöße keinen Platz findet, unzulässig schematisiert" (Henningsen 1959, S. 24).

Die, nach Henningsen, nicht zu unterschätzende Bedeutung Herrigels hat seitdem Niederschlag gefunden, z. B. in der 1969 erschienenen Quellensammlung von Hans Tietgens: "Erwachsenenbildung zwischen Romantik und Aufklärung", und in dem "Handwörterbuch der Erwachsenenbildung" von Ingeborg Wirth (1978). Zum 80. Geburtstag Hermann Herrigels 1969 ist eine Bibliographie seiner Schriften erschienen, herausgegeben von Ursula Schulz, mit einer Einleitung von Günter Schulz.

Alle diese Arbeiten scheinen jedoch nicht geeignet, sich ein eigenes Bild über Hermann Herrigel und seine Bedeutung für die Erwachsenenbildung der Weimarer Zeit zu machen; selbst bei Henningsen sind nur wenige der wichtigsten Arbeiten Herrigels in groben Zügen dargestellt und zusammenfassend gedeutet. Eine intensivere Beschäftigung mit dem zugänglichen Material soll deshalb hier nachgeholt werden. Henningsen (1959, S. 25) verspricht uns, daß wir dabei "einige lohnende Überraschungen erleben" werden.

Tuguntke (1988, S. 11) stellt sich unter dem Titel "Demokratie und Bildung" die Frage, ob er in der Bewertung der Weimarer Erwachsenenbildung eher Markert[1] oder Henningsen folgen soll; dabei konzentriert er sich auf den Zeitraum von 1929 bis 1933. Auch insofern kann die vorliegende Arbeit, die bis zu den Wurzeln (1911) zurückschaut, als eine Ergänzung gesehen werden.

In unserer Beschäftigung mit Hermann Herrigel wollen wir, nach einigen biographischen Anmerkungen[2] (Kapitel 2) und einem Überblick über Geschichte und Situation der Erwachsenenbildung 1916 (Kapitel 3), seinem Lebensweg folgend, in Kapitel 4 die Anfänge seiner Auseinandersetzung mit der Erwachsenenbildung skizzieren: eine Publikation ("Tat-Flugschrift") entzweit ihn mit Walter Hofmann, bei dem er eine Ausbildung zum Volksbibliothekar gemacht hatte, und ist vermutlich die Reputation für die "Frankfurter Zeitung" (FZ), bei der Herrigel dann 20 Jahre arbeiten sollte. Nach einigen Artikeln über Volksbibliothek und Volkshochschule in der FZ erscheint 1919 in der "hochangesehenen Monatsschrift" (Henningsen) "Die neue Rundschau" der Aufsatz "Erlebnis und Naivität und das Problem der Volksbildung", der "die Aufmerksamkeit aller verantwortlich Tätigen erzwang" (Henningsen 1959, S. 25). Der Dialog mit Wilhelm Flitner, Eugen Rosenstock, Werner Picht u. a., den Henningsen "nur andeutend ... in einigen Hauptlinien" (26)[3] verfolgen kann, ist Gegenstand des 5. Kapitels.

Schließlich begleitete Hermann Herrigel den "Hohenrodter Bund" von seiner Entstehung 1923 bis zu seinem Ende 1930 mit jährlichen Artikeln in der Frankfurter Zeitung (Kapitel 6). Diese Berichte "stellten fast die einzige Quelle dar, aus der die Interessierten etwas über den Bund erfahren konnten" (Henningsen 1959, S. 25), und sind bis heute nicht analysiert worden. Der Hohenrodter Bund war ein Zusammenschluß von Praktikern und Theoretikern der Neuen Richtung, der die Erwachsenenbildung der Weimarer Zeit maßgeblich beeinflusste.[4] In Kapitel 6.1. wird Herrigels Trennung von der "Frankfurter Zeitung" angesprochen. Abschließend soll im 7. Kapitel ein Resümee gezogen werden.

Diese Arbeit ist verwoben mit der Geschichte der Weimarer Republik, die mit dem Nationalsozialismus endete. Welche Gedanken und Weltanschauungen einer autoritären Staatsform nahestanden, wird uns, wenn auch nur am Rande, beschäftigen.

Zur Terminologie: Der Begriff "Erwachsenenbildung" wird hier als Oberbegriff gebraucht. "Volksbildung" wurde in der Weimarer Zeit im Sinne von "Erwachsenenbildung" verwandt, bedeutete aber auch "Bildung zum Volk". Der Begriff "Weiterbildung" bezeichnet, in Anlehnung an den Sprachgebrauch Herrigels, berufliche Fortbildung. Gegenstand dieser Arbeit ist die "freie" bzw. "neutrale" Volksbildungsarbeit der "Neuen Richtung". Damit ist eine thematische Abgrenzung vorgenommen gegenüber der weltanschaulich (z. B. konfessionell) "gebundenen" Erwachsenenbildung.


Hermann Herrigel[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Hermann Herrigel wurde am 2.6.1888 in Monakam/Liebenzell geboren. Die Eltern waren pietistisch orientierte Protestanten, der Vater war Lehrer. Nach dem Abitur folgte das Studium in Tübingen und München (vermtl. auch in Berlin): Hermann Herrigel "sollte Philologe werden" ("Rückblick") und beschäftigte sich viel mit Philosophie. Er studierte bei E. Adickes, dem Mitarbeiter der "Kant-Studien" und war besonders beeindruckt von dem Neukantianer Hans Cornelius. Seine Dissertation "Der Gebrauch der Epitheta bei Pindar" wurde von Prof. Schmied abgelehnt. Im Rückblick verwundert das Herrigel nicht, weil er während der gesamten Bearbeitungszeit mit Schmied nicht mehr gesprochen hatte. Hermann Herrigel beschreibt sich selbst als "Alleingänger".

So wird Hermann Herrigel 1912 ohne Studienabschluss Praktikant in einer Volksbücherei. Nach sechsmonatiger Ausbildung bei Walter Hofmann arbeitet er als Bibliotheksassistent in Dresden-Plauen[5] und Leipzig. Bis 1917 (vermutlich Jahreswende 1916/17) war er schließlich, laut Hofmann, Leiter der "Freien öffentlichen Bücherei Dresden-Plauen".[6] Herrigel schreibt, daß ihm der Sinn dieser Arbeit auch fraglich wurde und er so die Tat-Flugschrift verfasste, allerdings ohne mit Hofmann darüber zu sprechen: "So kam es zum Krach, doch kam um dieselbe Zeit der Ruf nach Frankfurt, um dort bei der Frankfurter Zeitung ein Archiv einzurichten" (Rückblick). Der genaue Hergang der Einstellung bei der Frankfurter Zeitung ist nicht bekannt. Noch wichtiger ist, daß dieses auch für das Ende seiner Redakteurstätigkeit, vermutlich 1935, gilt. Ein Zusammenhang mit der schwierigen Situation der Frankfurter Zeitung in jener Zeit scheint gegeben (vgl. Kapitel 6.1). In diesen zwei Jahrzehnten hat Hermann Herrigel über 250 Artikel - u. a. zu philosophischen und religiösen Themen, wie auch zur Erwachsenenbildung - allein in der FZ geschrieben. Er hat seinen philosophischen Standpunkt ausgearbeitet und war im Hohenrodter Bund engagiert.

Mitte der 30er Jahre hat Hermann Herrigel den Versuch unternommen, eine kleine Zeitschrift, die "Christliche Besinnung heute", herauszugeben; diese wurde 1939 verboten. Herrigel hat auch nach dem Krieg weiter publizistisch gearbeitet.

Der Philosoph Günter Jakoby hat Ende der 50er Jahre ein "Publikationsverbot" für Arbeiten von Herrigel erwirkt. Der Grund war eine Meinungsverschiedenheit über die Ontologie Jacobys. Einzig Herman Nohl, der damalige Herausgeber von "Die Sammlung", hat Herrigel anscheinend noch unterstützt (vgl. Schulz, 1969 S. 14). In "Die Sammlung" erscheint 1959 eine ausführliche Stellungnahme Herrigels. Herrigels Publikationstätigkeit war seitdem stark eingeschränkt.

In der Landesbibliothek Stuttgart sind zahlreiche unveröffentlichte Arbeiten und 33 Bände mit (vermutlich handschriftlichen) Aufzeichnungen archiviert.

Zum Verständnis der Person Hermann Herrigel gehört, daß er in seinem Leben mehrere Schicksalsschläge hinnehmen mußte. Die erste Frau Herrigels starb 1922. Eine zweite Ehe scheiterte. In den 30er Jahren kam es zu einer dritten Ehe zunächst nicht, weil seine damalige Partnerin bei einem Autounfall tödlich verunglückte. In dritter Ehe lebte Hermann Herrigel nach dem Kriege in Schorndorf, dort ist er am 19.10.1973 gestorben.


Erwachsenenbildung - Geschichte und Situation 1916[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In diesem Kapitel wird versucht, die Situation zum Zeitpunkt der ersten Veröffentlichungen Herrigels zu veranschaulichen. Zwei Texte sollen hier besprochen werden, die Herrigels Denken in dieser Zeit beeinflussten: Ein Artikel von Robert v. Erdberg (Kap. 3.1.) ist die Basis seiner Kritik am Volksbildungswesen. Der zweite Text ist das Buch "Der Genius des Krieges" von Max Scheler (Kap. 3.2.). Es ist eine typische Reaktion auf den Weltkrieg. Zunächst sollen einige Aspekte des Richtungsstreits in der Volksbildung dargestellt werden.

"Von alten und neuen Richtungen"[7][Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Zeit des Krieges und der Revolution ist eine Zeit des Umbruchs, in der sich viele Spannungen zuspitzten. Das gilt auch für die Volksbildung, in der ein Streit zwischen verschiedenen Richtungen einen Höhepunkt erreichte. Dazu ein kurzer Rückblick in Stichpunkten. In Deutschland gab es Arbeiterbildungsvereine u. ä. seit den 1830er Jahren, die zum Teil Selbsthilfegruppen waren und sich "zwecks Befähigung zum praktischen Lebenskampf" um Aufklärung und Wissenserweiterung bemühten (vgl. Wirth 1978, 679).

Die Institutionalisierung erreichte 1871 mit der Gründung der "Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung" eine neue Phase. Geschäftsführer und Generalsekretär war von 1891 bis 1933 Johannes Tews. Gegen Tews und die "Gesellschaft" richtete sich die Kritik der Neuen Richtung. Die "Zentralstelle für Arbeiterwohlfahrt" der preußischen Regierung wurde 1906 in die "Zentralstelle für Volkswohlfahrt" mit einer Abteilung für Volksbildung umgewandelt, die Robert v. Erdberg leitete. Eine ihrer Aufgaben war die Vereinigung der Volksbildungsvereine. Man konstatierte eine geringe öffentliche Anerkennung der Volksbildung. Die Ursache wurde in der anhaltenden "Zersplitterung der Bewegung in verschiedene Richtungen" gesehen.[8]

Mit dem Stichwort "Individualisierung"[9] der Bildungsarbeit auf Seiten der Neuen Richtung ist der zentrale Unterschied zu den Vorträgen der "Gesellschaft" immer noch treffend beschrieben, obwohl es Zweifel an der Eindeutigkeit dieses Bildes gibt.[10] Der einzelne Mensch sollte im Vordergrund der Bildungsbemühungen stehen,[11] im Gegensatz zu einer Verbreitung von Kultur und Wissen, bei der nicht nach individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten gefragt wurde. Die Bildungsarbeit der "Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung" sollte "alle Gebiete umfassen" und "allen Menschen zukommen". Henningsen (1959, 16) kommentiert:

"Hinter dieser Forderung steht nicht nur die zu Tews' Zeit schon selbstverständliche Auffassung, daß jeder ein 'Recht auf Bildung' hat, sondern auch die Erkenntnis, daß ein demokratisches Staatswesen darauf beruht, daß alle Staatsbürger im besten Sinne 'aufgeklärt' sind und daß nicht ein Führer den Massen die Entscheidung und das Denken abnehmen darf."

Ein weiterer Aspekt ist die "Neutralität" im Sinne einer "Problem- und Wertabstinenz", die der "Gesellschaft" zum Vorwurf gemacht wurde (vgl. Tietgens 1969, S. 127). "Man wollte anbieten, und zwar 'ohne jede Tendenz'." In dieser Aussage von Henningsen wird R. v. Erdberg (1912) zitiert, der seine "volksbildnerische Tätigkeit in den Kreisen um Tews begonnen hatte" (Henningsen 1959, 19). Die "Neutralität" bleibt Gegenstand der Diskussionen bis in die 30er Jahre - ob "institutionelle Neutralität" oder "pädagogische Autonomie" (Flitner) - sie wird uns noch beschäftigen.

Walter Hofmann hatte seit 1906 in Dresden-Plauen eine Bücherei nach seinen Vorstellungen ausgebaut, in der "das richtige Buch an den richtigen Mann" gebracht werden sollte (Hofmann 1909; zit. n. Henningsen, S. 87). Hier ist der Ursprung der "Neuen Richtung" zu sehen. Hofmann gebrauchte diese Wendung zuerst 1913 (vgl. Henningsen, 88f), auf dem Höhepunkt des Streites mit seinem Hauptgegner Eugen Sulz. Mit dem Schlagwort "Gestaltende Volksbildung", so der Titel einer Veröffentlichung Hofmanns (1925), wurde ein weiteres Merkmal gegenüber der "verbreitenden" Alten Richtung geschaffen. Hofmann (1910a) untermauerte mit seiner empirischen Forschung die Forderung nach individualisierenden Methoden: Es gibt nicht den Proletarier, lautete sein Ergebnis (288f). Wir werden auf Hofmann und seine Arbeit (auch in Abgrenzung zu Sulz) noch zurück kommen, denn Herrigel kritisierte diese Bemühungen.

Walter Hofmann und Robert von Erdberg lernten sich 1908 kennen und waren, bis zu v. Erdbergs Tod (1929), freundschaftlich verbunden. v. Erdberg, der später neben Theodor Bäuerle eine der führenden Persönlichkeiten im Hohenrodter Bund war (vgl. Laack 1984, 571ff), war der Verbindungsmann zu den staatlichen Stellen. In der Reichsschulkonferenz von 1920 war er stellvertretender Vorsitzender im "Ausschuß für Volkshochschule und freies Volksbildungswesen". Berühmt wurde seine Einteilung der Geschichte der Erwachsenenbildung in drei Phasen: "vom Staat aus", "von der Kultur aus" (Alte Richtung) und "vom Menschen aus" (Neue Richtung). Henningsen (1960, 159) sieht in ihm "die bedeutendste Persönlichkeit der deutschen Volksbildungsbewegung".

Wenn wir im folgenden einen Text v. Erdbergs aus dem Jahre 1911 besprechen, begeben wir uns in die Zeit vor der Weimarer Republik. Das hat zwei Gründe: Zum Verständnis Herrigels sind seine ersten Publikationen von entscheidender Bedeutung. Seine Kritik am Volksbildungswesen wird sich auf den folgenden Text v. Erdbergs beziehen. Zum zweiten ist dieser Aufsatz ein wichtiger Versuch zur Grundlegung der Erwachsenenbildung in der Zeit des Umbruchs von der alten zur Neuen Richtung.

R. v. Erdberg: Die Grundbegriffe der Volksbildung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Zeitschrift "Volksbildungsarchiv", herausgegeben von v. Erdberg im Auftrag der Zentralstelle für Volkswohlfahrt, war mit ihrer Entstehung 1909 ein weiterer Meilenstein in der Geschichte der Volksbildungsbewegung. Im Untertitel hieß es programmatisch: "Beiträge zur wissenschaftlichen Vertiefung der Volksbildungsbestrebungen." Robert von Erdberg veröffentlicht hier 1911 eine 30 Seiten lange Abhandlung über "Die Grundbegriffe der Volksbildung", mit der er "Kultur (Zivilisation) - Bildung - Volksbildung" (so der Untertitel) definieren möchte, um "ein festes Fundament für alle Erörterungen auf dem Gebiete der Bildung ... [und] der Volksbildung" zu schaffen (358). v. Erdberg kritisiert, daß man sich über Ziele und Möglichkeiten der Volksbildung "nicht weiter den Kopf zerbrochen" habe:

"Jede Diskussion über die Notwendigkeit solchen Strebens verstummt vor den anderen Schlagworten: Wissen ist Macht, Bildung macht frei" (358f).

Er will dies jedoch nicht der ganzen Volksbildungsbewegung vorwerfen, sondern nur denjenigen, "die da glauben, leitend in die Bewegung eingreifen zu können, ohne Klarheit über die grundlegenden Fragen gewonnen zu haben." (359) Zunächst bemüht sich v. Erdberg in Abgrenzung zum allgemeinen Sprachgebrauch um eine etymologische Klärung der Begriffe Kultur und Zivilisation und kommt so zu einer neutralen Definition.

"In dem Worte Kultur liegt also das Schöpferische auf materiellem und geistigem Gebiete. ... die Kulturgüter ... zeigen aber ihrem Werte nach eine unendliche Verschiedenheit. Irgendein Schundroman ist ein Werk der Kultur wie der Faust. Eine Grenze lässt sich nicht ziehen. ... Wir können von Kulturgütern höherer und niederer Art sprechen, aber nur im Hinblick auf ein Kulturideal, das den höchsten und letzten Maßstab für alle Erscheinungen der Kultur abzugeben hätte." (361)

Der Begriff Zivilisation besagt für v. Erdberg, daß ein Volk in einer sozialen Ordnung lebt. Eine Vorstellung von Ordnung bedinge aber Kultur, so daß Zivilisation ein Teil der Kultur sei. Somit solle im folgenden nur noch von Kultur die Rede sein. Kultur wird im Gegensatz zu Natur gesehen.

Bildung wird zunächst definiert als "das Verhältnis des einzelnen zur Kultur"; damit ist kein Zustand gemeint, sondern "ein Streben nach Vollendung", ohne jemals ein letztes Ziel zu erreichen (363). Diese Entwicklung wird von außen angeregt ("Stoff") und "wächst wie organische Form von innen" (364). Eine nähere Bestimmung dieses Verhältnisses wird mit den Begriffen "extensiv" und "intensiv" sowie "positiv" und "negativ" geleistet: "Positives und negatives Verhältnis setzen ... die Intensität ... voraus" (265). Das extensive Verhältnis bleibe flüchtig und äußerlich. Die vorläufige Definition wird nun konkretisiert: "Bildung ist das Intensitätsverhältnis zur Kultur". Der Mensch tritt in ein "Verhältnis der Gegenseitigkeit. Er ist nicht mehr lediglich Subjekt, sondern auch Objekt." (366) Poetisch wird beschrieben:

"... gebildet ist, wer den engen Kreis seiner Umgebung mit liebevollen Augen durchforscht und mit schaffendem Geiste verstehen lernt, wem die kleine Welt, in der er lebt, sich in das Weltall weitet, weil er die Gesetze, die das All regieren, in ihr wiederfindet, erkennt und verehrt" (367).

v. Erdberg erkennt die Probleme, die sich ergeben, wenn er ohne Wertungen auskommen will. So muß er viel Argumentationskunst aufwenden und ein sehr positives Menschenbild bemühen, um auch der "Schundliteratur" noch etwas abzugewinnen. Zunächst stellt er fest, daß ein positives Intensitäts-verhältnis zur Schundliteratur zwar Unbildung sei, aber diese ist nicht etwas völlig anderes als Bildung.

"Ebenso wie es Kulturwerte gibt ..., die nicht in der Richtung eines Kulturideals liegen, so gibt es auch eine Bildung, die nicht an dem Maßstab eines Bildungsideals gemessen werden kann. Unkultur nennen wir jene, Unbildung diese. Wir dürfen diese Worte ruhig anwenden, sofern wir uns nur bewußt bleiben, daß wir mit ihnen nicht etwas der Kultur oder der Bildung Wesensverschiedenes bezeichnen." (368)

Wenn wir von Bildung sprechen, führt v. Erdberg aus,

"so verstehen wir darunter immer ein Intensitätsverhältnis zur Kultur, dem das Streben eignet, sich in der Richtung eines Bildungsideals zu vertiefen. In der Praxis dürfte dieses Streben freilich auch jedem Intensitätsverhältnis zur Unkultur zuzusprechen sein. Denn gehen wir diesem Verhältnis tiefer nach, so stellt es sich alsbald dar als die Erkenntnis der Stellung der betreffenden Kulturgüter innerhalb der Gesamtkultur, des Einflusses, den es auf die Entwicklung der Persönlichkeit haben kann und haben soll. Das Streben, diese Erkenntnis zu vertiefen, wird immer in der Richtung eines Bildungsideals liegen, denn einen Menschen, der sich bewußt nach der negativen Seite, das heißt nach der Seite der Unbildung hin entwickeln will, können wir wohl konstruieren, in der Wirklichkeit dürften wir ihm kaum begegnen." (368)

Möglich bleibt für v. Erdberg eine unbewußte Entwicklung der Persönlichkeit in Richtung "Unbildung". Bildung ist also das Bemühen einer Person, ihr Verhältnis zu einem Kulturgegenstand zu klären. Dabei setzt v. Erdberg voraus, daß sich eine bewußte Klärung immer auf ein Bildungsideal zubewegt. Wird später auch die Natur in einer dialektischen Gegenüberstellung in den Kulturbegriff aufgenommen (376), so kann man, im Sinne v.Erdbergs sagen: Bildung ist die Vermittlung von Mensch und Welt (Humboldt).

Es bleibt aber die Frage nach einem "kritischen Maßstab", der selbst über der Kritik stehen soll und dem sich bildenden Menschen den Weg weist: Die Frage nach den "letzten den Menschen gesetzten Zielen" (371). Dieses Ideal kann nur ein

"formaler Gedanke sein. Er muß die schöpferische Kraft der Menschen fassen, als die Erzeugerin der denkbar vollkommensten Werke." "Es würde jener Zustand der Gesellschaft sein, in dem jeder Mensch die besten und edelsten Kräfte in sich betätigen kann, weil in solcher Betätigung er der Gesamtheit den größten Nutzen erweisen und die Gesamtheit selbst, darum als ihr höchstes Ziel erstreben würde, ihm solche Betätigung zu ermöglichen. ... Das Bildungsideal würde demnach ein umfassendes positives Intensitätsverhältnis zu allen den Äußerungen der Kultur sein, in denen diese Kräfte ihren Ausdruck gefunden haben." (372)

In Anlehnung an Natorp schreibt v. Erdberg:

"Das Bildungsideal ist der höchste über aller Kritik stehende Maßstab für alle Bildung. Es ist der Punkt in der Unendlichkeit, der unserem Streben in der Endlichkeit die Richtung weist." (372)

Er unterscheidet von diesem Bildungsideal die Bildungsziele, die greifbar und erreichbar sein müssen und somit die "Gesamtheit des Volkes" durchdringen können (372f). Erdberg betont den freien Willen des einzelnen:

"Eine Gemeinschaft frei wollender Menschen, von denen jeder die objektiv berechtigten Zwecke des nächsten zu den seinen macht, so formuliert Rudolf Stammler das soziale Ideal."[12]

Es ist festzuhalten, daß v. Erdberg niemanden von der Volksbildung ausschließen will. Ihm ist wichtig zu betonen, daß niemand "ganz ungebildet" (375) ist.

Damit kommt v. Erdberg zum Thema Individualisierung der Bildungsarbeit und zur Klärung des Begriffs Volksbildung: "Volksbildung darf nicht mit Massenmitteln arbeiten, wenn sie auf Erfolg rechnen will." (382) Hier liegt die deutliche Abkehr von der alten Bildungsarbeit.

Ein Volk bleibt für ihn letztlich immer eine Summe von einzelnen Menschen. Volksbildung sei nichts Eigenes, nichts anderes als die Bildungsbemühungen der einzelnen. "Volksbildung ist das Intensitätsverhältnis des Volkes zur Kultur" (376), und dieses Verhältnis werde sich immer darstellen als die Einzelverhältnisse, die nebeneinander stehen.

"Unsere Volksbildungsbewegung leidet noch viel zu sehr unter der verkehrten Anschauung, daß es 'eine' Bildung gebe, die der Masse durch Massenmittel direkt vermittelt werden könnte." (381)

Einige dieser Gedanken werden bei Herrigel Kritik hervorrufen. Sozusagen vorbeugend, widerspricht Erdberg dem Vorwurf, er würde "jenem krassen Individualismus ..., der in unseren Tagen so üppig in Blüten schießt", Vorschub leisten (387). Erdberg will Persönlichkeitsentfaltung in Hinblick auf die Gemeinschaft verstanden wissen.

v. Erdbergs Aufsatz enthält noch eine Fülle bemerkenswerter Gedanken, die nicht alle besprochen werden können; unter anderem Äußerungen zur Rolle von Religion (386), Kunst (387) und Politik (387). Immer geht es um eine Förderung des persönlichen Verhältnisses des einzelnen zu diesen Gebieten. Darüber hinaus wird die Bildungsarbeit in homogenen Gruppen angesprochen (381). Der Volksbildungsbewegung sollte es darauf ankommen, "Bildungsmöglichkeiten zu eröffnen". Man solle sich nicht dem Irrtum hingeben, "daß wir direkt Bildung vermitteln" können (380). v. Erdberg hebt auch die Bedeutung des Berufes hervor, durch den jeder einzelne "in ein Intensitätsverhältnis zu einem Teile unserer Kultur" tritt (369).

Wichtig ist noch, daß Erdberg sich vehement gegen ein Neutralitätspostulat ausspricht: "... es gibt keine Neutralität in der Volksbildung" (383). Ein Intensitätsverhältnis zur Kultur schließe das aus, und dieses gelte für Schüler wie Lehrer.

"Ein Intensitätsverhältnis zur Kultur in anderen wecken, kann nur der, der selbst ein solches Verhältnis hat. Und er kann und darf es nur in der Richtung wecken, in der sein eigenes Verhältnis liegt, wenn er nicht ein frivoles Spiel treiben will mit jenem, an dem er eine hohe und heilige Aufgabe zu erfüllen hat. Wie kann er neutral sein? Je weniger 'neutral' er ist, um so besser wird er sein Ziel erreichen. Ob das, was er an Bildungswerten zu geben hat, seinem Schüler dienen kann, ist eine Sache, die er mit seinem Gewissen abzumachen hat. Spricht es ja, dann fort mit aller Neutralität und so subjektiv und persönlich wie möglich. Eine solche Persönlichkeit wird zu Religion und Politik ein ... Verhältnis haben ..., dieses Verhältnis kann sie nicht 'ausschalten', wenn sie als Persönlichkeit Persönlichkeiten wecken will." (383)

Einzig "jene Neutralität, die in der Erkenntnis des Bildungsideals sich in all ihrem Streben nur von ihm leiten ließe", wäre denkbar. "Dann aber gäbe es keinen Kampf mehr gegen Standpunkte und Überzeugungen, sondern nur noch einen Kampf gegen Unehrlichkeiten." (384)

v. Erdberg ist in vielem seiner Zeit voraus, aber bedenklich sind seine Vorstellungen von Einheitlichkeit und einer Aufhebung aller Gegensätze: "Die Zersplitterung der Bildungsziele in unserer Zeit erklärt auch die Tatsache, daß es uns heute an einer einheitlichen Weltanschauung fehlt." (373)[13]

In Entwicklung dieses Gedankens erscheinen dann auch "große Menschen", in denen sich "der Wille zu diesem Ziel am reinsten verkörpert" (373). Motiviert ist dieser Gedanke von dem Wunsch nach einer möglichst hohen Entwicklung des Volkes.

"[Es kann] zuletzt nur eine Weltanschauung geben, die den Anspruch auf absolute Richtigkeit erheben kann. Ihr können wir nur näher kommen, wenn unsere Bildung immer umfassender wird, wenn es einmal einem Führer unserer Nation gegeben sein wird, alle Äußerungen der Kultur umfassenden Geistes zu begreifen und die Formel zu finden, die alle Gegensätze und alle Widersprüche aufhebt." (375)

Die harmonisierende Vorstellung, daß alle Volksglieder an einem Strang ziehen, um die Nation auf ein möglichst hohes Niveau zu bringen, endet, verbunden mit der willensstarken "Persönlichkeit", in einer Formulierung, die uns in Kenntnis der weiteren Geschichte kalte Schauer über den Rücken jagt. Vermutlich ist die Verbindung mit der Ablehnung rivalisierender Weltanschauungen nicht zufällig.

Vom Volk als Ganzheit ist der Weg nicht weit zum Thema Volksgemeinschaft, und der erste Weltkrieg hat hier eine Indikatorfunktion.


Der Krieg und Max Scheler[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Fritz Ringers Buch über den "Niedergang der deutschen Mandarine" (1983) können wir entnehmen, daß es auch vor dem Krieg viele "Gelehrte" gab, die die "lockere Gesellschaftsstruktur des modernen politischen Lebens durch stärker gemeinschaftsbezogene Formen" ersetzen wollten (164). Im August 1914 begann der Erste Weltkrieg. Ringer beschreibt die Reaktionen:

"... die Intellektuellen des Mandarinentums freuten sich über die offenkundige Renaissance des 'Idealismus' in Deutschland. Sie feierten den Tod der Politik, den Triumph letzter, unpolitischer Ziele über kurzfristige Interessen und die Wiederbelebung jener moralischen und irrationalen Ursprünge des gesellschaftlichen Zusammenhalts, die durch die 'materialistische' Kalkulation der wilhelminischen Moderne bedroht gewesen war." (Ringer 1983, 169)

Eine Flut von Publikationen und Reden überschwemmte das Land, und die Begeisterung, die weite Bevölkerungskreise erfasst haben muß, ist heute unvorstellbar.

Diesbezüglich aufschlussreich und exemplarisch ist das Buch "Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg" von Max Scheler (1915). Da es auch auf Herrigel einen starken Einfluss ausgeübt hat, sollen einige Gedanken im folgenden wiedergegeben werden.

"Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg" ist eine Kriegsschrift, gewidmet den "Freunden im Felde" und unter das Motto: der Krieg "der Beweger des Menschengeschlechts" (Schiller) gestellt. Zwischen August und November 1914 vollendet, ist dieses Buch eine pathetische Verehrung des "echten" Krieges, dem Scheler eine kathartische Wirkung zuspricht: Deutschland soll von dem englischen Geist, der sich überall verbreitet hat, befreit und zu einer neuen, blut- und lebensvollen Kultur geführt werden. Die ganze Schrift ist durchzogen von einer Kritik, durchaus auch Verspottung des Englischen, der englischen Philosophie und der englischen Lebensweise.[14] Doch zurück zum Krieg: Schelers Überhöhung der Rolle der "Kultur", die für ihn einzig aus der schöpferischen Quelle nationalen Geistes entsteht, führt zu der Notwendigkeit des Machtstaates. Allein um die Hervorbringung freier Werke des Geistes zu ermöglichen, sind Machtstaat und Krieg schon gerechtfertigt (vgl. S. 63). Das Ziel ist die "maximale Geistesherrschaft" (10). Der echte und gerechte Krieg ist für Scheler ein Kampf um Macht, ein rein politischer Krieg zur Erringung politischer Freiheit. Der Krieg stelle das wahre Verhältnis von Leben und Tod wieder her (122) und sei "Scheidekünstler" des Falschen und Wahren (137f).

"Das Bild des ganzen ... Menschen ... die Füße tief im Moraste seiner Tierheit, beladen mit den Geschwüren der Erbsünde und seiner Schuld, und das Haupt im Lichte der Sonne, ... steht jetzt plastisch vor uns." (136)

Das Verständnis des Wesens des Krieges liegt für Scheler zwischen einer naturalistischen Auffassung (d. i. "Englisch") und der deutschen, idealistischen Philosophie, die Staat und Krieg allein aus dem vernünftigen Geist entstanden verstehen will (vgl. 54).

Die "metaphysische Erkenntnisbedeutung des Krieges" (121) führt von der "Erkenntnis der Realität der Nation als geistige Gesamtperson" über "das Dahinschmelzen der kleinen Egoitäten in den Strom der Kriegsbegeisterung" zu der Idee des einen "Gottesreiches" (119).

Viele dieser Gedanken waren unter den "Gelehrten" der Zeit verbreitet. Ein "neuer Geist ... der stärksten Zusammenfassung ... aller Kräfte zu einem Ganzen" war geboren: "Der neue deutsche Staat! Die Ideen von 1914!" (Plenge zit. n. Ringer, 170) Eine weitere Parole war: "Der Geist von 1914". Diese Wendung wird uns noch begegnen.

In dieser Situation verfasst Hermann Herrigel (1916c) im Alter von 24 Jahren die "Tat-Flugschrift" mit dem Titel: "Volksbildung und Volksbibliothek".


Hermann Herrigels Kritik an der Volksbildung in den Jahren 1916 und 1917.[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Hermann Herrigel beschreibt in seinem "Rückblick", daß er während der Zeit als Bibliothekar zur Ruhe gekommen sei und geheiratet habe. In Dresden verstand er sich gut mit Hofmann "und seinen Leuten", schreibt Herrigel, "aber der Sinn dieser Arbeit wurde mir auch fraglich und ich schrieb die Tatflugschrift."

Vorab erscheint sein Aufsatz "Die Problematik der Volksbibliothek" (1916b) im "Zentralblatt für Volksbildungswesen", der teilweise ein Auszug aus der Tat-Flugschrift ist; deshalb können wir ihn in deren Besprechung einflechten.

Aus dieser Zeit existiert noch eine weitere Arbeit von Herrigel mit dem Titel "Über die Freihandbibliothek" (1916a). Veröffentlicht wurde sie in der Zeitschrift "Blätter für Volksbibliotheken und Lesehallen". Dieser Artikel ist eine Reaktion auf die Darstellung von Vor- und Nachteilen der "Freihand" von Bennata Otten.[15] Die intensive Beratung des Lesers, fand nach Hofmanns Vorstellung, in einer Bücherei statt, in der sich der Leser nur mit Katalogen über den Buchbestand informieren konnte. In der "Freihand" waren die Bücher für den Benutzer frei zugänglich. Diese Bibliotheken gab es in Amerika und England. 1910 wurde eine Freihandbibliothek in Hamburg eröffnet - sie war bis 1916 die einzige in Deutschland. Da hier die Ausleihe "am Bibliothekar vorbei" stattfinden konnte, war man um Mißbrauch und Diebstahl besorgt. B. Otten stellte sich die Frage, ob "das Volk reif genug" ist, die "Freihand" zu benutzen. In diesem Punkt war sie zuversichtlich, und sie glaubte, daß der Leser zum richtigen Umgang mit der Freihand und verantwortlichen Gebrauch der Bücher erzogen werden kann - man müsse ihm nur Vertrauen. "Freihand in der öffentlichen Volksbibliothek ist ein wesentlicher Teil der Volkserziehung. ... Die Bibliothek erstrebt die Hebung der Bildung und der Moral durch das Lesen, nicht das wahllose Viellesen" (Otten 1915, S. 72).

Die Bibliothekare der Neuen Richtung sahen in dem alten Motto "Die Bibliothek darf auf keinen Leser verzichten" (Ladewig) die große Gefahr, dieses "wahllose Viellesen" zu unterstützen - die Freihandbibliothek würde diese Tendenz nur noch verstärken, so die Befürchtungen. Herrigel stellt in seiner Kritik an B. Otten etwas anderes in den Vordergrund: In der Befürwortung der "Freihand"

"kommt ein Prinzip, eine Weltanschauung zum Ausdruck, die mich immer wieder erschreckt. [...] Es ist kein Zufall, daß das Freihandsystem gerade in Amerika und England, den klassischen Ländern des Liberalismus, zu Hause ist. Woran denken wir, wenn wir von Volksbildung reden? Ich denke an die große Zeit des Deutschen Bürgertums in den letzten Jahrhunderten vor der Reformation, in der ein Geist noch das ganze Leben des einzelnen bestimmte. [...] Demgegenüber ist nirgends die individualistische Zersplitterung weiter fortgeschritten als gerade in Amerika und England. [...] An Stelle der Orientierung am Ganzen umgibt sich der liberale Mensch, da er grundsätzlich die gleichen Rechte beansprucht wie sein Nebenmensch, mit einem Bezirk von Rechten, die ihn gegen alle Eingriffe von außen her sicherstellen sollen. Daher z. B. der instinktive Haß gegen den Militarismus." (Herrigel 1916a, S. 19)

Herrigel setzt sich weiter mit der Weltanschauung des Liberalismus auseinander, die das Wort Freiheit nicht "im Sinne des deutsche Idealismus als positive Freiheit der Persönlichkeit" verstehe, sondern nur "negativ als Ungebundenheit". "Aber die Persönlichkeit wird im Liberalismus überhaupt ganz ausgeschaltet, das verlangt schon die Konsequenz der Voraussetzung der Gleichheit." (19)

Im liberale Freihandsystem werde Bildung zur Aufklärung, so Herrigel. Das ist für ihn der "schwerste und entscheidende Einwand". Auch in der Frage, ob das "Volk reif genug" sei, ist er skeptisch. "Bildung ist nicht möglich ohne Forderung, ohne Verpflichtung, sie ist Geistiges und damit Überpersönliches." (20) Herrigel beklagt die fehlenden Einflussmöglichkeiten des Bibliothekars in der "Freihand" und verweist abschließend noch auf die Bedeutung des Krieges:

"Hat sie [B. Otten; WB.] denn nie gehört, daß alle Völker gegen uns zu Felde ziehen, um die Zivilisation zu retten? Zivilisation ist Aufklärung, der wahre Geist des Liberalismus mit seinen Idealen von 1789. Jawohl, wir bekämpfen den Geist der Zivilisation, der Aufklärung, des Liberalismus!" (20)

Diese drei Schriften sind bisher von der Geschichtsschreibung der Erwachsenenbildung nicht zur Kenntnis genommen worden. Laak (1984) erwähnt, daß Herrigel "schon frühzeitig, 1916 und 1919 auf die Gefahren des Ansatzes der Volksbildung und ihrer Wirkungen [...] hingewiesen" hat. Die Arbeiten von 1916 werden jedoch nicht aufgeführt - weder im Text noch im Literaturverzeichnis. Hingewiesen wird nur auf die frühe Kritik an der Arbeit von Walter Hofmann in der "Frankfurter Zeitung" (1917; s. u.). Jürgen Henningsen erwähnt die Arbeiten nicht. Seine Untersuchung über Herrigels Bedeutung (1959) beginnt ausdrücklich erst 1919. "1919: das Problem wird gestellt" lautet die Überschrift des entsprechenden Kapitels. Albert Wunsch (1986) führt die "Tat-Flugschrift" im Literaturverzeichnis auf, bespricht sie im Text jedoch nicht.
Die kleineren Aufsätze werden nicht einmal in der Bibliographie von Schulz (1969) aufgeführt. Dem Aufsatz im "Zentralblatt" können wir entnehmen, daß die Flugschrift ursprünglich "Gegen den liberalen Volksbildungsgedanken" heißen sollte (136).


"Volksbildung und Volksbibliothek"[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Schon der Untertitel von Herrigels "Tat-Flugschrift"[16] ist kämpferisch: "Eine Abrechnung", so heißt es auf dem Deckblatt, und im ersten Satz wird der Ton noch schärfer: "Auch diese Schrift ist eine Kriegsschrift, ja eine Kriegserklärung."

"Dieser Krieg ist nicht zuerst ein Kampf der Waffen, sondern über allem ein Krieg des Geistes, der Krieg um das Metaphysische! Er gilt unserer größten Gefahr, der englischen, im eigenen Land" (S. 1).

Das englische "rechnerische Denken", dieses "unmetaphysischen Volkes" habe den Deutschen den Liberalismus beschert, und die "befreiende Unendlichkeit jenseits" wurde nicht mehr gesehen. "Die Wissenschaftlichkeit ... (nahm) uns das Geistige, Metaphysische" (1). Nach diesen ersten Sätzen geht es in dieser Diktion weiter bis zur Überleitung zum Thema Volksbildung:

"Da kam das Unberechenbare, das Metaphysische selbst, der Krieg, der uns trotz Blut und Tod erlöst hat. Nun dürfen wir umdenken, nun ist der Zwang des wissenschaftlichen Systems von uns genommen. Nun setzen wir überall das Metaphysische wieder in sein Recht. Diese Schrift unternimmt es, dem Volksbildungsgedanken der öffentlichen Bibliotheken wieder diesen Horizont des Unendlichen zu geben. Sie erhebt Widerspruch gegen die Grundlagen der modernen Volksbildungsbewegung: gegen die Verwendung von Worten, die Geistiges bezeichnen für Dinge, die damit nichts zu tun haben; ihre Aufgabe soll es sein, Bedenken zu wecken gegen die Volksbildungsideale, ja auf die Gefahr aufmerksam zu machen, die mit den ungeistigen liberalen Voraussetzungen der Volksbildungtätigkeit verknüpft ist. Entweder handelt es sich dabei um Aufklärung und Unterhaltung, dann soll man nicht von Bildung reden; oder es handelt sich um Bildung, dann soll man ihren grundsätzlichen Gegensatz zur bloßen Aufklärung unbedingt ernst nehmen." (1f)

Es geht Herrigel um "Grundsätzliches [...], und zu allermeist soll hier das [...] Bewußtsein für grundsätzliche Gegensätze geschärft werden." Es handelt sich um "die Lebensfrage: Gibt es Volksbildung?" (2)

Nach diesen einleitenden Sätzen wendet sich Herrigel gegen die modernen Volksbildungbestrebungen, ihre Vorausetzungen, ihre Ziele und ihre Weltanschauung. Zunächst stellt er sich die Frage, was "Volk" bedeutet:

"Das Wort Volk in der Verbindung Volksbildung, Volksbibliothek hat keinen positiven Sinn, sondern soll nur jede Einschränkung ausschließen ... Es soll heißen, daß sie sich an jeden richtet, der Lust hat zu kommen, an die Masse" (2).

Entgegen der Voraussetzung der Volksbildungsbewegung, daß im Volke "starke, wahrhafte Bildungsinteressen vorhanden sind" und, daß "das Volk geistig werden könnte" (3) betont Herrigel den "grundsätzliche(n) Gegensatz zwischen Volk und dem einzelnen, wahrhaft Bildungsfähigen" (4).

Unter Betonung der "grundsätzlichen, ursprünglichen Ungleichheit der Menschen", verweist er auf den Gegensatz, der für ihn das "eigentlich Menschenwesentliche" ist, nämlich das "Subjekt oder Objekt sein", das "Hammer oder Amboß sein". Es geht um

"die geistige Macht, die den einen Menschen befähigt, beherrschend über seiner Umgebung und seinen Verhältnissen zu stehen, während der andere unter ihnen steht und von ihnen beherrscht wird." (5)

Dabei handele es sich um die geistige Aktivität selber, die jeder Tatsache zugrunde liegt, um die "Tathandlung" Fichtes (5). Daß dieser "unüberbrückbare Gegensatz" verwischt wird, schreibt Herrigel der Weltanschauung des Liberalismus (jeder Mensch ist gleich) zu, der Weltanschauung, die den Menschen zum wissenschaftlichen Objekt macht, dem englischen Denken. Das sei "unmetaphysisches Denken", das die Gegensätze, die im Geistigen lägen und damit das Geistige selbst (das "Unberechenbare und Unerklärbare, das immer Jenseitige") auslösche. "Gleich sind die Menschen nur vor dem Unendlichen, vor Gott" (7). Die "persönliche, über die Gleichheit und den Durchschnitt hervorragende Anlage ist [...] die grundlegende Möglichkeit aller Bildung" (8).

Das liberale Volksbildungwesen und seine Ideale sind von diesem "positivistischen und relativistischen Denken des Liberalismus" abhängig. Daher vermag es nicht zu einem "positiven Bildungsideal" zu kommen (8). Dies versucht Herrigel nun am Beispiel Robert von Erdbergs Aufsatz über die "Grundbegriffe der Volksbildung" (1911) zu belegen. Erdberg glaube zwar an Werte, aber in der "typischen Ängstlichkeit des Positivisten" würden diese sogleich wieder relativiert, und er gelange so zu keinem "absoluten, d. h. vom Menschlich-Bedingten losgelösten Wertmaßstab für die Kultur und Bildung" (8f).

Den Aussagen v. Erdbergs, daß Kultur der Ausdruck der schöpferischen Kräfte der Menschen sei, und eine Grenze zwischen Kultur und Unkultur sich nicht ziehen lasse, widerspricht Herrigel. Er verweist auf den "qualitativen Gehalt" einer Erscheinung, der der "apriorische Grund" eines Urteils sei.

"Dieses Apriori ist der Wertmaßstab der Kultur. Wo er nicht vorhanden ist ... wird nicht von Kultur die Rede sein, sondern von Zivilisation." (10)

Bildung, so hatte Erdberg gesagt, "ist das Intensitätsverhältnis zur Kultur". Herrigel kontert: "Es ist nicht zu erwarten, daß von verkehrten Anfängen aus ein richtiger Begriff von Bildung gewonnen wird" (10).

Herrigels Auseinandersetzung kann zunächst in zwei Ergebnissen zusammengefasst werden: Es muß für ihn einen "objektiven Wertmaßstab" für die Unterscheidung von Kulturerscheinungen höherer und niederer Art geben und damit ist auch der Maßstab für "Bildung im eigentlichen Sinne" gegeben (13). Und zweitens: "Bildung und Unbildung ... sind grundsätzlich voneinander getrennt" (13), von Unbildung ausgehend gibt es keinen Übergang zur Bildung. Herrigels Urteil über das v. Erdbergsche Kultur- und Bildungsideal fällt drastisch aus:

"[Sein] Kulturideal fällt zusammen mit dem sozialen Ideal. Die Frage nach den objektiven Zwecken bleibt unbeantwortet. Die angegebene Antwort wäre eine Antwort auf die Frage nach dem Ideal einer individualistischen Gesellschaft. Das ist aber das Ideal des Liberalismus." (14)

v. Erdbergs Definition des Bildungsideals schließt nach Herrigel "sowohl den liberalen Positivismus als auch den Relativismus ein, und es ist nun die Aufgabe, deren Einfluß klarer zu bestimmen." (14)

Bildung ist für Herrigel "das Vorhandensein der Kräfte, der Bedingungen im Menschen, ... aus denen die Kultur entsteht." (14) "Intensität" spricht Herrigel überhaupt nur dem Verhältnis einer "Persönlichkeit" zum "Unendlichen" zu (vgl. 15).

Eine "Persönlichkeit, die mehr ist als der individuelle Bezirk des Allgemeinmenschlichen, auch mehr als eine zu einer Einheit geordnete Summe von Eindrücken. Sie ist geistiges, d. h. objektive Werte erkennendes Subjekt, sei es, daß sie den Maßstab von Natur in sich trägt, sei es, daß sie sich den Sinn für die absolute Form durch formale Überwindung des Gegenständlichen und individuell Beschränkten ausgebildet hat. Nur im Hinblick auf ein solches Subjekt kann man im eigentlichen Sinne von Bildung reden. Der positivistische Liberalismus leugnet aber dieses Subjekt. Das metaphysische Ich ist ihm 'unrettbar'" (15).

Eine Fülle von Gedanken zum "liberalistischen" v. Erdberg folgen. Es wird kritisiert, daß das "liberale" Verständnis von Gesellschaft ein "künstliches" und kein "natürliches Gleichgewicht" von Kraft und Recht enthält. Herrigel moniert: "Bildung wird ihres wahren Sinnes beraubt und in die Norm des Allgemeinmenschlichen herabgezogen" (16). Er spricht v. Erdberg eine "Bildungsidee" ab, kritisiert den "sozialen Utilitarismus" und nicht zuletzt die "liberale Auffassung von Freiheit" (17). Letzterer wird die Vorstellung von der "Freiheit der Persönlichkeit" des deutschen Idealismus entgegengehalten. Schließlich formuliert Herrigel ironisch:

"... ein Nebeneinander von Individuen unter Aufhebung alles Überpersönlichen und Verbindenden, eine vollständige Mechanisierung und Atomisierung des Lebens und Ausschaltung alles Geistigen - das soll also das Kulturideal sein!" (17)

Zur Stützung seiner Position bemüht Herrigel ein Zitat von Georg Stammler:

"Man sieht endlich, daß die vielgepriesene Individualisierung ohne Angelpunkt im Geistigen gerade das Gegenteil von dem erreicht, was sie zu erreichen verspricht: daß sie nämlich nur Herde gibt und keine Persönlichkeiten".[17]

Der Höhepunkt von Herrigels Kritik an v. Erdberg ist die folgende Formulierung seiner Sichtweise:

"Bildung des Einzelnen ist nur möglich auf dem Grunde eines Überindividuellen, eines Wertebewußtseins. Ohne dieses ist nur eine Anhäufung von Erlebnissen und Eindrücken möglich, der die innere Einheit fehlt. ... Nur im Sinn für das Wesentliche, für das metaphysische, für ein Unendliches, das zum Endlichen in einem absoluten Gegensatz steht [...] ist die Möglichkeit eines inneren notwendigen Zusammenhangs gegeben" (18).

An dieser Stelle leitet Herrigel über zur "Abrechnung" mit der Volksbibliothek. Er unterscheidet zunächst nicht zwischen Bibliotheken alter oder Neuer Richtung.

"Da die liberale Volksbibliothek das Wertbewußtsein untergraben hat, hat sie, so wie sie ist, keinen Anspruch auf den Namen einer Bildungsbibliothek." (18)

Herrigel bemängelt weiter, daß der Bibliothekar (also er selbst) in dieser Bibliothek seine Persönlichkeit ganz zurückstellen soll.

"Die unmittelbare Folge des individualistischen Bildungsideals für die Bibliothek ist nun die, daß das letzte Maß der Dinge für die Bibliothek der einzelne Leser mit seinen Wünschen und Ansprüchen wird. Die liberale Individualität, dieses Schema des Menschen mit seinen sogenannten Naturrechten, ist das Subjekt, dem die Bibliothek gegenübersteht. [...] die Bibliothek [wird] ganz an das Individuelle gebunden und von ihren Lesern abhängig. Es wird ihr erster Grundsatz, daß der Bibliothekar als Persönlichkeit, daß überhaupt alles überindividuell Verpflichtende zurücktritt. [...] Die Bibliothek darf an den Leser keine Ansprüche stellen [...]. Auch darf sie die Motive des Lesens nicht einem kritischen Werturteil unterziehen [...]. Toleranz und Neutralität sind in allem ihre obersten Grundsätze. Das ist auch der Grund mit, warum gerade die Frau nach amerikanischem Muster für besonders geeignet für den Bibliotheksdienst erfunden werden konnte. Der Liberalismus war seinem Wesen nach immer feministisch."(19)

Diese Aussage ist erstaunlich wenn wir berücksichtigen, daß Herrigel in einer Bibliothek der Neuen Richtung arbeitet. Was Herrigel vorschwebt, ist offensichtlich eine beratende Einflussnahme auf den Ausleihbetrieb, das deckt sich aber mit unserem Bild der Funktion des Bibliothekars, der "jedem Mann das richtige Buch" vermitteln sollte. Deutlicher wird Herrigels Meinung, wenn er den Unterschied zwischen den beiden Richtungen beschreibt. Zur Klärung wird der dritte Aufsatz hinzugezogen. Schon mit dem Aufsatz über "Die Problematik der Volksbibliothek" (1916b) schaltet sich Herrigel in die Auseinandersetzung zwischen alter und Neuer Richtung ein. In den Vorbemerkungen bemängelt er, daß theoretische Untersuchungen zu Volksbildungsfragen "fast ganz" fehlen (129).[18] Seine Absicht ist es die vorhandenen Gegensätze theoretisch zu verschärfen und damit zu zeigen, daß es sich um "Weltanschauungsgegensätze" (130) handelt. Das Hauptproblem liegt für Herrigel in der Frage: "Soll die Bibliothek zuerst ... dem Volke dienen oder der Kultur?" (131).

Hier stoßen wir auf den Sachverhalt, daß Herrigel in seinen beiden Schriften über die Volksbibliothek den Unterschied zwischen alter und Neuer Richtung, nicht primär in den Begriffen "individualisierend/intensiv" und "verbreitend/extensiv" sieht, sondern in dem Unterschied: Kultur für alle (alte Richtung) vs Kultur für wenige (Neue Richtung). Die Orientierung ist dort auf "das Volk" gerichtet, hier ist die Kultur der Maßstab, und die wenigen, die noch ein "Wertebewußtsein" haben, sind die Zielgruppe.[19] Das ist, zumindest was die Bibliotheken betrifft, auch nicht falsch beschrieben, denn Walter Hofmann berichtet schon 1910 über die Einführung des "bedingten Lesegeldes", das die "Schmarotzer", die "in maßloser Weise" die Bibliothek als "reines Unterhaltungsinstitut" benutzen, fernhalten sollte.[20] 1917 schätzt Hofmann den Kreis der "Empfänglichen" und "Bibliothekreifen" auf 6% der Einwohnerschaft einer Stadt.[21] Die Bibliothekare um Sulz hatten den Wahlspruch: "Die Volksbücherei kann auf keinen Leser verzichten" (Ladewig; vgl. Herrigel, 131). Herrigel bezieht Position: "gegenüber Sulz behält Hofmann immer unbedingt Recht." (141) Die "Neue Richtung" wollte sich dem "qualifizierten Leser"[22] widmen (vgl. Herrigel 1916c, 26). Das ging Herrigel noch nicht weit genug, denn er sah eine gewaltige Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit:

"Auch die Hofmannschen Bibliotheken lassen es zu, daß sie zu 70 - 75 % zu Unterhaltungszwecken mißbraucht werden. Auch sie sind nicht imstande, die Idee der Bildung rein zu erhalten" (27).

Herrigel folgert:

"Das kann aber die Bibliothek nur, wenn sie an die Leserschaft ebenso strenge und unbedingte Ansprüche stellt, wie sie das Wort Kultur genommen haben will."

Unterhaltungsliteratur solle es in der Bibliothek nicht geben "oder mindestens durch eine Bandgebühr so hoch besteuert (sein), daß ein Mißbrauch ausgeschlossen wird" (28). "(Die) Durchschnittsnorm der Masse (darf) in geistigen Dingen keine Stimme haben. Das ist die Voraussetzung ernst genommener Bildungsarbeit in der Bibliothek." (28)

Nach dieser Auseinandersetzung kommt Herrigel zu seinem Schlußkapitel. Er warnt vor der Bibliothek als "Verbildungsinstitut gefährlichster Art", und wenn es noch nicht genug Anlässe gab, mit Hofmann zu streiten, so werden sie in den nächsten Absätzen geliefert:

"Kultur entsteht nur aus dem Bewußtsein eines Metaphysischen heraus, wie es der bildungsfremde Bauer meistens noch besitzt, das aber mit durch die Schuld der Bibliotheken der großstädtische Arbeiter fast durchweg verloren hat."
"Wie konnten tausende den Krieg, den großen Lehrer des Metaphysischen, als Erlösung empfinden, wenn er nicht den tief in ihnen ruhenden Glauben, der der 'Bildung' schon zu erliegen drohte, wieder erlöste? Einem Volk, in dem das metaphysische Bewußtsein durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch so stark geblieben ist, konnte auch ein bischen Volksbildungsbewegung im Grunde noch nichts anhaben. Es wird stets einer wahren Volkskultur fähig bleiben." (28f)

Unter Volkskultur sei nicht das zu verstehen, "daß sich alle Einzelglieder eines Volkes zu vollen geistigen Persönlichkeiten entwickeln" (29). Das Wesen der Volksbildung ist für Herrigel, daß "ein Geistiges beherrschend über allen steht", und es wird immer nur "einzelnen Wenigen" möglich sein, an diesem Geistigen, in "seiner höchsten Weise" Anteil zu haben (30).

Nochmals deutlich gegen v. Erdberg gewandt, betont Herrigel:

"Persönlichkeitsbildung und Volksbildung sind in ihrem Wesen verschieden. [...] Wenn von Volksbildung die Rede ist, darf es sich um den Einzelnen nur soweit handeln, als er Glied des Volkes ist, nicht aber sofern er Einzelner ist." (30)

Abschließend formuliert Herrigel: "Volksbildung ist ... die Einheit, die durch 'Herrschaft und Dienst' den Gegensatz überspannt. Die Volksbildungsaufgabe der Bibliotheken ist es, [...] den Leser über sich hinauszuweisen auf das überindividuelle Geistige [...]; nicht ihm Bildung als Geschenk zu bringen, sondern als eine Forderung [...]; ihm die Grenzen seines Intellekts einzureißen, ihn zur Ehrfurcht (zu) erziehen." (31)


Zwischenbemerkung zum A. d. d. V.

Am 20. und 21. 5. 1916 kam es zur Gründung des "Ausschuss der deutschen Volksbildungsvereinigungen" in Weimar. Die Teilnehmerliste liest sich wie ein "who is who" der deutschen Volksbildungsvereine (R. v. Erdberg, W. Hofmann, Marr, Tews u. v. a.).[23] v. Erdberg hält einen Vortrag, in dem er auf die "verschiedene Weltanschauungen" der Richtungen hinweist, die nicht nur negativ zu sehen seien, sondern auch Entwicklung ermöglichen würden. Es müsse aber auch ein "Verbindendes" gesucht werden, und dies sei in der gemeinsamen Aufgabe zu sehen, "an der Kultur des Volkes" zu arbeiten und damit letztlich zu einer "sozialen Besserung" beizutragen (173). Die Volksbildungsbewegung sei "eine geistige Macht", die die Kultur als "lebendige Kraft" erhalten müsse. Dazu brauche die Bewegung eine einheitliche Vertretung nach außen. Darin findet v. Erdberg die Zustimmung der Anwesenden, und der Verband wird als "neutrale" (gegenüber den einzelnen Vereinigungen) Organisation gegründet (vgl. 175). Als Geschäftsführer des Ausschusses (als "neutrale Instanz") wird Robert v. Erdberg bestimmt.

Das "Volksbildungsarchiv" erscheint im Januar 1917 (Bd. 5) zum ersten mal als Organ des "Ausschusses" und stellt eine Vereinigung von Volksbildungsarchiv und dem "Zentralblatt für Volksbildungswesen" dar. In einer Mitteilung der Herausgeber (v. Erdberg und A. Lampa) heißt es, daß die Zeitschrift objektiv gegenüber allen Richtungen berichten soll, und einen "Überblick über die Bewegung in ihrem ganzen Umfang geben" will (2). In dieser Ausgabe befindet sich auch eine kurze Buchbesprechung, in der v. Erdberg auf die "Abrechnung" Herrigels eingeht.

Reaktionen von R. v. Erdberg und E. Sulz[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Zunächst sollen die Unterschiede zwischen Herrigel und v. Erdberg verdeutlicht werden. Der zentrale und entscheidende Punkt, auch in v. Erdbergs Besprechung, ist die Frage nach den Idealen, nach den Wertmaßstäben.Herrigel hatte die Anerkennung eines absoluten, vom "Menschlich-Bedingten losgelösten" Wertmaßstab gefordert; objektive Werte, die aus dem Bereich des Unendlichen, Metaphysischen stammen. Mit deren Anerkennung soll eine einheitliche und einigende Kultur gegeben sein. Ein "Geistiges soll beherrschend über allen" stehen und nur Wenige können daran Anteil haben (vgl. o., S. 33). v. Erdberg stellt ein Gesellschaftsmodell in den Mittelpunkt, ein Ideal, in dem Persönlichkeitsbildung und Gemeinschaftsorientierung ineinanderfließen. Subjekt und Objekt stehen in einem Verhältnis der Gegenseitigkeit. Das Individuum soll das Gesellschaftsideal erkennen und in freiem Willen danach handeln.

Darin scheinen sich zwei unvereinbare Positionen gegenüberzustehen. v. Erdberg bemüht sich aber weiterhin seinen Standpunkt zu erläutern. Zuvor wendet er sich dagegen, als ein typischer Vertreter der Volksbildungsbewegung dargestellt zu werden. Darüber hinaus bescheinigt er Herrigel "heillose Verwirrung" (33). "Herrigel weiß offenbar nicht, was ein formaler Gedanke ist, denn er schreibt, ich hätte mein 'Bildungsideal nicht mit einer Idee verheftet', sondern 'ihm auch inhaltlich einen endlichen Grund gegeben', 'nämlich die menschliche Gesellschaft'. Ich habe ausdrücklich betont, daß dieses Ideal das Ideal einer Gemeinschaft sei" (34)

Herrigel stellt sich aber ein anderes Gemeinschaftsideal vor, und von diesen Ausgangspositionen ist eine Einigung über "Intensitätsverhältnisse" und Bildung schwierig, obwohl v. Erberg seine Übereinstimmung mit Herrigels Satz: "Bildung bewährt sich im Werterlebnis, sie ist die Fähigkeit zum Werterlebnis" betont (36).

v. Erdberg gibt noch zu verstehen, daß er selbst nicht mehr mit allem übereinstimmen würde, was er in dem Artikel über die "Grundbegriffe" geschrieben hätte; insbesondere gelte dies für "Kultur und Unkultur als nur im Grade voneinander unterschieden. Herrigel kämpft also hier gegen Windmühlen" (35). Er beendet seine Besprechung mit den Worten: "Aber es soll der Humor nicht fehlen. So will ich denn Herrigel zum Schluß bekennen, daß ich seinen Anschauungen viel näher stehe, als denen mancher Richtungen in der modernen Volksbildungsbewegung. Es stehen in seiner Broschüre manche Sätze, die auch im Volksbildungsarchiv stehen könnten. Des zum Beweise setze ich einen hierher: 'Entweder handelt es sich dabei (bei der Volksbildungstätigkeit) um Aufklärung und Unterhaltung, dann soll man nicht von Bildung reden ...'" (36; s. o., S. 27).

Dieses versöhnliche Wort am Schluss ist doch erstaunlich - wenn es mehr als eine Floskel war. Wendet sich Erdberg hier entschieden gegen eine Position, die die "Machbarkeit" von Bildung in den Vordergrund stellt und durch Kulturverbreitung wirken will und sympatisiert dafür mit einem Bildungsbegriff, der in einen "grundsätzlichen Gegensatz" zur Aufklärung gestellt wird - Aufklärung aber in die Nähe von "Unterhaltung" stellt?

Sicher ist, daß v. Erdberg sich auf einem Weg befindet, der ihn immer weiter von einer "neutrale Position" wegführt. Henningsen berichtet, daß v. Erdberg seine Volksbildungsarbeit bei Tews begonnen hat. Die Ausführungen über die "Grundbegriffe" (1911) zeigten eine Nähe zur Alten Richtung in der Forderung "Bildung für alle" - zur Neuen Richtung in der Forderung "Individualisierung der Bildungsarbeit". Viele Gedanken die 1911 geäußert wurden finden wir in den bekannteren Schriften v. Erdbergs aus den Jahren 1920 und 1921 wieder - der gravierende Unterschied besteht aber darin, daß (1920, S. 36) die "Volkshochschule für wenige ... berufene" vorbehalten bleibt. In der Besprechung einer Arbeit von Else Hildebrandt zu "Arbeiterbildungsfragen", wird v. Erdberg im Volksbildungsarchiv (1917, S. 200) der Autorin vorwerfen, sie hätte mit ihrem (Bildungs-)Ziel der Volkseinheit "kein Bildungsideal, sondern ... ein soziales Ideal angesprochen".

v. Erdberg wird sich, an den noch folgenden Auseinandersetzungen mit Herrigel öffentlich nicht mehr beteiligen; das gleiche gilt übrigens für Walter Hofmann, der sich zu den Vorwürfen Herrigels nie geäußert hat.

Von Eugen Sulz (1917), dem Gegner Hofmanns, stammt die zweite Reaktion auf Herrigels Tatflugschrift. Ein Kernpunkt seiner Kritik ist gegen Herrigels Vorstellung vom Liberalismus gerichtet: "Herrigel vermengt die Ideen des Liberalismus und des Demokratismus, wobei er allerdings unter den Kritikern unserer Zeit nicht allein steht. ... es wäre nicht allzu schwierig, darzulegen, wie gerade Herrigel mit seiner schroffen Trennung von geistigen und ungeistigen Menschen, die nicht von ungefähr an die Gnadenwahl des Puritanertums erinnert, der Ideenwelt jener alten englisch-schottischen Philosophenschule, der Pflanzschule des Liberalismus, sehr nahe steht; was er bekämpft, sind vielmehr die dem romantischen Geiste der Aufklärungszeit entsprungenen demokratischen Anschauungen. ... Unter dieser begrifflichen Vermengung, die sich z. B. wieder bei seiner Auffassung vom 'Naturrecht' zeigt, leidet bedauerlicherweise ganz besonders Herrigels Auseinandersetzung mit Erdbergs Aufsatz ..., der ja wohl einst für die 'neue Richtung' programmatische Bedeutung haben sollte." (93)

Der Bibliothekar "soll sich vor der Anmaßung hüten, eine geistige Zensurbehörde zu sein" (94). Sulz wendet sich gegen Herrigels Ablehnung der Unterhaltungsliteratur und betont die "seelische Sphäre". "Sein Begriff 'Bildung' als geistiger Wert ist rein rationalistisch, Gefühlswerte ... fallen bei ihm mit vitalen Werten und beide wieder mit hedonistischen Werten (Sensation) zusammen, und alle miteinander sind: Unwert." (95)

Dem Text von Sulz ist zu entnehmen, daß auch die Bibliothekare der Alten Richtung eine individuelle Beratungsarbeit leisten wollten - nur zurückhaltender und ohne den Leser "mit fachmännischem Blick auf Bildungsfähigkeit" zu untersuchen (96).

Damit wird immer deutlicher, daß der Hauptunterschied zwischen den Richtungen in der Größe des Adressatenkreises liegt. Zwischen den Kritikern v. Erdberg und Sulz besteht eine Gemeinsamkeit. Sie fragen: "Wem gilt nun diese Erklärung, der 'alten' oder der 'neuen' Richtung?" (Sulz, S. 92) Und sie finden beide keine Antwort: "Wir müssen es also Herrigel überlassen, die vermeintlich ausgeteilten Hiebe an die richtige Adresse zu verteilen, ehe wir uns wieder mit ihm befassen können." (v. Erdberg, S. 36) In ihrem Richtungsstreit übersehen sie, daß Herrigel seine Frage "Gibt es Volksbildung?" mit Blick auf die bestehenden Bemühungen verneint. Dabei steht er der "Neuen Richtung" näher - wenn sie sich auf eine Elite konzentriert.

Bevor wir zu den ersten Berichten Herrigels in der "Frankfurter Zeitung" übergehen, sollen noch einige zusammenfassende Bemerkungen gemacht werden.

Festgehalten werden muß, daß Herrigel die Volksbildner nicht kritisiert, weil sie bevormundend oder gönnerhaft "ihre" Kultur dem "ungebildeten" Volke einflößen wollen, sondern er will die Vergeblichkeit ihrer Bemühungen zeigen: Aus einem "Ungebildeten" kann (und soll) man keinen "Gebildeten" machen. Der Gebildete in Herrigels Sinne ist darüber hinaus noch der "Beherrschende". Herrigel will zeigen, daß die Volksbildung mit ihren Mitteln einer "Zersplitterung" des Volkes nicht entgegenwirken kann: Die Verbreitung von Kultur ist vergeblich und schädlich. Eine individualisierende Volksbildung führt zu mehr Individualisierung. Es sei denn, es würde gelingen, den Menschen wieder zur "Erfurcht" zu erziehen. Das ist der Kern der Aussagen Herrigels. Auf dem betretenen Weg der Aufklärung gelangen nur noch wenige "Empfängliche" zu den Höhen einer Bildung, die sie in eine metaphysisch/religiöse Einheit integriert. Bei allen anderen, man möchte sagen "Gottlosen", die die "überindividuellen" Werte nicht anerkennen, besteht die Gefahr, daß sie in ihren egoistischen Einzelinteressen verharren. Diese Situation ist für Herrigel nahezu ausweglos. Daraus resultiert die eher diffuse Kritik an der Aufklärung, womit sich Herrigel in die Nähe vieler deutscher Gelehrter begibt. Fritz Ringer beschreibt, daß diese Kritik der "Mandarine" zum Teil gegen die politischen Traditionen in England und Frankreich gerichtet war, im Kern aber die Befürchtung ausdrückte, daß der hohe Anspruch an "Kultur" und "Bildung", wie er von den deutschen Gelehrten vertreten wurde, verflachen würde. Mit diesem Anspruch wurde seit dem 18. Jahrhundert ein "Führungsanspruch des Mandarinentums" etabliert. In deren Vokabular enthüllte sich "das volle Ausmaß der Forderung dieser Elite nach besonderer Autorität" (Ringer 1983, 82). Die "Kriegserklärung" Herrigels übertrifft die Beispiele Ringers an Kraßheit deutlich. Herrigels protestantische Weltanschauung, weist eine Nähe zu Scheler auf. Werte sind absolute, für sich bestehende, unveränderliche Wesenheiten. Hier ist auch die strenge Unterscheidung von Kultur und Zivilisation (vgl. Scheler 1915, 54) und die Verehrung "geistiger Individualitäten" zu nennen, deren Fähigkeiten mehr auf Veranlagung beruht als auf "Milieuwirkungen" (Scheler 1915, S. 17; Herrigel 1916c, S. 7). "Aufklärung" wird von Herrigel nicht nur im Sinne von "bloßer Verstandesbildung" kritisiert, sondern sie steht deutlich in direktem Gegensatz zu einer Tradition, die durch "Herrschaft und Dienst" (31) eine Volkseinheit garantiert. Kennzeichnend für Herrigels Denken ist die Konstruktion von Gegensätzen. Es gibt für Herrigel einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen "dem Volk" und den wenigen, auserwählten bildungsfähigen "Geistigen"; diese sind für "Kultur" empfänglich und damit ist ein Herrschaftsanspruch verbunden. E. Sulz unterstreicht, daß Herrigel die "demokratischen Anschauungen ... bekämpft". Herrigels Bildungsbegriff ist außerordentlich anspruchsvoll und kann mit "göttlicher Eingebung" umschrieben werden. Das jeder Mensch nicht nur vor Gott, sondern z. B. auch vor dem Gesetz gleich sein sollte, kommt Herrigel nicht in den Sinn.

Bildung für alle ist für ihn ein Werk des Teufels, daß sie darüber hinaus auch noch "wahre Volkskultur" zerstört, wird uns noch beschäftigen.

Herrigels Artikel in der "Frankfurter Zeitung" (1917)[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Zu dieser Tageszeitung sollen vorweg einige Anmerkungen gemacht werden. Die Frankfurter Zeitung (FZ) war, so schreibt Wolfgang Schivelbusch (1982, S. 43), "die 'Primadonna' unter den großen liberal-bürgerlichen Tageszeitungen Deutschlands". Zur Zeit der Einstellung Herrigels kann die politische Stellung der FZ noch als linksliberal bezeichnet werden. Täglich wurden ca. 110.000 Exemplare verkauft (Jahresdurchschnitt 1918), und damit gehörte die Zeitung zu den drei größten Deutschlands. Im unteren Viertel - "Unter dem Strich" - auf der ersten und zweiten Seite, befand sich ein feuilletonistischer Teil, in dem auch Herrigels Artikel oft veröffentlicht wurden. Dazu muß man wissen, daß eine Tageszeitung zur damaligen Zeit nicht das war, was man sich heute darunter vorstellt. Bis 1930 gab es drei Ausgaben täglich, ein "Erstes", ein "Zweites Morgenblatt" und ein "Abendblatt", danach wurden zwei Ausgaben zusammengefasst. Die FZ hatte häufig nur einen Umfang von sechs Seiten (davon mehrere mit Anzeigen), so daß ein Artikel, der auf der ersten oder zweiten Seite erschien, einen anderen Stellenwert hatte als heute. Nach dem Wechsel zur Frankfurter Zeitung schreibt Herrigel eine zweiteilige Artikelserie, seine ersten Zeitungsartikel überhaupt, über "Volksbildungsfragen".

Der erste Teil des Artikels (v. 5. 5. 1917) trägt den Titel "Die Zentralstelle für volkstümliches Büchereiwesen zu Leipzig". Hier wird die Auseinandersetzung mit Walter Hofmann wiederholt, auf der Basis einer von der "Zentralstelle" herausgegebenen "Werbeschrift", fortgeführt und damit einer breiten Öffentlichkeit bekanntgemacht.

Es werden die Ziele der Zentralstelle zitiert: die Bücherei soll, von der "massenhaften mechanischen Abfertigung" befreit, bei einem "großen Kreise der Bevölkerung" zur "Förderung, Beratung und Aufklärung auf dem schwierigen Gebiete des Selbststudiums und der Bücherbenutzung" beitragen. Es soll "eine persönliche individualisierende, vermittelnde und fördernde Arbeit zwischen Bücherschatz und Leserschaft" stattfinden (soweit die Broschüre). Herrigel schreibt: "Um dies bei dem übermäßigen Andrang, unter dem alle Bibliotheken zu leiden haben, zu ermöglichen, empfielt Hofmann eine bewußte Auswahlpolitik in der Bücheranschaffung, und damit auch den Lesern gegenüber, um dadurch die bloßen Vielleser auszuschalten und sich desto mehr den 'Qualitätslesern' widmen zu können. Wenn auch eine Auswahlpolitik von manchen Bibliothekaren aus extrem liberalen Gesichtspunkten grundsätzlich abgelehnt wird, so ist dieses Arbeitsprogramm seinem allgemeinen Inhalt nach, Qualitäts-, nicht Massenarbeit zu leisten, doch weder so neu noch so angefochten, um die stark agitatorische und polemische Haltung der Leipziger Zentralstelle zu rechtfertigen."

Das eigentlich "Neue", seien nur die rationellen bibliothekarischen Arbeitsformen: das "Buchkarten-Leseheft-Verfahren", welches Herrigel als "außerordentlich zweckmäßig" bezeichnet. Er gibt aber zu bedenken, daß "das bibliothekarische Problem in erster Linie ein Menschenproblem ist". Das würde zwar auch die Zentralstelle nicht vergessen, aber "sie denkt dabei bloß an den Bibliothekar". Trotz des hohen Anspruchs, so Herrigel, ist in der Realität das Ergebnis dieser Bestrebungen "also nur, daß die Bedürfnisse der Leser vollkommen befriedigt werden. Allein Volksbildung wird damit nur gefördert, wenn die Bedürfnisse Bildungsbedürfnisse sind. Es ist ein oberflächlicher Optimismus, zu erwarten, durch technische Hilfsmittel und rationelle Arbeitsformen könnte die Volksbildung gefördert werden." Das mangelnde "aktive Bildungsinteresse" bliebe dabei völlig außer Betracht. Herrigel mahnt an, daß es die wichtigste Aufgabe einer übergeordneten Institution, wie der "Zentralstelle" sei, über "die mögliche Aufgabe der Bibliothek innerhalb der umfassenden Volksbildungsaufgabe Klarheit zu bringen", und er kritisiert den "engen Dogmatismus", der sogar "zu einer Verflachung der Arbeit" führe. Herrigel zitiert einige Passagen aus der Schrift "Buch und Volk und die volkstümliche Bücherei" von W. Hofmann (1917) und kommentiert:

"Wenn man ... den Kundenkreis der Bibliothek 'nach dem inneren Merkmal eben der Bibliotheksreife bestimmt', wer bleibt dann für die Bibliothek noch übrig? Es sind [...] unglaublich wenige! Man muß selber die traurige Erfahrung am Schalter einer Bibliothek (und seis in Dresden-Plauen selber!) gemacht haben, um sich eine Vorstellung davon machen zu können, wie verschwindend gering das Interesse d. h. die Empfänglichkeit für das echte Schrifttum ist ..."

"So Ideal die Hofmannschen Programmsätze klingen - dieses Programm ist noch nirgends verwirklicht worden, weil es gar nicht zu verwirklichen ist. Dazu hilft auch alle Verfeinerung des Ausleiheverfahrens nichts. Es gibt weder eine Technik des geistigen Lebens als Gegengewicht gegen seine Technisierung noch eine Technik, um die freie öffentliche Bibliothek, die durch ihre Öffentlichkeit eine demokratische und mechanische Anstalt ist, zu einer nicht demokratischen und nicht mechanischen zu machen."

Im zweiten Artikel (FZ v. 26.5.1917) wendet sich Herrigel der Frage der Verteilung der verschiedenen Volksbildungsaufgaben auf die Volksbildungsorgane zu. Wiederum auf der ersten und zweiten Seite der Frankfurter Zeitung setzt er seine Angriffe fort. Herrigel bemängelt, daß noch nie dargestellt wurde, daß es verschiedenen Aufgaben des Volksbildungwesens gebe, "die nicht auf dieselbe Weise und in derselben Veranstaltung eine Lösung finden können."

"Innerhalb des Volksbildungswesens sind drei deutlich unterscheidbare Aufgaben auseinanderzuhalten: Unterhaltung, Belehrung, Bildung. Die Volksbibliotheken suchen in der Regel die ersten beiden zu vereinigen und glauben damit der dritten zu dienen."

Es sei ein Irrglaube wenn die Volksbibliotheken meinten, mit einer Verbindung von Unterhaltung und Belehrung der Bildung dienen zu wollen. Die ohnehin schon "schwache Empfänglichkeit für Wertunterschiede" werde durch die "Vielleserei, wie sie in den meisten Bibliotheken üblich" sei "vollends zerstört." Herrigel will zwar nicht, daß diese "Unterhaltungbibliotheken" "abgeschafft werden". "Aber man sollte sich endlich darüber klar werden, daß sie mit Volksbildungsarbeit nichts zu tun haben". Bedeutsam ist in der folgenden Beschreibung, was Herrigel unter "Belehrung", in Abgrenzung zur Bildung versteht:

"Bei ihrer zweiten Aufgabe: B e l e h r u n g zu vermitteln, hat es die Bibliothek mit Lesern zu tun, die mit ihrer Lektüre irgendwelche praktischen Zwecke verfolgen. Hierher rechnen wir alle berufliche Weiterbildung, politische Erziehung, schließlich auch die sogenannte allgemeine Bildung."

"Wo der Leser nur 'Aufklärung' sucht, d. h. Rationalisierung ... vermag die Bibliothek ... zu helfen;" wenn es um Bildung geht, "da versagt die Bibliothek, und an ihre Stelle müssen andere Einrichtungen treten."

Bildung ist für Herrigel hier ein "irrationales Suchen", das Weltanschauungsfragen betrifft und durch Wissen und Aufklärung nicht mehr zu befriedigen ist. Wo "aktive Interessen vorliegen" und "eigentliche Bildungsbedürfnisse" befriedigt werden sollen, da ist die Volkshochschule gefragt, die "sich das Ziel setzt 'jeden Menschen zur Einheit zu führen'".

Die intensive Zusammenarbeit von Lehrer und Schüler, die hier für die Volkshochschule gefordert wird, ist, so Herrigel, "möglich, weil die Volkshochschulkurse von selber alle diejenigen ausschließen, denen es nicht um Vertiefung, sondern um bloß rezeptive Erweiterung ihrer Kenntnisse zu irgendwelchen praktischen Zwecken zu tun ist."

Gestützt wird diese Aussage durch ein darauf folgendes Zitat aus der Schrift von Hildebrandt: "Die Volkshochschule empfängt keine Schüler, die gezwungen und unlustig zur Schule kommen, getrieben durch falschen Ehrgeiz der Eltern oder falsch gerichtetes Standesbewußtsein, sie kommen freiwillig aus Liebe zur Fortbildung, sie tragen selbst die Verantwortung für ihr Leben in der Volkshochschule". Herrigel unterstreicht die Bedeutung der verschiedenen Volkshochschulen und schließt mit den Sätzen: "Immer noch sieht man in den Bibliotheken und Lesehallen die wichtigsten Organe der Volksbildungsbewegung und erwartet von ihnen, die nur Hilfsorgane sein können und sein dürfen, die wesentlichste Förderung der Volksbildungsziele. Das muß aber anders werden."

Fast ein halbes Jahr später, widmet sich Herrigel in der Frankfurter Zeitung (23.10.1917) wieder dem Thema Volkshochschule. Der Anlass des Artikels ist zum einen eine Publikation von Bruno Tanzmann, die aus der Arbeit eines Ausschusses in Hellerau hervorgegangen ist und zum anderen die Tagung des "Ausschusses der deutschen Volksbildungsvereinigungen" (A. d. d. V.) in Frankfurt.

Herrigel stellt die Leistungsfähigkeit des neutralen A. d. d. V. in Frage:

"Da ... der Schwerpunkt der Volkshochschularbeit in der Gesinnung liegt, von der sie getragen ist, da sie also keinesfalls neutral sein kann, der gemeinsame Ausschuß sich aber gerade in diese Dinge nicht einmischen kann, muß die Hauptarbeit in der einzelnen Schulen geleistet werden, und es scheint uns, daß gerade auf dem Volkshochschulgebiet ein Ausschuß nur wenig leisten kann ... Deshalb ist es richtiger direkt aufs Ziel loszugehen. Gerade darum begrüßen wir die Tanzmannsche Denkschrift, wenn wir auch mit den Einzelheiten seines Planes nicht durchweg einverstanden sein können."

Im gesamten nächsten Abschnitt gibt Herrigel skeptische Bedenken wieder:

"Es kann aber nicht genug gewarnt werden - und darum soll es auch hier gleich geschehen - vor dem verhängnisvollen Volksbildungsoptimismus, der glaubt, es sei schon alles gewonnen, wenn nur möglichst viele Volkshochschulen gegründet werden und ein möglichst hoher Prozentsatz der Bevölkerung die Volkshochschule besucht. Es ist ein allgemeines Gesetz der Volksbildungstätigkeit, daß die Arbeit umso mehr an Intensität und damit an eigentlichem Wert verliert, je breiter das Wirkungsfeld wird, da dann umso mehr ungeeignete Lehrer und Schüler hereinkommen. Man muß sich immer bewußt bleiben, daß Volksbildung nicht etwas ist, was 'verbreitet' werden soll und kann, und daß in ihrem Dienst kein größerer Fehler gemacht werden kann, als zu agitieren und Leute heranzuziehen, die nicht aus eigenem Antrieb kommen. Bildung gibt es nur da, wo sie gesucht wird. Es wurde auch auf den Frankfurter Verhandlungen gesagt, daß die Volksbildung in Dänemark, seit die Volkshochschule so allgemein besucht wird, ihren Höhepunkt bereits überschritten hat, daß die dänischen Bauern heute wohl eine große geistige Beweglichkeit, alles zum Problem zu machen und zu relativieren, aber keinen inneren Halt besitzen. Die Volkshochschule ist kein sozialpädagogisches Mittel, um direkt auf die Masse zu wirken. Es liegt schon im Wesen der Hochschule, daß sie nicht für alle da sein kann. Ihre Aufgabe kann es nur sein, die Führer zu bilden, die dann von ihrer Stelle aus auf ihre Gefolgschaften weiterwirken. Diese Erwartung knüpfen, wie in Frankfurt ausgesprochen wurde, besonders die großen Gewerkschafts- und Genossenschaftsverbände an eine deutsche Volkshochschule."

Zur Orientierung über die Volkshochschulbewegung schildert Herrigel die unterschiedlichen existierenden Formen: 1. "Freie Unterichtkurse". Z. B. die "Humboldt- Akademien" und die "Freie Hochschule" in Berlin, die sich mittlerweile zu einer Volkshochschule zusammengeschlossen hatten. "Ihr Zweck ist fast ausschließlich Belehrung", so Herrigel. 2. Die Volkshochschule nach dem dänischen Muster. Diese sieht Herrigel als "Vorbild für eine systematische Volkshochschulorganisation". Sie wendet sich "nicht bloß an den Verstand" sondern will "eine allgemeine Bildung vermitteln und zu einer W e l t a n s c h a u u n g hinführen". Kennzeichen sind die Internatsunterbringung, das Leben in einer "lebendigen Gemeinschaft", in der der Lehrer ein "Führer" sein kann: "Die Volkshochschule steht und fällt mit der Persönlichkeit des Lehrers." Herrigel hebt hervor, daß es hier nicht primär um Aufklärung geht, und er referiert die Gedanken Grundtvigs über "volkstümliche Gemeinschaft" und Vaterlandsliebe. 3. Eine "Mischform" der ersten beiden Typen. Beispielsweise die "englischen Summer-Meetings" mit dem Charakteristikum des gemeinschaftlichen Zusammenlebens für zwei bis drei Wochen.

Herrigel fährt mit einem zusammenfassenden Überblick über die Aufgaben und Möglichkeiten des Volksbildungswesens fort:

"Das Bedürfnis einer deutschen Volkshochschule - darunter verstehen wir jetzt nicht eine einzelne Anstalt, sondern ein System von Anstalten ... - kann nicht in Frage stehen. In unserem öffentlichen Bildungswesen ist eine Lücke. Wir haben die Volksschule, das Heer, die Universität. Es fehlt uns aber ... die Universität im alten Sinne als eine Anstalt, die nicht die Spezialwissenschaften pflegt, ... sondern die den ungeheuren zerstäubten Wissensstoff zusammenfasst und vereinigt in einer Gesamtauffassung ... Eine f r e i e H o c h s c h u l e. Ihre Aufgabe wäre ... den außerakademischen Berufen ... den Zusammenhang mit dem geistigen Leben des Volkes zu retten oder erst wieder zu schaffen ... Es erscheint mir grundsätzlich wichtig (gegenüber Tanzmann und mit Grundvig), daß die Volkshochschule ohne alle Examina ist und keine Grade erteilt, denn damit ist nur ihr Tor für unsachliche Motive geöffnet. Das einzige, was sie voraussetzt, ist ein lebendiges, rein sachliches Interesse an wahrhafter Bildung. Es müßte so kommen, daß die Angehörigen der heute so sehr spezialisierten Berufe ... Gelegenheit haben, ... ein halbes oder ein ganzes Jahr, die Volkshochschule zu besuchen, um hier ... zur Besinnung darüber zu kommen, an welcher Stelle des Ganzen sie stehen und wie sie mit ihm, dienend und empfangend, verwoben sind. Daß die Volksbibliotheken, von denen man in der ersten Überschätzung Ähnliches erwartet hat, diese Hoffnung nicht erfüllt haben, daß ihre Wirkung keine sammelnde, sondern eine zerstreuende ist, ist vor kurzem an dieser Stelle ( ... 26. Mai 1917) ausgeführt worden ... Was nottut, kann überhaupt nicht das tote Buch, sondern nur die führende Persönlichkeit leisten. So ungefähr, wenn auch mit anderen Worten, stellt Tanzmann die Idee der Volkshochschule dar."

Herrigel zitiert aus der Schrift von Tanzmann die Aufnahmebedingungen der völkisch/national orientierten Volkshochschule: Die Schüler sollen "durch Gelübde" bezeugen, daß sie "kein nichtarisches Blut" in sich haben. Dieser "völkische Einschlag" Tanzmanns, gibt Herrigel Anlass zu "ernsthaften Bedenken". Herrigel warnt vor einem "pseudowissenschaftlichen Rassenaberglauben", und er führt aus, daß die Volkshochschule "selbstverständlich auf nationalem Boden stehen muß, aber darum nicht auf völkischem. Ihr Geist soll d e u t s c h, national sein, aber diese Worte müßten gänzlich aus ihr verbannt werden, denn die nationalen Kräfte werden nicht dadurch gekräftigt, daß man davon spricht". Herrigels Artikel schließt mit den Sätzen: "Wir wissen, daß nach dem Kriege für unsere Zukunft alles darauf ankommt, daß uns der Geist des August 1914 erhalten bleibe, das Bewußtsein der Volkseinheit. Wenn dafür etwas getan werden kann, kann es nur geschehen durch die deutsche Volkshochschule."

Diese Volkshochschule war nun aber nicht mehr für alle da. Henningsen (1958, Anm. 17) weist darauf hin, daß bei der Tagung des A. d. d. V., die Herrigel hier erwähnt, "wohl zum ersten mal das Bild vom 'Sauerteig' gebraucht" wurde.

Der Konferenzbericht vermerkt: "... es komme - und das wurde im Laufe der Diskussion von mehreren Seiten betont - auch garnicht darauf an eine möglichst große Zahl von Personen in den Volkshochschulen zu sammeln, sondern vielmehr darauf, sich aus der Masse die 'Funktionäre' zu gewinnen ... Ja, die Erfahrungen mit den dänischen Volkshochschulen lehrten geradezu, daß unter einer übermäßigen Zunahme des Besuches dieser Anstalten ihr Geist litte. - Man darf also das Gebilde, das den in Frankfurt Versammelten im Geiste vorschwebte, als ein aristokratisches ansprechen; Anstalten sollen ins Leben gerufen werden, die den Bildungseifer Auserwählter zu fördern sich bemühen, die eine Gemeinde Auserwählter bilden sollen, aus der Jünger in die Masse zu entsenden wären." (343)

Es kann hier im Vorgriff erwähnt werden, daß v. Erdberg in seinem Bericht vor dem Ausschuß für Volkshochschule und freies Volksbilungswesen in der Reichsschulkonferenz von 1920 (Amtlicher Bericht, 1921), den Volksbibliotheken die Aufgabe zuweist, eine "Auslese für die Volkshochschularbeit" zu treffen. Das Vortragswesen wird den Bibliotheken zugeordnet. Die weiteren Auführungen über die Bibliotheken tragen deutlich die Handschrift W. Hofmanns, der auch Teilnehmer der Konferenz war. Die Volkshochschule als Hochschule kann sich, so v. Erdberg, "nur an eine Auslese wenden. Sie ist eine V o l k s hochschule, weil diese Auslese aus allen Schichten des Volkes erfolgen muß." (727) In der abschließenden Aussprache wendet sich nur ein Teilnehmer "gegen jede Einengung der zu beteiligenden Kreise" (730). Die Auslesefunktion der Bibliothek wird nicht in die gemeinsamen Leitsätze übernommen (vgl. 732).


Die Forderung einer Auslese - daß sie Herrigels Meinung entsprach wissen wir - kann auch aus den Artikeln herausgelesen werden, da Herrigel nicht immer unmißverständlich formuliert. In diesem Zusammenhang ist an das "Leserheft" zu erinnern, in dem der Bibliothekar seinen persönlichen Eindruck vom Leser vermerkt! Festzuhalten ist, daß Herrigel das Neue der Neuen Richtung in den rationellen Methoden Hofmanns sieht; weiterhin die Formulierung: die Bibliothek sei eine "demokratische und mechanische Anstalt". "Berufliche Weiterbildung", "politische Erziehung" und "allgemeine Bildung" sind für ihn nicht Bildung sondern "Belehrung" und stellen damit den Aufgabenbereich der VHS dar (in Abgrenzung zur Grundtvigschen Heimvolkshochschule). Schließlich sind Herrigels Worte festzuhalten: " ... wie sie mit ihm, dienend und empfangend, verwoben sind." (52) Ob sich Herrigels Ansicht, die unteren Schichten seinen nicht bildungsfähig, mittlerweile geändert hat, kann nicht beurteilt werden; jedenfalls schwächt er dahingehende Äußerungen mit dem Hinweis auf "mangelnde Bildungsinteressen" ab. Dabei ist das Medium (FZ) zu beachten: Möglicherweise trägt der Publikationsort dazu bei, daß Herrigel sich vorsichtiger Ausdrückt.

Zur Repräsentativität Herrigels Auffassung, kann auf eine Veröffentlichung des Verbandes der deutschen Hochschulen (1923) verwiesen werden. Dort heißt es noch schärfer: "So gelingt es vielfach nur durch einen künstlichen und mühseligen Prozess der Höherzüchtung, die Bildungsgüter der höheren Schule, einem Publikum zugänglich zu machen, das von Hause aus ohne tiefere geistige Bedürfnisse ist." (Zitiert nach Ringer 1983, S. 76)

Ringer bemerkt dazu: "Bei diesem Vokabular und mit dieser Auffassung von Kultur war keine vernünftige Diskussion moderner Alternativen möglich." (76) Wir werden im nächsten Kapitel sehen, daß eine Diskussion möglich war - ob sie allerdings immer "vernünftig" blieb, ist die Frage.

Das Problem der Volksbildung (1918-1922) - Herrigels Herausforderung und die Antworten von Vertretern der "Neuen Richtung".[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In diesem Kapitel werden wir uns zunächst die neue Lage Deutschlands nach der Novemberrevolution vergegenwärtigen. Im Hintergrund unserer Darstellung wird nun die Frage stehen, wie die Volksbildung auf Republik und Demokratie reagiert. Danach beschäftigen wir uns mit Veröffentlichungen Herrigels, die u. a. seine intensive Auseinandersetzung mit philosophischen Problemen, mit Erkenntnistheorie und Kant anzeigen. Mancher Begriff der hier fällt wird in den späteren, für uns zentralen Aufsätzen wiederkehren. Der erste, die Herausforderung Herrigels über "Erlebnis und Naivität", ist Gegenstand von Kapitel 5.3. Die Reaktionen von verschiedenen Vertretern der "Neuen Richtung" mit den jeweiligen Antworten Herrigels werden in Kap. 5.4. dargestellt. Abschließend (Kap. 5.5.) sollen die wichtigsten Gesichtspunkte dieses Kapitels hervorgehoben werden.


Die Volksbildung und die neue Situation Deutschlands nach dem Krieg[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Um uns noch einmal die Zeit des Umbruchs in Erinnerung zu rufen, soll wieder Max Scheler (1915) zu Wort kommen: "Als zu Beginn des Augustmonats (1914, W.B.) unser deutsches Schicksal wie eine einzige ungeheure dunkle Frage vor uns hintrat, jedes Individuum bis ins Mark erschütternd, ... da war es nur eine Antwort, die aus allen deutschen Seelen zurücktönte, ein einziger erhobener Arm: Zu Schwert und Siege! In der heiligen Forderung der Stunde ertranken mit allem Parteigezänk auch die tiefsten Differenzen unserer Weltanschauung." (S. 1) "Der zerrissene Lebenskontakt zwischen den Reihen: Individuum - Volk - Nation - Welt - Gott wurde mit einem Male wieder geschlossen" (S. 2).

Nach dem Krieg stürzte Deutschland um so tiefer in eine Identitätskrise. Das Einheitsgefühl war zerstört. Erneut ziehen wir zur Bewertung Fritz Ringer (1983) hinzu: "Die Revolution von 1918-1919 bewies, das es der Rhetorik des Kulturkriegs nicht gelungen war, das deutsche Volk zu bekehren. Noch immer verlangte es nach gesellschaftlichen und politischen Reformen." (186)

Der Ärger der unteren Klassen, berichtet Ringer, war "weniger gegen den Kapitalismus als gegen die bürokratische Monarchie und deren traditionelle Herrschaftskaste gerichtet. ... sie legten gegenüber den Institutionen des höheren Bildungswesens ein ebenso großes Ressentiment an den Tag wie gegenüber dem Offizierskorps."

Eine Reform des Bildungswesens wurde, als ein wichtiger Teil einer Demokratisierung verlangt, aber: "Die Welt der Gelehrten tat im großen und ganzen alles, was in ihrer Macht stand, um sich dem neuen Regime zu widersetzen" (Ringer 186). Tuguntke (1988, 9f) weist darauf hin, daß entgegen den bisherigen Beschreibungen, Erwachsenenbildungsbestrebungen durchaus nicht immer in engstem Zusammenhang mit der Demokratisierung der Gesellschaft gestanden hätten. Demgegenüber betont Fritz Laack die Bedeutung der Demokratie für das Selbstverständnis der Volksbildung nach 1918. Und zur Frage, was nun das Originäre der "Neuen Richtung" war, wird der Krieg geradezu zum konstituierenden Element. Eine differenzierte Sichtweise kann nicht darüber hinweg gehen, daß es individualisierende Bildungsarbeit auch schon vor der Neuen Richtung gab, daß vermerkt auch Laack und er betont: "Erst die völlige Veränderung der Lage Deutschlands durch den ersten Weltkrieg, der Zusammenbruch der Monarchie und der damit einhergehende Verlust eines nationalen Kulturbewußtseins gaben den entscheidenden Impuls zu Erneuerung des Volksbildungswesens. Nicht zu Unrecht haben Werner Picht und später auch Herman Nohl die kulturelle Krise als entscheidendes Moment für den Neubeginn hervorgehoben. Hinzu kam der große Impuls durch den Übergang von der Monarchie zur Republik. Jetzt bekam die Bildung des Menschen für den Aufbau der Demokratie und ihres kulturellen Lebens einen neuen, anderen Sinn. Die freie Volksbildung wurde als eine ihrer wesentlichen Voraussetzungen angesehen. Der Staat sollte ein neues Fundament bekommen. Die alten Werte galten nichts mehr. Das war eine Chance der 'Neuen Richtung', am kulturellen Neuaufbau teilzunehmen und durch gezielte Bildungsangebote mitzuhelfen, die von vielen Menschen mit Sehnsucht erwartete Demokratie aufzubauen." (Laack 1984, 21)

Es wird im folgenden zu überprüfen sein, wie ernst es der "Neuen Richtung" mit der Demokratisierung war.

1919 kam es zu einem Gründungsboom bei den Volkshochschulen, bedingt durch das "außerordentlich starke Interesse aller Bevölkerungsschichten" (Wirth 1978, 682). Zur Veranschaulichung ein Zitat von Walter Hofmann, der Ende September 1919 einen Vortrag mit folgenden Worten einleitet: "Volksbildung ist die Losung des Tages! Es ist fast nicht möglich, eine Zeitung, eine Zeitschrift aufzuschlagen, ohne von neuen Gründungen, von neuen Plänen, von neuen Forderungen für die Volksbildung zu lesen. ... Die Volksbildung soll die furchtbaren Wunden heilen, die der Krieg uns geschlagen hat".

Staatlicherseits wurde in Preussen, sicherlich unter Mitwirkung v. Erdbergs, das Aufblühen der Volksbildung unterstützt. Das Interesse kam in einer Broschüre des Preussischen Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung von 1919 zum Ausdruck. Henningsen bemerkt, daß sich in den amtlichen Schriftstücken, "in erfreulich klarer und entschiedener Form Grundgedanken der 'Neuen Richtung'" spiegeln (Henningsen 1960, 155; dort auch der Abdruck der Dokumente, S. 133ff). Deutlich wird die Ablehnung der alten, "verbreitenden" Richtung. In den "Richtlinien" heißt es: "Die Volkshochschule ist keine Fortbildungs- oder Fachschule. Sie dient auch nicht der Unterhaltung und der popularisierenden Belehrung in der Art der bisher üblichen Veranstaltungen des freien Bildungswesens. Ihr Endziel ist nicht Vermittlung von Kenntnissen, von Bildungsrohstoff, sondern Ausbildung des Denk- und Urteilsvermögens ... Die Unterichtsmethode ... muß ... engste Fühlungnahme zwischen Lehrer und Hörer anstreben. ... Der Volkshochschulunterricht muß in wissenschaftlichem Geist und unter Wahrung strengster Objektivität erfolgen. ... Die Zahl der Hörer muß beschränkt sein. Die Volkshochschule darf sich ... (nicht) um Zulauf bemühen (! WB). ... einem Massenzulauf (ist) vorzubeugen ... Erst in ... Arbeitsgemeinschaften wird sich die eigentümliche Aufgabe der Volkshochschule ganz lösen lassen."

Eine Ursache für die fehlende Volkseinheit wurde in der Trennung des Volkes in "Kopf- und Handarbeiter" gesehen, und die Volkshochschule war für viele das Mittel, um diese Trennung zu überwinden. In der genannten Broschüre findet sich ein Erlass des damaligen Kultusministers Haenisch, der dieses Problem anspricht: "Wir müssen Brücken schlagen zwischen dem kleineren Volksteil, der geistig arbeitet, und dem immer größer bleibenden Teile unserer Volksgenossen, der mit der Hand schafft aber geistig hungrig ist." (Zit. n. Henningsen, 133)

Wenig später sollte sich dieser Sachverhalt in dem Schlagwort "Volksbildung = Volkbildung" (A. Mann) ausdrücken. Das Ziel war die Volksgemeinschaft, und der Weg wurde in den kleinen Arbeitsgemeinschaften der Volksbildung gesehen.

Nach diesem Überblick über die Situation der Volksbildung wenden wir uns wieder der Person Hermann Herrigel zu.


Herrigels Artikel in der Zeitschrift "Die Rheinlande" und "Die revolutionäre Entscheidung"[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Herrigel hatte sich mittlerweile mit Werken von Georg Simmel und Wilhelm Stapel auseinandergesetzt. Diese Arbeiten fanden einen Niederschlag in einigen Aufsätzen in der Monatszeitschrift "Die Rheinlande". Dies war zugleich der eigentliche Beginn seiner regen publizistischen Tätigkeit. Der sachliche Stil hebt sich deutlich von den Arbeiten aus der Kriegszeit ab. Einige Aspekte aus diesen Artikeln sollen im folgenden wiedergegeben werden, da sie das Verständniss der späteren Arbeiten erleichtern. Ein zentraler Begriff wird immer wieder "Form" oder "das Formale" sein.

Der Titel der ersten Arbeit lautet: "Über den Verlust der Tradition." Tradition, schreibt Herrigel, ist ein "rein geistiges Element am Bilde des Vergangenen. Doch ist die Entstehung der Tradition nicht vom Intensitätsgrade der Hinwendung abhängig ... In der Hinwendung selber liegt vielmehr schon das Traditionsbildende, die besondere Liebe und Pietät, die das Vergangene lebendig erhält" (114). Zunächst wird konstatiert, daß "dem Menschen des 19. Jahrhunderts die Tradition verloren ging" und, daß dieser Zustand auf einer "inneren Wandlung des Menschen" beruht (114). Die Ursache wird im wissenschaftlichen Geist und damit im Historismus und im Kapitalismus gesehen. "Die wissenschaftlich objektive Einstellung verdrängt jede andere Hinwendung zur Wirklichkeit oder gestattet sie jedenfalls nur, nachdem sie wissenschaftlich kastriert ist." (115)

Herrigel bemüht sich zu zeigen, daß das moderne "lediglich intellektuelle" Subjekt, um eine neutrale, objektive Einstellung zur Wirklichkeit bemüht ist, die die Wirklichkeit aus allen Beziehungen zum Unendlichen herauslöst (114).Tradition sei nur möglich als individuelles Verhältnis einer Persönlichkeit zu einem Sachverhalt der unverändert, unreduziert so genommen sein will wie er ist, so Herrigel. "Die Wissenschaft und ihr Geist ist also vermöge ihrer formalisierenden Tendenz der Feind der Tradition." (116) Herrigel betont die Ungleichheit, die "Persönlichkeit" ausmache und wendet sich gegen eine "formale" Gleichheit der Menschen, die er im Liberalismus und in der Erkenntnistheorie Kants gefordert sieht. Wissenschaftliche Erkenntnis muß Allgemeingültig sein und setze somit die Gleichheit der Individuen voraus, so Herrigel.

Am Beispiel "Kapitalismus" zeigt Herrigel den traditionsfeindlichen Einfluss des wissenschaftlichen Geistes auf die Praxis. "Die unerbittliche Unterdrückung des besitzlosen Menschen unter der Herrschaft des kapitalistischen Formalismus kommt besonders in der Bewertung der Arbeit zur Geltung. Die Arbeit verliert seinen Inhaltswert und gewinnt dafür einen Preis ...".

Erwartet man nach diesen Sätzen eine Auseinandersetzung mit der Situaton der Arbeiter, so wendet sich Herrigel den Künstlern und der "geistigen Arbeit" zu. Eine kapitalistische Wertung der Arbeit wird "besonders dadurch schlimm, daß diese Bewertung den Anspruch erhebt, zugleich den künstlerischen Wert der Leistung zu repräsentieren. ... (es) erweist das System hier seine größte Härte, da es die geistige Arbeit nur negativ wertet und dadurch dem geistigen Arbeiter als solchem die Existenzmöglichkeit entzieht." (117)

Auch für das kapitalistische System ist die Gleichheit der Menschen Voraussetzung, betont Herrigel, und er erwähnt die französische Revolution als Ursprung dieses Denkens. Traditionsfeindlich sei schon, "daß jedem Menschen ... die gleichen Möglichkeiten des Aufstiegs offenstehen sollen. ... Man begnügte sich nicht damit, die damals tatsächlich unhaltbar gewordenen Zustände zu ändern, sondern warf radikal und grundsätzlich die ganze geschichtliche Gliederung der Gesellschaft über den Haufen, um zum ideal gedachten Naturzustand zurückzukehren" (117).

Mit Fichte und gegen Rousseau wird argumentiert, daß die Verkennung der Natur, in der "beide Möglichkeiten, die Entwicklung zum Guten, wie zum Schlimmen, liegen" zu einer neuen "Knechtung" der Menschen führen mußte (117); diese habe nun im Kapitalismus nur andere Formen angenommen. Abschließend wiederholt Herrigel: "Nichts ist dem neuzeitlichen Menschen so sehr in Fleisch und Blut übergegangen wie das Postulat der Allgemeingültigkeit und der grundsätzlichen Gleichheit der Menschen. Das bedeutet aber eine beträchtliche Verarmung der Menschheit." (118)

Und sein Resümee lautet, mit einem Hinweis auf die ethisch/moralische Problematik: "aus dem Allgemeingültigkeitspostulat (bildet) sich der moderne Rechtsindividualismus ..., der darauf hinzielt, jedem Subjekt die gleiche unangreifbare Rechtsphäre abzugrenzen, während umgekehrt der volle Subjektsindividualismus durch die Liebesintention, die seiner Hinwendung zur Welt und zu den Mitmenschen wesentlich innewohnt, die Voraussetzung aller Gemeinschaftsbildung ist." (119)

Herrigels Arbeit über "Idealismus" beschäftigt sich mit der Aufgabe "die Philosophie grundsätzlich von der Wissenschaft loszulösen und auf ihr Eigengebiet zurückzuführen." (185)Wieder wendet sich Herrigel gegen Kant und die reduzierte Erkenntnis des "bloß intellektuellen Subjekts" (185). "Die Struktur der Welt läßt sich nicht in einer Anzahl von absoluten Formen einsehen. Die Wirklichkeit ist nicht rational, vielmehr ist das Rationale nur ein Ausschnitt aus ihr ... Wissenschaft und Wirklichkeit decken sich für uns nicht. Aus dieser Inkongruenz des Endlichen und Unendlichen ... entspringt unser Recht, im Gegensatz zur Wissenschaft eine Philosophie zu postulieren." (185) Im Gegensatz zu einer Beschränkung auf die "formalen Erkenntnisprinzipien" bestehe die Aufgabe der Philosophie darin "die Erkenntnis auf letzte inhaltliche Voraussetzungen zu reduzieren." Damit sei die Frage verbunden "ob und in welcher Weise eine materiale Philosophie möglich sei". Nach diesen einleitenden Worten versucht Herrigel zu klären, was Idealismus und idealistisches Denken gegenüber dem bisherigen "abstrakte(n) Formalismus" sein könnte: "Idealistisches Denken ist eine Überwindung alles Theoretischen, Inhaltlichen als eines Zufälligen, dadurch daß sich der Blick auf das Etwas richtet, auf das Wesentliche, das Einheitliche, Bleibende, Dauernde, Notwendige, Ewige, gleichsam auf die Seele ..." (185). "Idealismus ist ... ein grundsätzliches Denken." (186)

Damit ist ein Wort gefallen, welches den ganzen Aufsatz prägt: "Das Grundsätzliche". Idealismus ist ein, auf das Grundsätzliche gerichtetes Denken. "Das Grundsätzliche steht in einem notwendigen Gegensatz zum Einzelnen ... denn dieses ist durch das Grundsätzliche irgendwie bedingt." (186)

Was hier mit "notwendiger Gegensatz" gemeint ist bleibt unklar. Derselbe Gegensatz ist gegeben in: "die Erscheinung und das Wesen, der Wertträger und der Wert." Das Wesen dieses Gegensatzes ist für Herrigel mit dem Begriff des Transzendentalen gekennzeichnet, "durch den Kant das Verhältnis des Apriorischen zum Empirischen ausdrückt."(186) Herrigels Kritik besteht in dem Vorwurf, daß es auf der Basis der Philosophie Kants nicht gelingen kann, zum Grundsätzlichen vorzustoßen. "Es war ein Irrtum Kants, daß wir allein in der Mathematik und in der mathematischen Naturwissenschaft synthetische Erkenntnisse a priori besitzen; vielmehr besitzen wir sie im Grundsätzlichen als solchem überhaupt, in dem ganzen Bezirk den sich der Intellekt durch Überwindung des Empirischen, eben durch seine Einstellung und Richtung auf das Grundsätzliche schafft. ... die Richtung auf das Grundsätzliche bedeutet zunächst ein Hinausstreben über diese Ebene (des Empirischen. WB) und die Einstellung auf das, was ihre Voraussetzung bildet und ihr zugleich mit grundsätzlicher Geltung gegenübersteht." (187)

Herrigel betont, daß es unmöglich ist, "auf empirischem Weg zum Sinne eines Gegenstandes vorzudringen" (188): "Aber dies darf nicht so verstanden werden, als ob der Sinn als eine platonische Idee irgendwie vor den Dingen existierte, sondern er ist unsere Schöpfung in Anschauung des Empirischen. Indem wir das empirisch gegebene Material zur Einheit zusammenschließen, geben wir ihm zugleich einen Sinn. Die Frage nach dem Grundsätzlichen, nach dem Überhaupt ist also nicht auf das empirische Sein der Dinge gerichtet, sondern auf das, was mit den Dingen 'gemeint' ist. In dieser Beziehung auf das Subjekt bewährt der Sinn, das Grundsätzliche seinen Wertcharakter. ... der Sinn der Dinge ist ihre Vollkommenheit, ihre ideale Vollendung" (189).

In der Beziehung auf das Grundsätzliche liege "Schöpfung, d. h. Vereinheitlichung und Bewertung des Materials" (189).

Die Beziehung zwischen dem Menschen und dem "Grundsätzlichen" bleibt undeutlich. Wenn "Schöpfung" auf etwas bezogen ist, was der empirischen Ebene mit "grundsätzlicher Geltung" gegenübersteht und der "Wert" nach wie vor ein ewig gültiger ist, scheint es sich hier, um ein Verhältnis zu handeln, bei dem das Subjekt kein "Mitspracherecht" hat. Die Beziehung auf das Grundsätzliche sei überall vernachlässigt worden. "Alle praktische Arbeit verliert sich an induktiv-empirische Dinge, an unwichtiges, zeitlich Bedingtes ... wenn sie nicht grundsätzlich orientiert ist. Die praktische soziale Arbeit hat zum Gegenstand nur das Allgemein-Menschliche ... und reicht nicht hinüber in das Reich des Geistigen, wo jeder Mensch ein geistiges, metaphysisches, ewiges Wesen ist und wo es erst die wahre geistige Gemeinschaft, nicht mehr bloß das Zusammenleben einer Masse gibt. (190)

Herrigel streift noch das Thema Volksbildung, wenn er bemerkt: Es sei aber auch an die "sogenannten 'idealen' Aufgaben des sozialen Lebens" zu denken, "die darin bestehen, diese Fortschritte (der Wissenschaft. WB) der ganzen Volksgemeinschaft zugute kommen zu lassen, und die niederen Klassen durch wirtschaftliche Hebung und Erziehung dafür empfänglich zu machen." (189)

Einer der Schlußgedanken lautet: "Wer es bestreitet, daß der Mensch die Fähigkeit besitze, sich über das Empirische hinaus auf das Grundsätzliche zu beziehen und daß die Einstellung auf das Grundsätzliche das absolute Menschenideal sei, der bestreitet seine geistige Subjektivität." (190)


Herrigels Auseinandersetzung mit Georg Simmel schließt gewissermaßen an die Kritik der "Grundgedanken" von Erdberg (1911) an, da auch gegenüber Simmel der Unterschied zwischen Kultur und Unkultur betont wird. Simmel sieht - über dem Kampf zwischen Form und Leben, der Kultur erst ausmacht - ein Kennzeichen der Zeit im Kampf des Lebens gegen die Form überhaupt: Das Leben will die Form abschaffen. Simmels Begriff von Kultur ist "zu weit", schreibt Herrigel. "Fraglich ist ... ob der Konflikt so, wie ihn Simmel bestimmt, nicht vielmehr das Zeichen für Unkultur ist, während Kultur durch die Ausgeglichenheit der beiden Elemente charakerisiert ist." "Kultur ist ein Wertbegriff, Simmels Kulturbegriff aber ist psychologisch und als solcher wertindifferent und umfasst Kultur und Unkultur" (244).

Herrigel bemüht eine "Form der Formen" als "Wertprinzip": "Bei der Form der Formen aber handelt es sich um das Normative, das in ihnen steckt, um die Idee, von der diese Mannigfaltigkeit getragen ist ... Damit ist ein Wertprinzip gegeben, das die Erzeugnisse ... scheidet, in solche, die seinen Stempel tragen und damit dem kulturellen Bestand angehören, und solche, die ihn nicht haben und die nur 'Erzeugnisse' sind." (244) "Das Wesen der Kultur kann aber auf keine Weise als irgendeine Art von Leben oder Erleben erfasst werden, sondern nur als Gestaltung. Gestaltung bedeutet, daß eine Materie nach einer bestimmten Idee geformt werde, und schließt also notwendig einen Dualismus von Stoff und Form ein." (245; Hervorhebung von mir. WB)

Einige Gedanken aus diesen Arbeiten sollen zunächst zusammengefasst werden. Herrigels Kritik am Kapitalismus und seiner verkürzten Sichtweise des Berufes, der Hinweis auf den "Egoismus des homo oeconomicus" (118), sowie die Kritik an einem (natur-) wissenschaftlich reduzierten Menschenbild hat bis heute nichts an Gültigkeit verloren. Problematisch ist, daß das Verhältnis des Menschen zur Vergangenheit darin besteht eine Traditon zu haben, die ein kritikloses Anerkennungsverhältnis voraussetzt: Ein Gegenstand oder Vorgang muß "in seinem vollen so-und-nicht-anders-sein" (116) erhalten bleiben. Problematisch bleibt auch die Rückwärtsgewandtheit der Herrigelschen Position (wie schon in der Tat-Flugschrift). Er fragt nicht nach Alternativen, wenn die "Liebesintention", die Voraussetzung für Gemeinschaftsbildung ist, nicht mehr allgemein vorausgesetzt werden kann. Herrigel betont den Gegensatz zwischen "wahrer geistiger Gemeinschaft" und der "Masse".Im Zusammenhang mit Herrigels Wissenschaftskritik fällt der Begriff einer "materialen Philosophie", die sich auf das Notwendige und Ewige konzentrieren und das Theoretische als etwas zufälliges überwinden solle. Es bleibt zu vermerken, daß sich Herrigel der pauschalen Kritik am Idealismus, die bald nach dem Krieg einsetzt noch nicht anschließt.

Herrigel präsentiert in "Die Rheinlande" einen Auszug aus Wilhelm Stapels Buch "Volksbürgerliche Erziehung". In den wenigen Sätzen, die er dem langen Zitat voranstellt, bewegt er sich tendenziell weg von seiner scharfen Ablehnung des "Völkischen" (vgl. o., FZ vom 23.10.1917). Im folgenden interessieren uns nur die Herrigelschen Ausführungen und nicht Stapels Arbeit selbst. Jedoch soll erwähnt werden, daß Stapel das Volk als einen lebendigen Organismus aus "Gotteshand" und als Lebensgemeinschaft sieht, gegenüber der "Arbeitsgemeinschaft" Staat. Er betont die Bedeutung des "Genies" für die Gemeinschaft. Stapels Ziel, so Herrigel, sei nicht "die Förderung des jetzigen gedankenlosen Betriebes" in der Volkserziehungsarbeit. Herrigel will zwei Sachverhalte besonders hervorheben: Erstens: Die Grundlage der Volksbildungsarbeit muß das Volkstum bilden, denn sie darf nicht bloß Arbeit an der Hebung einer Klasse, sondern muß Arbeit an der Volkskultur sein. die Aufgabe ist die Bildung einer lebendigen Volksgemeinschaft. ... Volkserziehung ist so Verstanden Erziehung zum Volk, Volk ist nicht Gegenstand, sondern Ziel der Erziehung. Zweitens: Das ... Ziel der Erziehung (läßt) sich nicht durch Organisation machen ... Erziehung hat eine irrationale Grundlage ..." (161).


Im Juni 1919 nimmt Herrigel an der Heppenheimer Tagung teil, die u.a. von Martin Buber initiiert, Gelegenheit bot neben Buber auch Paul Natorp und Ernst Michel kennenzulernen (vgl. Sandt 1977 u. Wunsch 1986, Anm. 25).

Im gleichen Monat erscheint zum ersten mal ein Artikel von Herrigel in der Zeitschrift "Die neuen Rundschau" (Jg. 6, 1919); der Titel: "Die revolutionäre Entscheidung". Herrigel bemüht sich um eine "grundsätzliche Klärung der revolutionären Politik" (688). Zunächst stellt er sich die Frage nach einem idealen Ziel: "Das soziale Ideal erblicken wir in einer menschlichen Rangordnung, deren Schichten nicht in feindliche, einander entgegengesetzte und bekämpfende Parteien oder Klassen auseinanderfallen, sondern die eine auf Persönlichkeit und Gemeinschaftswillen beruhende innere Einheit und Stabilität besitzt." Bedingung für den inneren Frieden ist, daß "persönliche und soziale Rangordnung zusammenfallen". "Mit dem Persönlichen sind dabei die Unterschiede der besonderen Begabungen und Fähigkeiten gemeint, derjenigen Werte, die die Persönlichkeit ausmachen und die nicht beliebig erworben werden können, die daher auch einer sozialen Ausgleichspolitik nicht zugänglich sind. Die soziale Rangordnung dagegen beruht auf den im weitesten Sinne wirtschaftlichen und rechtlichen Unterschieden, die dem einen, dem Besitzenden, eine gewisse Verfügungsmacht über den anderen gewähren." (688)

Die dynamischen Beziehungen der persönlichen Unterschiede der Menschen, moralische Führerschaft und Autorität, auf denen letzten Endes jede soziale Abstufung beruhen muß, lassen sich nicht radikal auschalten und durch eine rein mechanische Nebeneinanderordnung ersetzen" (691).


Soweit Herrigels Publikationen bis zum Zeitpunkt der Veröffenlichung seiner, für uns zentralen Arbeit über das "Problem der Volksbildung".

Ein Schlagwort der Zeit war "Erlebnis" und es war in der Jugendbewegung und in der Volksbildung verbreitet. In dem Flugblatt des Preussischen Ministeriums für Wissenschaft Kunst und Volksbildung von 1919, dessen Formulierung Werner Picht zugeschrieben wird, heißt es: "Die Volkshochschule ... hat vom Wissen zum Begreifen, vom Eindruck zum Erlebnis zu führen". Auch in der Tat-Flugschrift von Eduard Weitsch (1918) finden wir die Formel: "Nicht Literaturgeschichte sondern Erlebnis der Dichtung" (11). Herrigel wird diese "Erlebniskultur" kritisieren und ihr die "Naivität" entgegensetzen.

"Erlebnis und Naivität und das Problem der Volksbildung"[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der erste Beitrag im Novemberheft 1919 der "Neuen Rundschau" ist ein Essay von Alfred Döblin mit dem Titel "Dämmerung". Ein Jahr nach der Novemberrevolution stellt sich die Frage, wie Republik und Demokratie aufgenommen werden. Döblin versucht die Zeitstimmung einzufangen: "Man sagt die Dinge konsolidieren sich langsam wieder ... Seit langem hat es in Berlin nicht geknallt ... Man hört aus den Verhandlungen der linken Parteien, es herrsche Revolutionsmüdigkeit, sie steigert sich zu völliger politischer Indifferenz. Streiks werden rarer, rarer; die Massen werden unbeweglich ... Die Programme fangen an nach rechts zu hinken ... Das Fazit des neunten Novembers: Republik, Demokratie, Zivilismus ... Wie kommt es, daß man sich erst jetzt nach so langen Monaten dessen bewußt freut?" (1281)

Auch das "Volksbildungsarchiv" nimmt, nach der Einschätzung von Laack (1984, 32), eine "überaschend zurückhaltende Stellung" zur neuen Situation ein. Man sollte erwarten, daß es in der Volksbildung jetzt Überlegungen zu den Möglichkeiten einer politischen Bildung gibt.

In dem erwähnten Novemberheft der "Neuen Rundschau" erscheint Hermann Herrigels Aufsatz, der eine umfangreiche Debatte auslösen wird: "Erlebnis und Naivität und das Problem der Volksbildung".

Der erste Satz lautet: "Das Erlebnis ist psychologischer Natur, das Naive ist unbewußt und unerlebt." Und weiter: Das Naive ist "bewußtseinsjenseitig, transzendental" (1303). Für die Überbewertung des Erlebnisses und die Vernachlässigung des Naiven werden "Empirismus" und "Psychologismus" mitverantwortlich gemacht. "Es ist symptomatisch für die Seelenlosigkeit der neueren Zeit, daß die Psychologie diesen Erlebnisvordergrund für die Seele halten konnte." (1303)"Die Reaktion gegen den Rationalismus und die Herrschaft erstarrter Formen" erwarte von dem Erlebnis "eine Erneuerung des Lebens." Dabei sei der Begriff oft unklar. "Denn gerade das Erlebte hat oft und um so mehr, je mehr es erlebt und durchlebt ist, etwas Berechenbares, ... Seelenloses an sich." (1303) Am Beispiel des Kunstgewerbes verdeutlicht Herrigel den Unterschied zwischen "den naiv handwerklich erzeugten Gebrauchsgegenständen des Mittelalters und den oft so phantasielosen, aber um so ... zweckhafter 'erlebten' kunstgewerblichen Erzeugnissen der Gegenwart". Hier zeige sich auch der "Unterschied zwischen der objektiven Kultur des damaligen und der subjektiven Zivilisation des heutigen Bürgertums" (1303).

Damit sind die Gegensätze aufgezeigt: Auf der einen Seite die Gegenwart, die subjektive Zivilisation und das Erlebnis; auf der anderen das Mittelalter, die objektive Kultur und die Naivität. "Das Bedürfnis des Erlebens ist eine Krankheit des traditionslosen Menschen ... Aber dieses Erlebnis ist ein Raubbau an der Naivität ... Die ganze 'Ausdruckskultur', deren großer erzieherischer Wert ... außer Frage steht, ist zuletzt doch nur eine Steigerung des bürgerlichen Individualismus, der auch in der erlebten 'Gemeinschaft', die ein innerer Widerspruch ist, nicht überwunden wird ... Wahre Gemeinschaft ist nicht in einer persönlichen sondern vielleicht nur in einer unpersönlichen, generellen Form möglich. (Eine) Überwindung des materiell gebundenen und geistig zersplitterten Bourgeoisindividualismus, wird das Erlebnis erst, wenn es nicht mehr persönliches Erlebnis, sondern paradox gesagt Erlebnis des Überpersönlichen, objektiver Realität ist. Dabei hat aber das 'Erlebnis' einen ganz anderen Sinn und verlässt die Kategorie des Psychologischen." (1304)

Vielleicht, so schränkt Herrigel ein, gilt das alles nur für das Erlebnis des heutigen, in einer "Kulurkrisis" stehenden Menschen. "Unser ganzes geistiges Leben ist formal, inhaltsleer geworden, ... seitdem es sich im Nominalismus von der mittelalterlichen Gebundenheit befreit hat, ist es auf der Flucht vor der Bestimmtheit ins Unendliche." (1305) "Subjektives und objektives Gesetz, praktische und theoretische Vernunft sind auseinandergetreten ... Der kategorische Imperativ ist vom Subjekt, vom unmittelbaren sittlichen Empfinden losgelöst. Das Erlebnis sucht die Form und endet im Formalen: das Formale hat keinen Inhalt, der Inhalt (das Leben) hat keine Form." (1306)

Der Gegensatz von Erlebnis und Naivität wird nun als ein Teil der Gegensätze gesehen, welche die Kulturkrise ausmachen: "... des Subjektiven und Objektiven, des Individuums und der überindividuellen gemeinschaftsbildenden, das Individuum aufhebenden Norm, der Freiheit und der Autorität. Naivität gehört aber nicht zur Freiheit sondern als Naivität wirkt sich die Autorität aus und beherrscht das freie Erlebnis. Nur wenn die Autorität naiv ist, steht sie außerhalb des Anerkennungserlebnisses, außerhalb jeder Frage und ist nicht mehr bloß transzendentales Apriori, sondern transzendente Realität" (1307).

Nach einem erkenntnistheoretischen Exkurs wendet sich Herrigel dem Thema Bildung und damit seiner Kernaussage zu. "Wenn aber unsere ganze Bildung ... zum Erlebnis der Form hinstrebt ... so wird unsere Bildungspflege ... zu einem höchst fragwürdigen Unternehmen. Das gilt vor allem von der Erwachsenen- oder Volksbildung. (1307f) Das Versprechen der Volksbildung, eine Volkseinheit zu bilden ist ein zu großes; ihre Aufgabe kann nur sein, den Zusammenhang, der noch vorhanden ist (...), und seine Kräfte möglichst zu erhalten. Diese Kräfte liegen in der Naivität des Einzelnen ... Das demokratische Ideal der Öffentlichkeit verträgt sich nicht damit, daß es streng gehütete Geheimnisse gibt ... Volkskultur ist aber nicht das, daß alle an den kulturellen Gütern den gleichen erlebnismäßigen Anteil haben, sondern umgekehrt, daß ein vom Erleben Unberührtes ehrfürchtig erhalten bleibt." (1308)

Volkbildung durch Volksbildung ist für Herrigel also unmöglich. Diese Position wird untermauert mit den Gegensätzen Masse/Individuum und Ungebildeter/Gebildeter, die nur durch Religion überwunden werden können. "Das Leben der Masse des Volkes, worunter hier eine kompakte Einheit zu verstehen ist, hat seine eigenen Gesetze und es ist der Grundfehler der Volksbildung, die Masse in Einzelne mit individuellen Bedürfnissen aufzulösen und diesen die von den Gebildeten nach ihren Maßstäben für das Volk vorgekauten und begutachteten Erlebnisse zuzumuten. So kann die Überbrückung der Kluft, die zwischen den Gebildeten und dem Volke liegt, nicht erreicht werden", denn "die religiöse Einheit, die beide allein verbinden kann, (ist) nicht mehr vorhanden" (1309).

Zwischen Gebildeten und Ungebildeten besteht, so Herrigel, ein "wirklicher Gegensatz", als Folge der Formalisierung. "Wie soll dem Ungebildeten eine moralische Welt einleuchten, deren Gesetz ein formales Apriori ist, ... streng genommen (gibt es) auch keine Popularisierung der Wissenschaft, sondern höchstens ihrer Ergebnisse, die aber notwendig falsch verstanden werden müssen" (1310).

Somit bestehen Zweifel ob "der Gebildete überhaupt das Recht (hat), dem Ungebildeten seine fragwürdige Bildung zu bringen" (1311).

Herrigels Ausführungen münden in der Frage: "Was soll also praktisch geschehen?" Soll man "statt der Erlebnisse die Naivität ... pflegen"? Die Antwort fällt, wie nicht anders zu erwarten, eindeutig aus: "Das mindeste scheint die Forderung zu sein, daß die ganze öffentliche Bildungspflege ... aufhören muß, daß man alles so gehen lasse wie es von selber will, um nur ja die Naivität zu schonen." (1315)

Herrigel resümiert: "Das Mittelalter kannte und brauchte keine Volksbildung. Die Volksbildungsaufgabe ist eine Erscheinung erst der sentimentalen Kultur, die vor dem Problem des Unendlichen steht." (1316)

Die Volksbildung stehe nicht außerhalb der Probleme der Zeit und könne daher nur in sie einführen und somit die Krise verschärfen. Aber es sei nicht "wünschenswert und notwendig die Masse, die noch Naivität besitzt, daraus aufzuschrecken und vor eine Aufgabe zu stellen, die sie nicht gesucht hat und der sie nicht gewachsen ist. Daß die Masse in ihrer Gesamtheit die Krisis durchlaufen wird, ist niemals zu erwarten. Darum darf die Volksbildung nicht wahllos die Menschen in ihre Anstalten hereinlocken" (1316).

Der Schlußgedanke lautet, daß der Schwerpunkt des Volksbildungsproblems bei den Gebildeten liege und nicht bei den Ungebildeten: "Erst wenn sie ihre Welt wieder begrenzen können, wenn sie in ihrem Sturz ins Unendlich-Formale einen Halt finden, wenn die formale Bildung wieder eine materiale wird, kann wieder wie im Mittelalter - aber mit einem unvergleichlich erweiterten Horizonte -, eine geistige Einheit entstehen, die die Gebildeten und die Ungebildeten umfaßt." (1316)

Ein zweiteiliger Artikel, der als Zusammenfassung der obigen Arbeit gesehen werden kann, erscheint kurz darauf (12. u. 13.12.1919) in der Frankfurter Zeitung. Hier wird Herrigels Skepsis gegenüber der Volksbildung einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht. Unterschiede sind deutlich erkennbar, wenn auch die Grundaussage die gleiche bleibt: Es soll ein "grundsätzliches Bedenken ausgesprochen werden". Davon, daß die "ganze öffentliche Bildungspflege aufhören soll" ist nun allerdings keine Rede mehr. Auch stellt sich Herrigel eindeutiger auf die Seite der Masse, der Ungebildeten. Die antidemokratischen Gedanken sind verschwunden, der Begriff "Autorität" kommt nicht vor. Somit ist der Artikel sachlicher, der Tageszeitung angemessen, straffer und verständlicher geschrieben, obwohl der kategorische Imperativ und Vokabeln wie das "Infinitesimale" vorkommen.

Wir gehen zunächst dazu über die Reaktionen der Vertreter der Neuen Richtung zu betrachten. Nach den einzelnen Reaktionen werden die Antworten Herrigels dargestellt, in denen er seine Vorstellungen weiter präzisiert.

Die Reaktionen und die Antworten Herrigels[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Jürgen Henningsen hat 1959 in seinen Studien "Zur Theorie der Volksbildung" die Bedeutung des "schwierigen theoretischen" (25) Aufsatzes hervorgehoben, der die "Aufmerksamkeit aller verantwortlich Tätigen erzwang" (25) und zu einem "geistig über alle Maßen hochstehenden Dialog" (26) geführt habe. Henningsen selbst bedauert "nur Hauptlinien" verfolgen zu können: "So interessant es wäre, die Bedeutung Herrigels für die Theorie der Volksbildung, durch ein Verfolgen sämtlicher nachweisbaren Berührungen zwischen ihm und anderen zu unterstreichen" (35), muß er sich auf die Diskussionen Herrigel-Rosenstock und Herrigel-Flitner beschränken.

Hier soll versucht werden, diese Arbeit nachzuholen, soweit dies an Hand der veröffentlichten Artikel von Herrigel, Werner Picht, Eugen Rosenstock, Wilhelm Flitner und Kurt Sternberg möglich ist. Wir nutzen dabei die Gelegenheit, um einige der herausragenden Persönlichkeiten der Neuen Richtung (und auch später des Hohenrodter Bundes) kennenzulernen. Dabei sollen sie auch über die Kritik an Herrigel hinaus zu Wort kommen, um die sich in dieser Zeit konkretisierenden Gedanken zur Volksbildung zu verdeutlichen.


Walter Hofmann: Grenzen der Volksbildungsarbeit[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die vermutlich erste, sehr kurze Reaktion auf Herrigel stammt von Walter Hofmann, der noch im Dezember (zeitgleich mit dem Artikel in der FZ) Herrigels Abhandlung empfiehlt.

Der im Volksbildungsarchiv (Jg. 7) abgedruckte Teil seines Vortrags über die "Grenzen der Volksbildungsarbeit" erscheint ihm zu negativ, und skizzenhaft. Daher verweist er auf Herrigels Abhandlung: "Auch Herrigel spricht, besonders dort, wo er zu praktischen Nutzanwendungen übergeht, nicht das letzte Wort, und seine Einleitung ist reichlich schwer und dunkel; aber an dem eigentlichen Kern seiner Ausführungen wird keiner vorübergehen können, der sich Rechenschaft über die Möglichkeit der Volksbildung in unseren Tagen ablegen will." (81)

Der letzte Satz bestätigt Henningsens Wort von der "erzwungenen Aufmerksamkeit" aller. Es wurde schon bemerkt, daß Hofmann sich nicht mehr schriftlich mit Herrigel auseinandergesetzt hat. Was war der Grund? Wir wissen es nicht. Wenn die Verärgerung über seinen ehemaligen Lehrling so groß war, ist die Empfehlung doch erstaunlich.

Die Nähe zu Herrigel besteht in der tiefen Skepsis Hofmanns gegenüber der Volksbildungsarbeit.

Eine pessimistische Zeitdiagnose - er spricht von "Hoffnungslosigkeit unserer Maschinenexistenz" (97) - und die Erfahrung, daß nur eine kleine Minderheit "Bildungswillig" (93f) sei, führt dazu, daß Hofmann von "der Unmöglichkeit der Volksbildungsarbeit" (83) spricht. Eine weitere Nähe zu Herrigel besteht in seinem Kulturbegriff: "Kultur ist d i e Form des Zusammenlebens der Menschen, die gegeben ist, wenn die Menschen ... durch etwas geeint werden, was außerhalb und über dem Einzelnen steht, was der Gruppe, dem Volk voranschwebt" (86).

Diese Kultur ist nicht mehr vorhanden, schreibt Hofmann, und daraus folgt: "Wenn aber Bildung die Form ist, in der die Kultur vom Individuum besessen wird, und wenn diese Kultur nicht vorhanden ist ... dann ist Bildung als ein allgemeiner Gesellschaftlicher Zustand nicht möglich." (88) In dieser Situation würde nur eines helfen: "Die vollständige religiös-soziale Neugestaltung unseres gesamten Lebens" (97). Diese Neugestaltung, "die freilich die wirtschaftlich-soziale Neugestaltung in radikalstem Ausmaße in sich schließt, (hat) nichts zu tun ... mit den Tendenzen kirchlicher Kreise, durch eine Wiederbelebung alter Gläubigkeitsbegriffe die Menschen in die Hörigkeit des Kapitalismus zurückzubannen." (98)

Hofmann meint auch nicht die Revolution, die "wir gehabt haben und nicht die Revolution, die die radikalen sozialistischen Parteien anstreben" (97). Die vollständige Neugestaltung "kann nur kommen nach dem Zusammenbruch des Weltungeheuers der mechanistischen Zivilisation (98f). Die entstehende Kultur "würde dann auch Volksbildung sein! Volksbildungsorganisationen würden dann freilich nicht mehr notwendig sein" (99).


Eugen Rosenstock: Das Dreigestirn der Bildung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die zweite Reaktion auf Herrigels Aufsatz findet sich in Eugen Rosenstocks Arbeit "Das Dreigestirn der Bildung" (Februar 1920). Rosenstock leitete zeitweilig die "Akademie der Arbeit" und war Organisator von Arbeitslagern (s. u.) die in der Weimarer Republik zum Volksbildungswesen gehörten. E. Rosenstock macht in seinem Aufsatz den Versuch, eine "neue Bildung" auf dem Boden der sozialen Realität nach dem "Zusammenbruch" von 1918 zu begründen. Diese Bildung sollte Gegenwartsbildung, sollte "Lebensbildung" sein, nachdem die beiden großen Bildungswelten - die geistliche und die akademische Bildung - der Vergangenheit angehörten (vgl. 62). Rosenstock beschreibt diese Vergangenheit: "Den Kleriker erträgt die Laienwelt, weil er sie erzieht. Weshalb wird der Akademiker vom Volk, von der Masse, ertragen? ... die Antwort kann nicht zweifelhaft sein: weil er sie regiert. Der Staat ist eine Angelegenheit des akademisch Gebildeten. Mit Hilfe ihres Geistes beherrschen sie das unbewußte Volk. ... Allein wird aber auch der Akademiker mit der ... Masse nicht fertig ... (Er) braucht die Ergänzung durch den Offizier" (69).

Die neue Situation ist gekennzeichnet durch das Mißtrauen in die alten Institutionen: "Denn in dem selben Augenblick, da die akademische Bildung auf der ganzen Linie, auch über die geistliche Bildung zu siegen scheint, da wird ihr die notwendige Ergänzung geraubt, ohne die sie ihre Herrschaft über das ganze Volk nicht ausüben kann. Wie einst die Fahnenflucht des Bettelmönchs zurück in die Welt (Luther) das Monopol der geistlichen Bildung zerstört hat, so zerfällt heute das akademische Monopol durch das Aufhören des - Offiziers! Mit dem Wegbrechen des Offizierskorps fehlt die zweite Säule des Staates, dessen andere 'Leibgarde' die Universität war." (72)

Jetzt erst sei die Zeit gekommen, in der die Volksbildung zu "selbständiger Bedeutung erwachen" könne, wenn sie "eigentümliche Mittel der Bildung erwirbt" (72). In dem Satz: "Die Frage des Schülers tritt zum ersten Male an die erste Stelle vor die Antwort des Lehrers" (70), ist die für die "Neue Richtung" maßgebliche Methode angesprochen. "Was kann es nun für eine neue Bildung geben? Durch sie soll ein Volk gebildet werden, das den Glauben an seine Regierer oder an seine Erzieher oder beide verloren hat, das im Glauben und im Wissen getrennt ist. Fabrikdirektor und Arbeiter, Bauer und Professor brauchen heute eine einheitliche, ihnen gemeinsame Bildung. Ausdruck dieses Bedürfnisses ist das neue Gebilde der Volkshochschule." (73)

Die bestehende Not mache das Volk zur Schicksalsgemeinschaft". "Wenn ... im Glauben und Wissen getrennte zu einer selbstbewußten (! W.B.) Daseinsgemeinschaft verbunden werden sollen, so ist nur die harte Not des Tages übrig, an der sie sich als Gemeinschaft erkennen können. Die nackte Arbeit, des Lebens Notdurft, kettet Berkwerksbesitzer und Bergarbeiter ... aneinander." (77)

Nachdem nochmals betont wurde, daß auch der Akademiker der neuen Bildung bedürfe, gipfelt der Wunsch und die Forderung nach einer neuen nationalen Identität in dem Wort "Reichsarbeitsgemeinschaft" (78). Mit diesem Begriff korrespondiert die Forderung nach der Allgemeingültigkeit der Prinzipien der Volksbildung, die auch jede Weltanschauung (Rosenstock nennt hier Arbeiterbildung und Sozialismus) verbiete (84); deutlich klingt das Neutralitätspostulat der Neuen Richtung an. Die "beiden Reiche der Offenbarung und der Forschung" sollen aber weiterhin als Übermittler der "Fülle der Lebensmöglichkeiten" dienen. Politische Bildung, hier im weitesten Sinne, synonym mit Lebensbildung gebraucht, solle zwischen ihnen vermitteln (86). "So wird in der Arbeitsgemeinschaft des Volkes und in ihrem Spiegelbild, der Arbeitsgemeinschaft des Unterrichts, der Fluch der akademischen Bildung, der Relativismus, gelöst. Relativismus und Relativität ... müssen überwunden werden von dem verantwortlichen Entschluß, das notwendige zu tun" (81). In optimistischer Grundhaltung formuliert Rosenstock: "Die reifsten Früchte der akademischen Bildung: die Zeitung der Gemeinschaft und der Beruf des einzelnen, das werden die beiden Grundlagen der neuen Bildung sein!" (83)

Allgemeines und Besonderes, die Gemeinschaft und das Individuum, öffentliche Pflicht zur Arbeit und "die geheimen Rechte der Liebe" (85) sollen in der Lebensbildung zu Wort kommen. Zunächst werde jedoch das Politische noch ganz im Vordergrund stehen.

Die neue Bildung soll international werden, mit dem Satz: "Es soll nicht ein Volk darben, das andere prassen", als "Eckstein unseres künftigen Denkens" (79).

Rosenstock verweist auf den Vorläufigkeitscharakter der neuen Volkshochschule, die ihren Wert erst beweisen muß und nicht vorschnell kritisiert werden sollte: Dem "Zweifler (sei) noch nichts Wertvolles sichtbar" (73). Und dann bemerkt er: "Sehr gescheite Männer, ich nenne nur Hermann Herrigel mit seinen Aufsätzen gegen die Volkshochschule, ziehen vielmehr noch heute den entgegengesetzten Schluß: Die Masse sei bewußtlos und solle es - zu ihrem wohlverstandenen Heile - bleiben. Deshalb fort mit der Volkshochschule und ihren aufklärenden volksbildenden Zielen." (74)

Herrigel als Akademiker habe die Masse vor Augen, die "froh zu sein hat und froh ist, wenn sie (vom akademischen Geist. WB.) regiert wird ... die gläubige Masse der Christenseelen." Im Zuge der industriellen Revolution sei aber längst eine zweite Masse entstanden nämlich die "klassenbewußten Proletarier", die in der Tageszeitung "das, was vor hundert Jahren Schiller und Goethe als letzte Frucht der Bildung zukam, jeden Morgen zum Frühstück" genießen (74). Neben dieser teilweise zuspitzenden Ironie ist sich Rosenstock - gegen Herrigel - sicher: "Wer aber die Zeitung liest, der ist bereits nicht mehr bewußtlos. Er ist bereits unregierbar im Sinne der alten Masse." (75)

Hier muß angemerkt werden, daß im dem Wiederabdruck der Arbeit von Rosenstock (1926) der Name Herrigel in dem gesamten Absatz gestrichen wurde.


In seiner Sammelbesprechung der Kritiken nennt Herrigel Rosenstocks Aufsatz "die ernsthafteste Entgegnung", die seine Ausführungen gefunden hätten, "denn Rosenstock stimmt allem zu, was gegen die idealistische Bildung gesagt ist." (247). Der wesentliche Unterschied bestehe in der positiven Antwort, die Rosenstock gibt, da er ja eine neue Bildung grundsätzlich für möglich hält.

Herrigel bescheinigt Rosenstock, daß er noch im idealistischen Denken verhaftet bleibe. Rosenstock sei zwar in erster Linie praktisch, "aber er kann das Theoretische nicht völlig ausschließen. Was er für die Praxis von theoretischem Gehalt zur Hilfe holt, ist aber wiederum idealistisches Gut: der Appell an die individuelle Gesinnung. ... Idealistische Forderungen sind immer dem Individuum gestellt und setzen bei ihm den guten Willen und die Kraft zur Verwirklichung voraus. ... Aber jede idealistische Forderung ist daran gescheitert, daß die individualistische Voraussetzung falsch ist. Auch die Not wird daran nichts ändern, denn das ist gerade der Grund der Not." (257) Die Gegenwart zeige, daß die wenigsten sich der Verantwortung für die Gemeinschaft stellen würden. Zur Zeit gibt es höchstens "Interessenverbände", führt Herrigel aus, aber keine Gemeinschaft. Dazu, so wiederholt er, fehlt "der Glaube, der allein gemeinschaftsbildend ist" (258). Der Interpretation Rosenstocks "Die Masse sei bewußtlos und solle es auch bleiben" muß Herrigel widersprechen: Er habe nur sagen wollen, daß "die idealistische Bildung der Gebildeten" nicht imstande sei, die Kluft zu überbrücken und darin sei er sich der Zustimmung Rosenstocks gewiss (258f).

In Ergänzung der Abhandlung von Rosenstock, fügt Herrigel einen Exkurs über Weltanschauung ein. Geistliche und akademische Bildung seien "beide universale Weltanschauungen, die auf dieselbe zentrale Frage nach dem Sinn des Lebens eine Antwort geben", wobei die christliche Bildung eine "Weltanschauung im eigentlichen Sinne" besitze, denn ihr Inhalt sei das anschauliche Bild einer geschlossenen hierarchischen Weltordnung; dieses Weltbild gäbe "dem Menschen Maßstäbe für alles (! WB), was im praktischen Leben vorkommt und geschieht." Die akademische Bildung besitze nur eine "Welttheorie", deren Aufbau nicht "von der praktischen Einfachheit des christlichen Weltbildes" sei (249).

Gegen Rosenstocks Arbeitsgemeinschaft argumentiert Herrigel:

„Man kann ... nicht von der Arbeitsgemeinschaft als von einer neuen Gemeinschaft neben den drei alten sprechen, der diktatorischen der reinen Gewalt, der autoritativen und der individualistischen. Wenn wir von der ersten als der rein mechanischen, bildungslosen schweigen, entspricht die autoritative Gemeinschaft der kirchlichen Bildungswelt, die individualistische der akademischen. Der sozial entscheidende Faktor jener ist der dogmatische Lehrinhalt, der geglaubt wird und die einzelnen dadurch einigt, daß er ihrem Erlebnisbereich, ihrer individuellen Freiheit bestimmte Schranken setzt und eben durch diese Schranken alle zu einer Gemeinschaft zusammen schließt. Die individualistische Gemeinschaftslehre der akademischen Bildung dagegen ... glaubt unter Voraussetzung einer absoluten Harmonie, daß die Individuen als solche aus ihren individuellen Kräften sich zu einer Gemeinschaft zusammenschließen. ... Im Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft ist für die Kirche das Primäre die Gemeinschaft, für die weltliche Bildung die Autonomie des individuellen Atoms. An einer dieser beiden Möglichkeiten, neben denen keine dritte denkbar ist, muß auch die Arbeitsgemeinschaft teilnehmen. (252)“

Auch der Satz: "es soll nicht ein Volk darben, das andere prassen", habe nur Sinn als Ausdruck einer "objektiven, vom Willen unabhängigen Verantwortung"; ist er aber eine "ethische Forderung, die sich an den Einzelnen wendet", so sei er eine "philosophische Äußerung", die auch früher schon "erfolglos geblieben" sei (252). Herrigels Urteil lautet schließlich: "Allein eine Bildung, die grundsätzlich auf die Erkenntnis der Bedürfnisse des 'nackten Daseins' eingeschränkt ist, hat zu wenig Gehalt, um noch Bildung zu heißen. ... (der) neuen Bildung Rosenstocks ... fehlt das, was die Bildung in eine andere Sphäre über den Menschen stellt."

Durch die Beschränkung auf das Notwendige, so Herrigel, "verliert sie die Funktion, sozial zu differenzieren. Nur um den Preis dieser Beschränkung gewinnt Rosenstock das eigentümliche Bildungsmittel der Volksbildung. Damit wird zwar die Bildung zu einer Sache aller, ... aber sie büßt damit zugleich ihren Bildungscharakter ein, denn man kann nicht Bildung wollen ohne soziale Differenzierung." (254)

"Die Not ... kann keinen Sinn geben", widerspricht Herrigel. "Darum kann von ihr auch nicht eine neue Bildung ausgehen ... Die Not war ... auch früher da", darum sei nicht einzusehen, "warum die Not heute eher Erfolg verspricht als früher" (253). "Die Notwendigkeit des nebeneinander auf gemeinsamem Boden Stehens ist nicht gemeinschaftsbildend, denn die gemeinschaftsbildenden Faktoren sind dieselben wie die sozial differenzierenden. Diese sind aber nur Wertforderungen und Wertmaßstäbe." (255)

Die neue Bildung müsse Verantwortung tragen "für die Not der Seele und des Geistes, die nicht praktisch gelöst werden kann, sondern die selber schon im Reich der Werte liegt, da sie die negative Auswirkung der Werte, Bewußtsein der Schuld und der Sünde ist." (255)

Damit stehe man aber wieder ganz in der Problematik der alten Bildungswelten. Rosenstocks "politische Bildung", so Herrigel, "schließt sich gegen den Konflikt ab", der zwischen Seele und Geist - auch in politischen Fragen - ausgefochten werden müße (255).

Herrigel steckt im Schlusswort die Möglichkeiten der Volksbildung ab, und fordert einen "Verzicht auf alle idealistischen Phrasen von Bildung des Menschen usw." (258): "Die Volksbildung ... kann nur der Zeit dienen, aber die pessimistische Einsicht in die Grenzen unseres Könnens wird davor bewahren, ihre Leistung zu hoch einzuschätzen und Ansprüche an sie zu stellen, die außerhalb jeder individualistischen Leistung liegen. Die Volksbildung hat daher nur einen Sinn ... wenn sie auf letzte, idealistische, im Unendlichen liegende Ziele verzichtet und sich auf praktische, begrenzte Ziele beschränkt, Ziele zugleich im Dienste der Gegenwart und im Bewußtsein ihrer damit ungelösten und unlösbaren Not." (259)

Es muß hier vorweggenommen werden, daß mit ähnlichem Wortlaut, 1928 die "realistische" Bestimmung der Möglichkeiten der Volksbildung von Herrigel ausgesprochen wurde, die durch Henningsens Arbeiten berühmt geworden ist (1959, S. 38f; s. o. S. 153). Es ist festzuhalten, daß dieses Schlußwort in Auseinandersetzung mit Rosenstock entstanden ist und die Volksbildungsbemühungen auf Gegenwartsarbeit beschränkt - einer Gegenwart, deren Not nur im Glauben gelöst werden kann: "... die Not der Seele und des Geistes, die nicht praktisch gelöst werden kann" (255).

Rosenstock hat in einem Wiederabdruck (1926) seiner Arbeit über "Das Dreigestirn der Bildung" den Namen Herrigel gestrichen. Es ist zu fragen, ob dies eine Annäherung an Herrigels Position signalisiert. In dem Aufsatz "Andragogik" von 1924 gibt Rosenstock der Volksbildung einen neuen Namen: Andragogik ist "bewußte Geistesführung"; "der Name, unter dem wir alle schulmäßige Bildung Erwachsener zusammenfassen können." (251) Hier zeigt sich Rosenstock gegenüber der Kritik Herrigels - von der Not könne keine Bildung ausgehen - völlig unbeeindruckt. Einen "wahren Zauberstab" hätte man, wenn man vom Negativen, vom Leid ausgehe zur Verbindung eines "disparaten Volkstums" (270). Der Aufsatz über das "Dreigestirn" war frei von jeglicher Polemik, die sich ausdrücklich gegen den "Idealismus" wendet. Das hat sich nun geändert. Die Frage, ob das auf den Eingfluß Herrigels zurückzuführen ist, kann jedoch nicht beantwortet werden. Ein Beispiel von vielen (u. a. gegen Keyserling gerichtet) ist der Satz: "An das 'Volk' kam das Rechtsleben und sein geistiger Gehalt mit dem Sieg der Aufklärung im 19. Jahrhundert nur noch in der idealistischen Gasform als Politik heran." (262) Der Jurist Rosenstock betont die Rolle des Rechts für die Andragogik: "Das Recht, kraft dessen ich meinen Bestand innerhalb des Volksganzen finde ... weckt in mir das Gefühl der Verantwortung." "Recht ist bestehende Ordnung, Politik geforderte. Recht ist das, was wir hinnehmen, Politik das, was wir wollen." (261ff)

Aus dem passiven rechtskundigen Bauern sei ein aktivistischer, zielbewußter Kämpfer geworden, der seinen Großvater in Bezug auf politisches Vokabular in Form von Idealen übertrifft, aber ein "ungeheures Defizit an Rechtskenntnis" besitzt (263). Und bedauernd stellt Rosenstock fest, daß die "gesamte Rechtsüberlieferung ihr Leben nur abseits und trotz der Schulbildung im Volke gefristet" habe (262). Das erinnert an die Bemerkung Herrigels (1916b, 28) über die Kultur des "bildungsfremden Bauern", die aus dem "Bewußtsein eines Metaphysischen heraus" entsteht.


Tuguntke, der sich (1988) u. a. mit dem Thema "Arbeitslager" auseinandersetzt, referiert, daß sich in der neueren historischen Literatur Hinweise "auf den problematischen politischen Charakter der Bildungsarbeit" in den Löwenberger Lagern fänden (55). Dort sei die Rede "von einem 'problematischen Gesellschaftsverständnis' Rosenstocks, das mit 'lebensphilosophischer Emphase und Antirationalismus'" umschrieben wird. Weiter wird kritisiert, daß Rosenstock die "Relevanz gesellschaftlicher 'Interessenkonflikte' bedenklich unterschätzt" hätte. Dieses sei darin zum Ausdruck gekommen, daß die "gegensätzlichen sozialen Interessen als versönbare" dargestellt wurden, und zwar in der "Perspektive einer organisch-funktionalen Volksgemeinschaft und starken Nation" (55ff). Tuguntke weist auf die Nähe zu dem "Ideengut der gestaltenden Volksbildung" hin und resümiert mit ausdrücklicher Bezugnahme auf Rosenstock: "Vom pädagogischen Standpunkt verfolgten die Löwenberger Arbeitslager damit eine Vergesellschaftungsstrategie", die eine "gesellschaftliche Handlungsfähigkeit" nicht gefördert hätte. Ein "moralisches Subjekt" sollte "gesellschaftliche Zwänge in Freiheit" übernehmen (vgl. Tuguntke 1988, 78). Diese Einstellung habe gerade die politischen Orientierungen geschwächt, mit denen sich die jungen Erwachsenen der "antidemokratischen Entwicklung hätten entgegenstellen können" (78).


Werner Picht: Pessimistische Bildungsromantik[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Werner Picht schreibt 1921 den Aufsatz "Pessimistische Bildungsromantik", der "Eine Entgegnung" auf Herrigels Ausführungen von 1919 ist. Picht stand "durch die gemeinsame Tätigkeit im preußischen Volksbildungsministerium in enger Verbindung zu Erdberg" (Laack , 508). Er vertrat in der ersten Hohenrodter Woche (1923) die Position der "Berliner Richtung" (s. o.).

W. Picht betont, daß die Volksbildungsbewegung, der es "seit der Revolution zu gut" gehe, "alle Veranlassung zu Dankbarkeit" hätte, wenn ihr, wie durch Herrigels Aufsatz geschehen, "ein Knüppel zwischen die Beine geworfen wird". Herrigel, "der selbst dem Volksbildungswesen angehört", habe so manchen zum "Nachdenken gezwungen" (125). Dennoch will Picht "einige Einwände" vorbringen, weil sich "Richtiges und Falsches ... so zu kreuzen scheint, daß eine Entwirrung" nötig sei. Die Gegenüberstellung von Erlebnis und Naivität sei ein "willkürlich konstruierte(r) Gegensatz" (126). Wenn im Volksbildungswesen verlangt würde, daß "die Kulturinhalte wieder erlebt werden sollen, so heißt das doch zunächst nichts anderes, als daß sie in eine organische Beziehung zum Subjekte treten (sollen)" (126).

Und damit sei die "grundlegende Forderung" ausgesprochen, daß "dem Ungebildeten keine Kulturgüter dargeboten werden, die er nicht zum Aufbau seines Lebens verwenden kann". Ihm soll eine "Assimilation" der Kulturgüter möglich sein. Somit sei aber an ein völlig anderes gedacht "als an den 'berechenbaren', 'zweckhaft begrenzten und unfreien', 'seelenlosen', 'individualistischen', 'puritanischen' 'psychologischen Zustand den Herrigel darunter begreift." "... nicht gegen die Forderung des Erlebnisses wäre Front zu machen sondern nur zu warnen vor der 'Hervorzerrung' persönlicher', 'überhitzter' Erlebnisse" (126f).

Picht hält Herrigel entgegen, daß dessen "Leidenschaft für das Unterbewußte" ihn zur Verwerfung des Erlebnisses verführt, "wobei er sich zu Äußerungen versteigt, wie z.B. der, daß im Gegensatz zur 'erlebten' Gemeinschaft die lebendige Gemeinschaft 'nichts von sich wisse'. Als ob nicht beispielsweise eine paulinische Gemeinde, der man rechtes Leben nicht wird absprechen wollen, sich mit einem hohen Grade von Bewußtheit als Gemeinschaft empfunden hätte" (127).

Damit sei er "in verhängnisvoller Weise übers Ziel geschossen", wie auch bei der "Attacke ... gegen den Formalismus, ... der dem Intellektualismus in die Schuhe geschoben wird": "Die Zeitkrankheit des Formalismus wird zwar niemand leugnen wollen. Aber es muß doch unterschieden werden - und das ist gerade für die Frage der Volksbildung wichtig - zwischen formalem Denken, das freilich intellektualistischer Herkunft ist, und einem ästhetischen Formalismus, den gerade ein geistfeindlicher Sensualismus mit besonderer Hingebung pflegt." (127)

Ein typisches Verfahren der Zeitkritik sei aber die Negierung der Gegenwart, verbunden mit einer "unglücklichen Liebe" zum Mittelalter, die zu einem "Neo-Barbarismus" führe, "dem Herrigels Begeisterung für das Naive verwandter ist, als er vielleicht denkt. Kultur ist ... überhaupt nicht zu trennen von einem gewissen Maß von Bewußtheit und Formalismus, und man wird ebensowenig Veranlassung haben, diese zu befehden, als man der Maschine als solcher den Krieg erklären wird, weil man ein Feind des Maschinenzeitalters ist. Man käme dann in letzter Konsequenz dazu, sich die Arme abzuhacken. Und in der Tat scheut Herrigel auf seinem Gebiet nicht vor ähnlich weitreichenden Folgerungen zurück." (128)

Picht vermißt eine genaue Differenzierung extensiver und intensiver Richtung ebenso, wie eine Unterscheidung von "Volks h o c h schule" und dem freien Volksbildungswesen, und er wünscht sich von Herrigel wegen "der Bedeutsamkeit der Gesichtspunkte ... eine zu Ende geführte Durcharbeitung seiner Gedankengänge" (128). Der "berechtigte Kern der Herrigelschen Ausführungen wendet" sich gegen die Alte Richtung, die das Volk durch die "Warenhäuser der Kultur ... schleppte" (130). Als den "Angelpunkt" macht Picht Herrigels Annahme aus, das Objekt des Volksbildungswesens sei eine sich noch im Zustand der Naivität befindende Masse. Dies sei eine "Fiktion", denn die Masse befinde sich "keineswegs in einem geistigen Urzustand" (128f; vgl. Rosenstock). Herrigels Position sei "bedenklich, weil sie die Ansatzstellen für unser aktives Eingreifen in den Prozess der Kulturentwicklung übersehen muß" (129), und er verfalle einer "Neigung zu einer zurückblickenden Romantik".

Ohne eine optimistische Grundstimmung sei Volksbildungsarbeit nicht möglich. Picht verdeutlicht das Gesagte in einer längeren Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der Kunsterziehung, die die "Menge" die Sprache von Form und Farbe" zu lehren hätte, um - "auf Grund formaler Bildung" - die "Kunst wieder zum Reden zu bringen". Sie hätte, dem "formal nicht Gebildeten" die "Seele" des Kunstwerks zu erschließen. Dem "Ungebildeten von heute" müsse man mit den "neuen Mitteln" der Volksbildung, die in "unserer Zeit den neuen Bedürfnissen entsprechen", zu Hilfe kommen (vgl. 131f). "Zur Einfachheit und Einfalt des mittelalterlichen Menschen, die Gebildeten wie Ungebildeten verloren gegangen ist, führt kein Weg zurück ... Aufgabe der heutigen Volksbildung ist es, die breiten Schichten ... mit dem Rüstzeug zu versehen, dessen sie bedürfen, um ihrer geistigen Lage gewachsen zu sein. (132)

Die Volkshochschule, die für "die wenigen", "geistig besonders Befähigten" da sei, sei von der Volksbildungsarbeit "die sich an Viele wendet ... grundsätzlich zu scheiden" (132).

Herrigel geht in seiner Antwort zunächst auf die Frage des Formalismus ein. Gegen ein "gewisses Maß" von formaler Bildung sei tatsächlich nichts zu sagen, aber heute sei die Bildung eben "nur noch formal", und "diese ausschließliche Herrschaft des Formalen" löse "alle inhaltlichen Werte" auf. Picht setze letztlich Formalismus mit Kultur gleich, verkenne somit die "Gefahren die im Formalismus liegen", was zu seiner "optimistischen Grundstimmung" führe (238). Damit aber "verwischt" Picht das eigentliche Problem, so Herrigel, und geht "auf den Kern meiner Kritik nicht ein". Die Kernfrage, die Herrigel negativ beantwortet hatte - "inwiefern an der Volkshochschule ... eine über den Formalismus hinausführende Bildungsarbeit geleistet werden kann" - würde Picht zwar bejahen, eine Begründung bliebe jedoch aus (239).

Bezogen auf Pichts Vorwurf er habe den Erlebnisbegriff nicht richtig gebraucht: "die Terminologie schwankt ständig" (Picht, 127), nimmt die Klärung nun den weitaus größten Raum innerhalb der Verteidigung gegenüber Picht ein. Zur Klärung der "Mißverständnisse" unterscheidet Herrigel vier Begriffe des Erlebnisses: das naive gegenständliche und das formale gegenständliche Erlebnis, das schöpferische Erlebnis und das Erlebnis als bloßer Akt. Dabei stehen "den beiden objekiven ... zwei subjektive Arten des Erlebnisses" gegenüber. Der subjektive "bloße Akt", der nur "der Vollständigkeit wegen" beschrieben werde und vom naiven Inhaltserlebnis unterschieden werden müsse, sei "nur konstruiert, ... ein abstrakter Begriff", der in die "theoretische reine Psychologie" gehöre. "Das Erlebnis in diesem Sinne ist der reine Akt, der in allen Erlebnissen derselbe ist, gegenüber dem ebenso abstrakten, noch unerlebten Erlebnisstoff, die beide zusammen erst die volle konkrete Einheit des erlebten Inhalts ergeben." (244f)

Der "subjektive Erlebnisakt ... (tritt) in den Vordergrund ... (beim) individualistisch-schöpferischen Erlebnis". Hier macht Herrigel einen wesentlichen Teil des Zeitgeistes aus: "Dieses Erlebnis ist der Gegenwart das wichtigste" (242). "Nichts vermag schlagender die zentrale Bedeutung zu erweisen, die für den heutigen Menschen das schöpferische Erlebnis besitzt, als daß von ihm die Festigung unserer in völlige Anarchie aufgelösten Lebensverfassung erwartet wird." (242f)

Ein Ergebnis dieses Denkens sei z. B., daß "eine Frage des Taktes, der guten Erziehung ... zu einer Sache ... des augenblicklichen Erlebens, der 'guten Laune' gemacht wird" (243). So gingen Maßstäbe, wie "das objektive Rangverhältnis des Jüngeren gegenüber dem Älteren" ebenso verloren, wie "ein Prinzip, das für die Dauer gewährleistet, daß das geschieht, was aus objektiven Gründen geschehen soll" (244). Das naive gegenständliche Erlebnis ist "das rein auf den Gegenstand gerichtete Erlebnis ... dessen idealer Fall im Verhältnis des Gläubigen zum Heiligenbilde ... gegeben ist". Im folgenden Bespricht Herrigel die zentralen Themen Gemeinschaft, Individualismus und Pädagogik: "Wenn z. B. vom Erlebnis der Gemeinschaft die Rede ist, so kann damit gemeint sein, daß die Gemeinschaft als eine überpersönliche Realität bewußt geworden ist - das entspricht dem naiven objektiven Erlebnis; eine derartige Bewußtheit der Gemeinschaft ist auch für die paulinische Gemeinde nicht zu leugnen; oder daß die Gemeinschaft auf bestimmten formalen Bedingungen ihrer Möglichkeit, auf einer immanenten, funktionellen Gesetzmäßigkeit beruht, und das wird das formale gegenständliche Erlebnis sehen. Das schöpferische Erlebnis dagegen ist dasjenige, das die Gemeinschaft erst erzeugt, ohne das die Gemeinschaft gar nicht vorhanden ist. Damit ist das Schwergewicht vom Erlebnisinhalt ganz auf den Erlebnisakt gerückt. Der Inhalt verliert seinen selbständigen, vom Erlebnis unabhängigen Bestand und wird zur Funktion des Erlebnisses, das ihn erst aus sich produziert. Seine Gesetzmäßigkeit ist nicht mehr eine objektive, auch für das Individuum gültige, sondern die subjektive des erlebenden Individuums. Diesem Erlebnis liegt der Glaube an das schöpferische Individuum zugrunde, aus dessen lebendiger Bewegtheit die Inhalte hervorgehen; es ist der Erlebnisbegriff des Individualismus mit seinem Ideal der Lebensunmittelbarkeit, des Lebens aus der Innerlichkeit, von innen, nicht von außen her. In ihm drückt sich das beste und reinste Wollen des modernen Menschen aus; das muß anerkannt werden, auch wenn diesem Wollen kein ebenso starkes Können entspricht. Er erfüllt ebenso die Simmelsche Philosophie wie die 'Blätter zur Pflege des persönlichen Lebens' von Johannes Müller, ebenso die Meißner Formel der Jugendbewegung, wie das künstlerische Wollen der Expressionisten. Er spielt auch in den neueren Bestrebungen der Pädagogik eine beherrschende Rolle, denn er ist das Prinzip der Arbeitsschule, der Erziehung zur schöpferischen Spontaneität, der Gesinnungserziehung. Durch ihn ist das Bildungsideal der Fähigkeit zum verstehenden Erlebnis aller Kulturinhalte bestimmt." (242)

Wenn nun auch eine in bewußter Naivität erlebte Gemeinschaft möglich geworden ist, darf angezweifelt werden, ob das noch zur Klärung beigetragen hat. Überhaupt ist zu fragen, ob der Gegensatz zwischen Naivität und Erlebnis nun noch besteht? Herrigel schreibt: "Der Gegensatz zwische Naivität und Erlebnis ist klarer bestimmt mit Hilfe dieser Unterscheidungen" (245)! Der unabhängige und "objektiv, gültige Bestand" des Inhalts scheint für Herrigel das Wichtigste zu sein; diesen versucht er vor dem "schöpferischen Individuum" zu retten (vgl. Kap. 5.5.). Es ist daran zu erinnern, daß in der Meißnerformel von "Lebensgestaltung" und "eigener Verantwortung" die Rede ist. Die Gelegenheit wird genutzt sich einmal mehr gegen den "Individualismus" auszusprechen: was nützt "das beste und reinste Wollen" wenn ihm kein Können entspricht!

Im folgenden liegen noch zwei Antworten auf die Herausforderungen Pichts vor: "Wie gegen das formale objektive Erlebnis, so waren meine Ausführungen auch gegen das schöpferische Erlebnis als Grundlage der Volksbildung - und beide sind mehr Grundlage der intensiven als der extensiven Volksbildung - gerichtet (! WB). ... Für dieses Erlebnis, nicht für das naivobjektive, das vielmehr nur in einer geschlossenen Kulturwelt denkbar ist, besteht die Gefahr des rousseauischen Neo-Barbarismus, der romantischen Begeisterung für das primitive, vor aller Form stehende, ebenso aber auch die Gefahr des Erlebens um jeden Preis, der Originalitätssucht und Erlebniszüchtung, wie sie das heutige Kunstgewerbe, und dieses nicht allein, zeigt." (244)

Herrigel fordert abschließend "... das grenzenlos gewordene Ich des modernen Menschen, das unverlierbar ist und hinter das wir nicht mehr einfach zurücktreten können, wieder festen Maßstäben zu unterwerfen und dadurch einzudämmen. ... Maßstab kann uns das Mittelalter sein, ideal mit der Forderung der Verwirklichung niemals." "Der Maßstab ist objektiv, das Ideal subjektiv." (246)

Wiederum in der Zeit weit vorgreifend, sollen an Werner Pichts Denken (1931), teils eine gewisse Nähe, als auch deutliche Unterschiede zu Herrigel aufgezeigt werden, ohne einen direkten Einfluss zu behaupten.

Picht, für den Erwachsenenbildung eine "Anomalie", weil "Antwort auf eine Krankheit" (294) ist, stellt rückblickend fest, daß die Volksbildungsbewegung ihre Ziele nicht erreicht hat. Dennoch war sie die einzige Möglichkeit des Bildungswesens auf die Probleme der Zeit zu reagieren. Bei der Beurteilung des Zivilisationsprozesses "scheiden sich die kritischen Betrachter der Zeit in solche, die sich mit romantischer Unbedingtheit eine summarische Ablehnung der heutigen Gegebenheiten ... gestatten, und die anderen - und auf deren Ethos ruht das geforderte Volksbildungswerk -, die ... den Sprung in den Strom nicht scheuen ... weil nicht aus der Ablehnung, sondern nur aus der Erfüllung eines Schicksals seine Überwindung folgen kann." (305)

Der letztere, der "neue Pädagoge" gehe individualisierend vor aber "doch in einem durchaus anderen als dem individualistischen Sinne der idealistisch-akademischen Bildungswelt, in der als letztes Ziel die Ausbildung der Einzelpersönlichkeit galt. 'Der Mensch ist kein Kunstwerk und soll kein Kunstwerk sein' (Scheler)." (304)

Es ist, den Formalismusstreit überschreitend, für Picht nun eine "fundamentale Tatsache" und eine "Grundfrage der Bildung überhaupt, (daß) ... weder formalen noch stofflichen Einwirkungen an sich irgendwelche entscheidende Bildungskraft innewohnt." "Der Bildungsakt ist ein schöpferisches Mysterium, eine Empfängnis, die den lebendigen Keim wie die bereite Stunde voraussetzt. Ein Wunder des Lebens." (298)


Wilhelm Flitner: Laienbildung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Im Rückblick beschreibt Wilhelm Flitner 1979 ein Kriegserlebnis. Mit seinem Lehrer Herman Nohl habe er die Kultur und Handwerkskunst der Vlamen kennengelernt, die er bewunderte, weil die einfachen Leute "ihre Sprache liebten, ihre Geschichte kannten, an ihrem religiösen Kultus festhielten und zugleich einem aufgeklärten Humanismus anhingen." Er bemerkt: "Wir fragten uns, warum es in Deutschland so anders sei." "Sprache, Gedankenkreis, Geschichtsbewußtsein, politische Grundsätze gingen völlig auseinander. Nohl meinte, das dürfe so nicht bleiben." (In: Ders. 1982, S. 321f).

In den "Erinnerungen" (1986, S. 260f) schreibt Flitner: "Schon in den Kriegsgesprächen kamen wir zu dem Schluß: wer die geistige Basis eines neuen demokratischen Staates bedachte, mußte langfristig auf eine Reform des Bildungswesens, kurzfristig aber auf augenblickliche Vertiefung der Erwachsenenbildung in allen Volksschichten dringen."

Flitner war nach dem Krieg Leiter der Volkshochschule Jena und gehörte zur "Thüringer Richtung", die eine Auslese von Teilnehmern an Volkshochschulkursen ablehnte. Er war an der Gründung des Hohenrodter Bundes beteiligt und bei allen Wochen anwesend.

Flitner bemerkt weiter, daß er auf zwei Schriften, "mit paradoxen Thesen" reagieren wollte: Gegenüber der Zeitkritik von R. Benz "mußte ich zugeben, daß die Kluft zwischen den Bildungsschichten (denen mit und ohne Latein) wirklich bestand und ungut war. Der andere Angriff auf unser Kulturbewußtsein ging von Hermann Herrigel aus" (274f). "... beide Thesen ... waren geeignet unsere Arbeit lamzulegen" (275).

Daraufhin legt Flitner 1921 die vielbeachtete Schrift mit dem Titel "Laienbildung" vor, mit der er klären will, was im "allerwesentlichsten und umfassendsten Sinne" unter Volksbildung zu denken ist (29). "Der Sachverhalt 'Volksbildung' bedeutet das Enthaltensein eines geistigen Lebens in dem werktätigen und gemeinen drin." "... indem du deine Plichten erfüllst kannst du ohne Mühsal Bürger dieser Sphäre werden." (29f)

Flitner konstatiert: wenn es sich so Verhalte, "dann haben wir unserer Zeit ... Volksbildung abzusprechen" (30). Ein "Einsiedlerorden" von, "bildlich gesprochen", "Priestern" sei gebildet und deren Bildungsbegriff sorge noch dafür, daß der letzte Rest edlen Laiengutes "verfemt" sei (33).

Den einzigen Ausweg sieht Flitner in einer "gewaltigen Erscheinung unserer Tage", einer Wandlung (hier macht er sich die allseits anerkannte "Kulturkrise" zu nutze), die dazu führt, "daß die priesterlich ... geschulte Schicht ihre eigene Struktur irgendwie auflöst" und ein neuer Aufbau der priesterlichen Bildung entstünde, der mit der Laienwelt ein gemeinsames geitiges Fundament" (33) haben würde. "Alsdann ist ... der Volksbildungsbewegung ein neuer Begriff von Laienbildung vorauszudenken" (33). "Zu einer Volksbildung ... gehört die leichte, beinahe absichtslos im Leben selbst entspringende Tradition."(30)

Ein "gehaltvolles Geistleben kommt über ein Volk entweder aus der Kunst oder der Religion. Die Religion ist "abgestorben" und wird von Flitner sogleich ausgeschlossen.

Mit Bezug auf Schillers Briefe "Über die Ästhetische Erziehung des Menschen" beschreibt Flitner Kunst "als Lebenspraxis ... die ... unser Sinnendasein geistig macht". Kunst "ist aufgefasst worden als das Absolute, was uns im Endlichen begegnet, aus ihm rettet" (34). Diese "tiefen Einsichten" der Generation von 1790 - 1810 seien im industriellen Jahrhundert nicht lebenspraktisch geworden (34), denn die "ganze Struktur der Bildung" des 19 Jhd. war "solchem Schritt ins Leben ganz fremd" (49). Wie dies heute möglich sein soll, will er im folgenden an Musik und Dichtung zeigen. "Unmittelbar Musik - überhaupt angewandte Kunst vertreibt das rohe bloß leibhafte Dasein eines augenblicklichen Gefühls und gestaltet einen dumpfen Winkel unseres Daseins in einer dann denkwürdigen Form." (37)

Das Bild vom Sauerteig erscheint, wenn Flitner vom "Führer zur Musik" spricht, der in seiner "Schar" zur "chorischen" Kunst führt. Die Kunst "muß Gemeinschaftskunst sein. Im Chor wird jeder Mensch produktiv" (39). Aber: "Eine neue Laiengeistigkeit auf musikalischem Gebiete läßt sich durch künstlerische Maßnahmen nicht erreichen", erst muß "die Wandlung sich vollziehen" (40). In der pädagogischen Gemeinschaft entstehen "Lebenslagen eines neuen Menschen und seiner neuen Bildung. ... im Erlernen musikalischen Könnens zugleich ein Gemeinschaftsleben höchster Art zu sein ... das ist das Höchste was sich pädagogisch überhaupt erreichen läßt."(40)

Hier soll eine Tradition, die zum Teil im Volk vorhanden ist durch einen "Könner", einem Menschen, "der total genug ist, um Menschen führen zu können," bewahrt und bestärkt werden (41). "Es fehlt noch die ungewollt sich verbreitende Schulung der Begabten und die Aufnahme der Schöpferischen; erst dieser Vorgang wäre die Geburt einer neuen Bildung: daß die Schöpferischen wieder in solchen Gemeinschaften Volk werden." (42)

"Volksbildung und priesterliche Bildung" sollen in "gesunder Verwachsung miteinander stehen". Das sei "der einzige Weg" nicht nur Einzelmenschen zu erreichen, sondern eine neue "volksmäßige und umfassende Bildung" zu schaffen (43).

Auch bei Sprache und Dichtung liegt das Problem für Flitner bei den Gebildeten: "... von der Sprache der Gebildeten wir es abhängen, ob die Sprache ein unmittelbar geistiges Leben aus erster Hand im Volk je wieder haben wird. Ob die Gebildeten selbst einfacher, ruhiger Seele voll werden, daß die hohe Qualität der Volkssprache ihnen Natur wird." (45) "... im Volk (lebt) allüberall dichterische Kraft ohnegleichen, die sich nur meist nicht mehr offen äußert. Verschämt, wie die musikalische Neigung, führt sie ein verborgenes Leben, und wird von der Verbildung ergriffen, wenn sie zu äußerer Nachahmung des Gebildetenideals fortgeht" (47).

Die Pädagogik muß auf "bildnerischem Gebiet abermals die Neugeburt in der Gesinnung voraussetzen ... die Künstler (müßten) wieder Volk werden." (57)

Flitner hat nun ein "utopisches Bild" der Laiengeistigkeit entwickelt und verweist auf die "laienfeindliche Geistigkeit" bei Humboldt und dessen Ideal des humanistischen Menschen: "Das Grundproblem Humboldts ist die Bildung des Einzelmenschen zur allgemeinmenschlichen Totalität ... wie Gott, 'total' zu werden." (60f) "Das metaphysische Gefühl, das die Kunst uns gibt, ist geradezu dieses Totalgefühl". "Wir können nicht Gott sein, aber wie Gott können wir, in notwendiger gesetzmäßiger Illusion sein." (62)

Aber, so Flitner, "der laienfeindliche Bau" des Humboldtschen Bildungsideals "verbirgt sich nicht".Es gibt "eine soziale Schranke des "humanistischen Bildungsideals". Es bevorzugt die "kontemplative Menschenart vor der tätigpraktischen" und neigt zu einer "einseitigen Vorherrschaft des wissenschaftlichen Tuns im geistigen Leben. Und beide Züge müssen es einer Laiengeistigkeit vollends fremd machen" (63f). "... da kam die gottverlassene Haltung der Nur-Wissenschaftlichkeit ..., die wir als den toten Punkt der neueren Bildung bezeichnen müssen." (76f)

Die Entwicklung des Bildungswesens habe zu einer wissenschaftlichen Schulung geführt, die "uns seelisch leer gelassen" hat. "Heute zeigt das Bildungswesen eine im guten Falle lebendige Wissenschaft und eine tote Kunst." Schließlich entstehe ein "Zweifel, ob Wissenschaft nicht überhaupt kulturzerstörerisch wirke." (66f) "So heißt es unter uns: der heutige Wissenschaftsbegriff hat das mythische Denken und Schauen zerstört. ... Was liegt uns näher als den Kulturabstieg ... in Verbindung zu bringen mit der Entstehung der neuen Wissenschaft? Und so heißt es, die Trennung von Glauben und Wissen, die Zerstörung der Einheit von Schauen und Denken müsse die Bruchstelle sein für die unselige Entwicklung. Die kulturschöpferische Naivität glaubt man sichtlich durch zunehmende Helle des Bewußtseins ... schwinden zu sehen. Es kommen dann Stimmungen der Resignation zustande, wie in dem Spenglerschen Buch" (67f; Hervorhebung von mir. WB).

Flitner entgegnet: "Es gibt heute niemanden, der ernstlich Naivität da am Leben erhalten will wo sie sterblich ist und wo Wissenschaft eine höhere Leistung im Leben zu vollbringen hat. Diese Leistung liegt in der dauernden Verbesserung unserer Arbeitsorganisation durch die Überwindung des Zauberglaubens. ... Niemand bedauert den Schwund jener trostlosen Naivität, ... die Rotäugige als Hexe verbrennt ... Wenn wir die schöpferische Naivität eines Kindes, eines Berghirten, eines Künstlers bewundern, dann meinen wir ... die Ruhe der Seele, ... die Ursprünglichkeit der Anschauung, die einfache Deutlichkeit des Erlebens" (69f).

Flitner beschreibt einen "geistesgeschichtlichen Prozess" vom "Dämonenglauben" über die Wissenschaft bis in eine Zukunft, die uns "noch verborgen" bleibe: "aber wir sehen unser Weltgefühl aus einer nur individualistischen Haltung schon wieder herauswachsen, sich vorbereiten auf ein gemeinschaftsgebundenes Leben." (71) "Aus der Naivität des Kindes und Berghirten ist die ewig gültige Naivität des Künstlers geworden. ... Es ist ein irregeleiteter und unsittlicher Wunsch, der Menschheit ihr Storchenmärchen dafür erhalten zu wollen. ... ein gewisses wissenschaftliches Ethos (ist) Bestandteil unserer Volksbildung geworden" (72f).

In den abschließenden Gedanken versichert Flitner, daß es einen Weg gibt den Pflichten der Arbeit zu genügen und "doch den Menschen in uns zu retten", obwohl die "Organisation der Arbeit uns ... einspannt und zur Maschine machen möchte" (77). "Der Gebildete im neuen Sinne wird laiengeistig sein." "Eine solche Vereinigung von Vernunfthelle und gemeinschaftsgebundener Geistigkeit, so unerhört diese Verbindung uns noch ist, sie allein könnte die seelische Verfassung abgeben, um eine vernunftge-staltete soziale Ordnung und Wirtschaft ... möglich zu machen. Sie zeichnet den Bildungsbegriff eines solidarischen, einfachen, arbeitstüchtigen Volkes. ... Und sie ist zugleich der Bildungsbegriff eines natürlichen weltfrommen und überweltlichen Daseins, das heutiger Wirrnis und Entseelung genesen ist." (78)

In einem Absatz am Ende der Schrift (80) bemerkt Flitner, daß er mit der "Laienbildung" auf Herrigels Arbeit von 1919 Bezug genommen habe.

Flitners Laienbildung ist viel besprochen und kritisiert worden. W. Hofmann (1921) schreibt im Volksbildungsarchiv, sie gehöre zu dem "Schönsten" aber auch zu dem Erschütterndsten", was zur Volksbildung jemals geschrieben wurde (351f). In den "verstädtischten Landschaften Mittel- und Westeuropas" sei Laienbildung, wie Flitner sie verstehe nicht möglich, entgegnet Hofmann, und er schildert die reale Situation der Arbeiter in den düstersten Farben (354). "Diese Lebensform der Mechanisierung aber ist über uns verhängt, weil wir ohne Gott sind." (355) Hofmann verweist auf "Arbeitsteilung und Taylorsystem", die den Menschen zu einem Teil der Maschine, zur "seelenlosen Maschine" machen. Er schreibt: "Ein Volk, das sich zu Gott zurückgefunden hat, wird diesem Weltungeheuer den Kampf ansagen. ... Und wenn der Mensch in seiner Arbeit, in seinem werktätigen und wirklichen Leben, wieder die gestaltenden Kräfte seiner Seele üben kann, dann wird er auch wieder fähig zur Selbstgestaltung, zur 'Bildung' sein." (356)

Abschließend bemerkt Hofmann, daß "die Volksbildungsbewegung unserer Tage überhaupt kaum mehr leisten" kann, als mit den pädagogischen Gemeinschaften "grüne Inseln" zu schaffen (360).

E. Rosenstock (1921) ergänzt in der gleichen Ausgabe des Volksbildungsarchivs: "Politisch muß die Bildung sein" (384). Ohne Politik und Religion müsse Flitners Laienbildung "Betäubung bleiben" (383): "Es ist merkwürdig, daß Flitner diesen Wehschrei des sterbenden Lebens nicht vernommen hat, den Schrei nach Politik! Denn was wäre Politik anderes als der Naturlaut der Menschenseele, die im Lebenskampf geistige Hilfsmittel sucht? Und damit sind wir bei dem Zusammenhang von Politik und Religion." (385)"Alle Offenbarung Gottes an die Menschen kennt nur diese zwei Wege: den der Notwendigkeit, das ist der Weg der Politik, des Zeitgeistes, und den der Liebe, der Freiheit, des ewigen Geistes." (387)

Rosenstocks "Schrei nach Politik" (385) bleibt jedoch stumm, er wird nicht inhaltlich, praktisch gefüllt. Der Demokratiebegriff kommt auch bei ihm nicht vor.

Obwohl bei Flitner die religiöse Bindung unverkennbar ist, müssen diese beiden Vorwürfe um so schwerer wiegen, als er im "allerwesentlichsten und umfassendsten Sinne" klären wollte, was unter Volksbildung zu denken ist. "Wenn uns einer sagen will," was Volksbildung in eben diesem Sinne "eigentlich sei, so müssen wir ihm genau auf die Finger sehen." Dieser Satz stammt von Hermann Herrigel, der in der Zeitschrift "Die Arbeitsgemeinschaft" (1922/23, S. 10) auf die Laienbildung antwortet: Diese Theorie, die "der thüringischen Volkshochschulbewegung zugrunde liegt ... erfordert eine grundsätzliche Kritik und berechtigt um so mehr dazu, da sie ausdrücklich den Anspruch erhebt, auch einen Beitrag zur wissenschaftlichen Pädagogik zu geben." (10)

Von "tiefer Bedeutung" für den Begriff der Laienbildung sei es, daß die Religion aus der Betrachtung ausscheidet, denn es "ist nicht zufällig, daß Flitner nur im Bereich der Künste zu zeigen vermag, wie er sich den Zustand der Laiengeistigkeit denkt." Hier zeige sich schon deren "rein ästhetische(r) Charakter" (11f). Die Einheit von Kunst und Leben habe "sehr viel verlockendes und damit auch Überzeugendes" in sich, aber es scheint, so Herrigel, daß Flitner "seinem eigenen Wunsch erlegen ist" (12). "Ist diese Einheit das Verdienst eines schöpferischen Volkes," fragt Herrigel, "oder setzt sie nicht doch eine reine, priesterliche Kunst voraus, freilich in anderem Sinne als bei Flitner? Hat es im ersten Fall überhaupt einen Sinn, von Bildung zu sprechen, da Bildung doch jedenfalls etwas ist, was nicht 'von selber' da ist oder entsteht? Schließt Volksbildung nicht notwendig einen Gegensatz ein zwischen Leben auf der einen Seite und Tradition, Autorität, 'Priesterbildung' auf der anderen Seite?" (13)

Herrigel beschreibt den Flitnerschen Gedankengang: "Laienbildung schließt die priesterschaftliche Bildung nicht aus, aber sie ist ihr gegenüber Primär, denn eine priesterschaftliche Bildung soll sich nur aus der Laienmäßigen Einheit heraus entwickeln. Das Entscheidende dabei ist, daß beide ... in lebendiger Wechselwirkung miteinander stehen." (11)

Und er kommentiert: "Allein auch hier erweist sich wieder, daß Wechselwirkungstheorien tatsächlich immer einseitig betont sind." (11) Das Schwergewicht läge auf der Laienbildung.

Die Beziehung zwischen Laienbildung und priesterlicher Bildung sei "n u r e i n e s e e l i s c h e, zwischen den Laien und Priestern liegende ..., n i c h t e i n e s a c h l i c h e zwischen den Bildungsinhalten" (13). Das komme auch darin zum Ausdruck, daß es für Flitner "nur eine Frage der Gesinnungsänderung" sei, diese Beziehung wieder herzustellen (14). Flitners Ziel zu erreichen sei aber "nicht mehr eine Frage bloß seelischer, sondern objektiver Ordnung." Die Frage nach den Inhalten werde, auch bei der erhofften Änderung der Wissenschaft, gar nicht gestellt. Herrigel sieht darin "ganz deutlich die idealistisch-individualistische Ideologie vom schöpferischen Menschen als die Grundlage des Gedankens der Laienbildung. Das ganze Problem ist ins Bereich des Subjektiven, des Erlebens verschoben. Damit wird aber notwendig sein Kern verfehlt." (14)

Es handele sich hier nicht um eine "ethische Frage, die mit der Berufung auf die 'Freiheit auf höherer Stufe' erledigt ist sondern um eine religiöse Frage, die erst da beginnt, wo der freie schöpferische Wille zu Ende" sei. "... wo der Seele Objektives gegenübersteht, hört ihre subjektive Freiheit auf. Dem Objektiven sind wir unterworfen. Hier beginnt die Sphäre des religiösen Menschen." (14)

Da Flitner die Wissenschaft nicht völlig ablehnt hält Herrigel ihm folgende Frage entgegen: "(Ist) eine 'Vereinigung von Vernunfthelle und gemeinschaftsgebundener Geistigkeit' ... nicht bloß eine theoretische Konstruktion, durch die zwei Dinge verbunden werden, die sich in der Wirklichkeit ausschließen? Mit dieser Frage wird der Begriff der Laienbildung überhaupt, d. h. der 'Volksbildung in ihrem allerwesentlichsten und umfassensten Sinne' problematisch." (15) "Müssen wir nicht auf Volksbildung im Sinne einer laiengeistigen Einheit von Volk und Bildung verzichten, wenn wir an der Wissenschaft festhalten? Schließt überhaupt Volksbildung nicht an sich schon einen Widerspruch ein? (16)

In den folgenden Gedankengängen scheinen sich bei Herrigel neue Einsichten anzukündigen, die aber, daß ist zu beachten, gegen "Flitner als Heide" (Rosenstock 1921) gerichtet sind und durch einige überspitzte Formulierungen und die bekannten Gegensätze wieder zurückgenommen werden. "Laiengeistigkeit im strengen Sinne einer vollkommenen Einheit von geistigem und werktätigem Leben ist nur möglich in einer Gemeinschaft, die noch vor der Individualisierung steht. Nur in einer solchen Gemeinschaft kann das Denken aller ganz konform sein, so daß sich keiner vom gemeinsamen Boden entfernt." (16; Hervorhebung von mir. WB.)

In einer solche Gemeinschaft sei der "Unterschied" zwischen Laien und Priestern nur ein "gradueller", so Herrigel. Wenn der "Bann der Einheit gebrochen" werde, gehe dieser Unterschied in einen "absoluten Gegensatz" über (16). "Die 'gemeinschaftsgebundene Geistigkeit' bleibt notwendig auf der Stufe der primitiven Gemeinschaftkultur (Hans Naumann) stehen, das heißt, bei einem mythischen Denken." (16)

Wenn ein einzelner den "Weg der Bildung" betrete, dann verlasse er den "Boden der Gemeinschaft" und erhebe sich "in seinem Denken über seine Genossen" (16f). Und dann entstehe eine geistige Welt, die "Selbstzweck ist und nicht mehr durch die Möglichkeit der Anwendung begrenzt bleibt. Damit entsteht die Problematik des Subjektiven und Objektiven; der Übergang von dem Selbstzweck gewordenen Denken, von der Bildungswelt, zum praktischen Leben ergibt sich nicht mehr 'von selber', sondern er wird ... problematisch. Aber nur um diesen Preis werden die großen geistigen Schöpfungen erkauft." (17)

Laiengeistigkeit dulde kein "selbständiges Eigenleben des Geistes", sie sei "konkret, substantiell" - demgegenüber sei die "Geistigkeit der Bildung ... spiritualistisch ..., ihr Ziel ist das Geistige als Selbstzweck." (17) "Da diese beiden Richtungen des Geistigen sich ausschließen, ist Volksbildung in dem Sinne, daß die Spaltung zwischen Volk und Bildung aufgehoben ist, unmöglich. Der Gedanke der Laienbildung ist daher heute tatsächlich eine romantische Utopie, denn seine Verwirklichung hängt nicht bloß von einer Gesinnungswandlung ab. Nachdem der Weg der Bildung einmal beschritten ist, ist eine Rückkehr zu einer laiengeistigen Gebundenheit nicht mehr möglich." (! WB.) "... das Bildungsdenken steht, nachdem die Einheit des rein gegenstandsbezogenen Denkens verlassen ist, vor der Problematik des Subjektiven und Objektiven: was ist an der Bildungswelt objektive Wirklichkeit, und was ist an ihr nur subjektives Gebilde?" (17f; Hervorhebung von mir. WB.)

Abschließend geht Herrigel noch auf die "pädagogischen Gemeinschaften" ein: ... wir (dürfen) annehmen, daß wir in (diesem) Begriff ... die Theorie vor uns haben, die den 'Festen' der Thüringer Volkshochschulbewegung entspricht, Denn nur diese Feste, nicht aber die Arbeitsgemeinschaften erfüllen die Forderungen Flitners. Das bestätigt wieder den ausschließlich ästhetischen Charakter des Begriffes der Laienbildung. Sobald man sich die pädagogische Gemeinschaft in den sachlichen Unterricht übertragen denkt, verschwindet das Wesentliche daran." (18)

Eine "'chorisch angewandte' Wissenschaft" sei dort nicht vorstellbar (18).

Wir machen nun einen "Zeitsprung" - gerechtfertigt durch die Sonderrolle Sternbergs. Die im folgenden dargestellte Diskussion liegt ca. ein Jahr vor der "Laienbildung". Auf Flitner gehen wir später noch ein.

Kurt Sternberg: "Wir fangen mit dem Denken an"![Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Kurt Sternberg nimmt innerhalb der Diskussion um Herrigels Herausforderung eine Sonderstellung ein, da er erstens kein direkter Vertreter der Neuen Richtung, kein Volksbildner ist und zweitens eine andere Zugangsweise wählt: Die "Erkenntnistheorie ... ist der Boden, ... von dem aus letztlich allein der Streit um die Volksbildung entschieden werden kann." (227) Sein Beitrag "'Wir fangen mit dem Denken an'!" (zitiert wird Hermann Cohen) im Volksbildungsarchiv (1920) ist untertitelt mit "Eine Auseinandersetzung mit dem neuesten Pessimismus in der Volksbildungsfrage"; gemeint ist, neben Herrigel auch Walter Hofmann, deren "gemeinsame Grundanschauungen" von Sternberg betont werden.

Wie Picht räumt auch Sternberg ein, daß es, nach dem unglaublichen Aufschwung der Volksbildungsbewegung, sinnvoll sein kann, allzu hohe Erwartungen durch Kritik zu dämpfen, damit "man sich dem Überschwang nicht zu sehr hingibt und von vornherein der Grenzen bewußt bleibt, welche aller Arbeit an der Erziehung der Masse mit Notwendigkeit gesteckt sind". Doch Herrigels und Hofmanns Pessimismus gehe zu weit, "er wendet sich gegen das Prinzip der ganzen Bewegung selbst, er sucht sie in ihrem innersten Kern und Sein zu treffen" (226). Um sich mit diesem Pessimismus auseinanderzusetzen, müsse davon ausgegangen werden, "daß alle Volksbildung die Erkenntnis - in weitestem Umfang - wecken und vertiefen will". "Die Frage nach Wesen und Wert dieser (der Volksbildung. WB) gründet sich auf die nach Wesen und Wert der Erkenntnis" (227). Die folgende Argumentation führt, ausgehend von der Erkenntnis als Thema der Volksbildung, vom Gebiet der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie, da deren Gegenstandsbereiche, hier Wissenschaft, Kunst und Moral dort Logik, Ästhetik und Ethik deckungsgleich seien.

Damit kennzeichnet Sternberg den starken Pessimismus von Herrigel und Hofmann als Folge ihrer "prinzipiellen kulturphilosophischen Einstellung", und diese soll nun bei Herrigel untersucht werden. "Kultur setzt Gemeinschaft voraus; diese ist aber nach Herrigel ... nur da möglich, wo Naivität ... vorhanden ist. Eine genaue Bestimmung des Naivitätsbegriffs wird uns freilich nicht gegeben; aber logische Klarheit ist ja nie bei jener romantisierenden Richtung anzutreffen, der Herrigel zugehört." (228)

Nach dieser Polemik wird ein uns bekannter Absatz zitiert, der die Gegensätze Erlebnis und Naivität, Individuum und überindividuelle gemeinschaftsbildende Norm beschreibt, woraufhin Sternberg zu dem eindeutigen Urteil kommt: "Dies ist das Entscheidende: es handelt sich um den Unterschied von Freiheit und Autorität, von Autonomie und Heteronomie, Selbst- und Fremdgesetzgebung."

Sternberg macht Herrigel als Teil einer neoromantisch- kulturphilosophischen Richtung aus, deren besonnenere Vertreter, er nennt Keyserling und Troeltsch, zwar im Mittelalter ein gewisses Ideal sähen aber eindeutiger als Herrigel wüßten, daß es kein zurück gäbe. "Wohl möchten wir ein größeres Quantum von Naivität ... wiedergewinnen, aber nicht unter Preisgabe der geistigen Selbständigkeit, der kritischen Besonnenheit. Eben dies trennt uns vom Mittelalter." (229)

Als Vorbild dient Sternberg die "klassische() Epoche deutscher Philosophie und Dichtung" mit ihren Vertretern Schiller, Goethe und vor allem Kant, in der "die Verbindung von naiver Gläubigkeit mit geistiger Freiheit und Selbstgesetzgebung" gelungen sei (230). Diese "Synthese" sei heute allerdings erschwert, weniger durch "Rationalismus und Kritik", als durch die geschichtliche Erkenntnis, die der Aufschwung des Historismus mit sich gebracht habe. "Die Freiheit, die Autonomie ist die Idee welche die Entwicklung der gesamten europäischen Kultur seit ihrem Eintritt in die Neuzeit beherrscht", und diese darf nicht aufgegeben werden, wobei wir uns "auf allen Kulturgebieten in sukzessiver Annäherung an das Ideal" befänden. Nun stellt sich aber die Frage, ob Freiheit nicht Anarchie bedeute. Dies sei die Frage, "die Herrigel und alle die, welche gegen die freiheitliche Entwicklung des europäischen Geistes ... Sturm laufen", positiv beantworten. Sternberg will den Begriff "Autonomie" verdeutlichen und entgegnet: "Freiheit ist nicht dasselbe wie Willkür, Gesetzlosigkeit; dem kritischen Begriff der Freiheit als dem der Selbstgesetzgebung ist der Begriff der Gesetzlichkeit immanent." (230f)

Mit einem Exkurs ins klassische Griechenland beantwortet Sternberg die Frage nach dem "Quell der Autonomie": Die Vernunft wurde als überindividuelles Prinzip im Individuum selbst von Sokrates entdeckt, der somit dem "Reiche subjektiver Willkür ein Reich objektiver und doch nicht heteronomer Gesetzlichkeit" gegenüberstellen konnte. Damit kann Sternberg schlußfolgern: "Wird aber die Vernunft als der Inbegriff, als der Quell der Gesetzlichkeit erfasst, so tritt ihre objektivierende, gemeinschaftsbildende Funktion klar zutage. Nach Herrigel kommt eine solche Funktion ausschließlich der Religion zu." "Gewiß: ein gemeinsamer Ideenbestand ist die Bedingung für jedwede Gemeinschaft ... Allein solche gemeinsamen Ideen brauchen nicht notwendig heteronomischer Natur zu sein; sie können in der autonomen Vernunft wurzeln" (231).

Hatten sich bei Herrigel individuelle Willkür und autoritative Fesselung als "vollendeter Gegensatz" entgegengestanden, so kann jetzt gesagt werden: "Das 'Selbst' begründet die Beziehung zu der Ungebundenheit des Erlebnisses; das Moment der 'Gesetzgebung' schafft eine Übereinstimmung mit der Gebundenheit des Naiven. So überwindet die ungebunden-gebundene, in voller Freiheit und trotzdem gesetzlich sich auswirkende Vernunft den Gegensatz von Erlebnis und Naivität, indem sie ihn in einer höheren Einheit aufhebt; sie vereinigt das Reich des freien Erlebnisses und das der gesetzunterworfenen Naivität in und zu einem 'dritten Reich' freier Gesetzlichkeit." (232)

Dieses "dritte Reich" soll die Rettung bringen, denn auch Sternberg sieht, daß "Subjektivismus und Individualismus sich in einer Weise breit machen, die den Bestand unserer gesamten Kultur überhaupt ernstlich gefährdet." Eine Ursache ist für Sternberg, daß die Vernunft mißbraucht werden kann, "wenn der Mensch sie einzig in den Dienst seiner sinnlichen Triebe und Leidenschaften stellt" (233). Sternbergs Lösungsversuch lautet (ganz Kantianisch und hinter Schiller zurückfallend): "... objektivierend und gemeinschaftsbildend vermag sie (die Vernunft. WB) allein da zu wirken, wo sie zur Herrschaft gelangt, wo sie in voller Unabhängigkeit von aller subjektiven Sinnlichkeit ihren eigenen Gesetzen folgt" (233).

Es kommt für Sternberg darauf an, "ob wir den Eingang in dieses dritte Reich finden". "Und gerade in dieser Hinsicht berechtigt die gegenwärtige Volksbildungsbewegung zu den schönsten Hoffnungen" (233). Anders als bei Herrigel, Flitner und Rosenstock erhält Wissenschaft nun den zentralen Stellenwert. Die "wissenschaftliche Erziehung" (236) bedeute für das Volk Einführung "in seine Freiheit, die doch zugleich strengste Bindung bedeutet," kurz: Autonomie (234). "Nicht isolierte, überhaupt weniger Tatsachen sondern die wissenschaftliche Gesinnung soll - und wird hoffentlich auch in den neugegründeten Volkshochschulen - dem Volk eingepflanzt werden. Dann wird es sich bewußt werden, daß der Bruch mit den äußeren Autoritäten, wie ihn die Wissenschaft freilich vollzogen hat, zu etwas anderem verpflichtet: nämlich zu jener im wissenschaftlichen Leben waltenden eisernen inneren Selbstdisziplin, die keiner äußeren auch nur im geringsten nachsteht. Eine moralische Wirkung ist es sonach, die durch die in diesem Sinn verstandene wissenschaftliche Bildung erreicht werden soll." (234f)

Es komme "auf den Erwerb der allgemeinen wissenschaftlichen Geisteshaltung an. Nicht so sehr der Inhalt, die Form der Wissenschaft ist das Entscheidende!" (236) Damit gibt sich Sternberg das Stichwort für eine Auseinandersetzung mit dem Thema Formalismus: Herrigel hatte gesagt: "Die Formalisierung hat zur Folge, daß alles Gegenständliche, alle konkrete Begrenztheit niedergerissen werden". Sternberg kontert: "Das Gegenteil ist der Fall." (236) Erst durch die Form werde der Inhalt begrenzt, erst durch die Begrenzung gegenständlich. Hatte Herrigel gegen ein "transzendental methodisches" und für ein "materiales Grundgesetz" votiert, so widerspricht Sternberg: ein "materiales Grundgesetz" sei ein innerer Widerspruch. Gesetze bestimmen den Inhalt, sind "aber niemals selbst material".(237) Ebenso werden Herrigels Kritik am "kategorischen Imperativ" und die damit verbundenen Exkurse in die Erkenntnistheorie einer Prüfung unterzogen. Herrigels Position enthalte "jenes bekannte ... subjektivistische Mißverständnis Kants und seines 'Transzendentalen'": "Wenn das 'Transzendentale', das Formale, als bloße subjektive Zutat zu dem Inhalt verstanden wird, dann bedeutet der Formalismus freilich Subjektivismus, subjektivistische Zerspaltung und Zersplitterung und damit Auflösung und Vernichtung. Das Formale im Kantisch-kritischen Sinne ist aber keineswegs das Subjektive. Zwar ist es auch nicht das Objektive, wohl aber das Objektivierende" (237).

Hier ist, gegenüber der dualistischen Zugangsweise Herrigels, deutlich die dialektische Sternbergs erkennbar: "... die Parole kann nur lauten: Form u n d Inhalt." (237) So bricht eine richtig verstandene formale Bildung den Kontakt zum Inhalt nie ab. Zwischen Form und Inhalt besteht ein "Spannungsverhältnis" und damit "wird die Bildung problematisch, genau so problematisch wie die Kultur selbst" (239). Mit Bezug auf Simmel, Hegel und Plato betont Sternberg den positiven Wert der Gegensätze, die zu neuer Form finden, die aber "stets bloß relativ" ist und so die Kulturentwicklung vorantreiben. Damit kann "alle Kultur als eine unendliche Aufgabe bestimmt" werden (241).

Es ist für ihn keine Frage mehr, daß die Volksbildung, indem sie in diese Problematik einführt, den Menschen auch etwas positives bringt. Ohnehin "dürfte die Zahl derjenigen, die ... noch gar nicht mit der Problematik unserer Zeit vertraut geworden sind, bei weitem nicht so groß sein, wie Herrigel anzunehmen scheint." (244) Darin ist sich Sternberg mit Rosenstock und Picht einig.

Zu den Inhalten der Volksbildung bemerkt Sternberg mit Bezug auf Darwinismus und Marxismus: "Man gab dem Arbeiter ... vereinzelte Kenntnisse, wissenschaftliche Bruchstücke; aber der Zusammenhang der Wissenschaft war ihm verborgen"(245). "Hieraus erwächst aber der modernen Volksbildung ... (die) überaus wichtige Aufgabe ... dem Arbeiter klar zu machen, daß die materialistische Geschichtsauffassung ... nicht als Dogma, sondern nur als methodisches Prinzip genommen werden darf ... ferner, ... daß durch die moderne Entwicklungslehre keineswegs alle 'Welträtsel' gelöst worden sind ..." (245).

Fraglich bleibt für Sternberg, ob dadurch letztlich "das Glück der Masse" gesteigert wird. Aber Volksbildung könne ein Verständnis für die Kulturaufgaben fördern und "damit die Fähigkeit zu bewußter Mitarbeit am Fortschritt der Kultur" steigern (245).

Mit dem Optimismus und dem Schiller-Zitat des "kritischen Idealisten" Sternbergs: "Es ist der Geist der sich den Körper baut" sei "eine Verständigung wohl nicht möglich". So leitet Herrigel seine Erwiederung in dem Artikel "Zur Kritik der idealistischen Volksbildung" (1921, 259) ein. Gegen die "Theorie" Sternbergs wendet Herrigel immer wieder ein, daß die Praxis etwas ganz anderes sei. Sternberg hätte nachweisen müssen, daß "die Autonomie des praktischen Ichs nicht bloß ein theoretisches Postulat, sondern Wirklichkeit ist. Das hat er nicht getan ... Daher hat er keinen der Einwände entkräftet, die gegen die heutige Bildung und ihre Verbreitung erhoben worden sind, sondern er hat nur das in ausführlicher Behandlung wiederholt, wogegen die Einwände gerichtet waren." (267)

Zwischen diesem Schlußsatz und der Einleitung findet keine Annäherung statt - die Positionen sind festgefahren.

Sternberg entwickelt "nur eine Theorie", so Herrigel (262). "Sein Gedankengang bewegt sich auf drei Stufen: die erste ist die idealistische Theorie der Kultur, die zweite die formale Bildung auf Grund dieser Theorie, die dritte endlich die moralische Gesinnung auf Grund der formalen Bildung."

Aber der Weg von der Theorie zur Praxis sei nicht so einfach: "... die philosophische Einsicht in die Vernunftgesetzlichkeit" bewirke nicht mit Sicherheit "auch den Willen und die Fähigkeit eines vernunftgemäßen Lebens" (261). Allerdings geht Herrigel noch einen Schritt weiter. Er will zeigen, daß "die Theorie selber den Übergang zur Praxis verbietet." (263) "Praktisch kann das Transzendentale nur werden durch die Subjektivierung". "Ein drittes Reich der Harmonie über der Gegensätzlichkeit kann es überhaupt nur in der Theorie geben, da der wirkliche Mensch nicht ein für allemal aus der Gegensätzlichkeit von Sinnlichkeit und Vernunft, von Wollen und Sollen, Trieb und Pflicht heraustreten kann" (265).

"Das formale Denken macht den Inhalt zur Funktion, zum 'Erlebnis' des autonomen Individuums und läßt ihn daher vom Individuum aus bestimmt sein. Das substanzielle Denken dagegen macht das Individuum abhängig vom Inhalt, der als überindividuelle Autorität über dem Einzelnen steht. ... Vom Zweck aus statt vom Individuum aus gesehen wird auch der Sinn der Bildung sofort klar. Die Frage ist dann nicht mehr die theoretische nach dem Wesen der Bildung, wie sie auch Sternberg stellt, sondern sie lautet: welches ist der Zustand eines gebildeten Volkes? Denkbar sind zwei Möglichkeiten: Entweder, daß das ganze Volk aus Heiligen besteht, oder daß über den Einzelnen eine Autorität steht." (266)

Es ist zu vermerken, daß Herrigel sich in dieser Zeit mit Natorp und ein weiteres mal mit Stapel auseinandergesetzt hat. Diese Arbeiten können hier nicht berücksichtigt werden.


Auswertung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die "verspätete Nation" (Plessner) konnte sich 1914, wie nie zuvor als eine Ganzheit fühlen. Als dieses Ideal in den folgenden Jahren zerbrach, waren viele nicht nur gegen ein politisches System streitender Interessengruppen, sondern auch regelrecht wütend auf eine selbstzufriedene Bildungselite, die nun als Hauptursache der inneren Spaltung des Volkes gesehen wurde. Als Urheber der Ideen der "priesterlichen" Bildung wurde Humboldt gesehen und mit ihm wurde "der" deutsche Idealismus verurteilt. Schleiermacher und Hegel werden für den Individualismus verantwortlich gemacht. Das bildungstheoretische Problem "Form oder Inhalt" ist uns bis in die 50er Jahre, und darüber hinaus erhalten geblieben. Eine Beschäftigung mit Humboldt - der Mensch solle sich bemühen "so viel Welt, als möglich zu ergreifen, und so eng, als er nur kann mit sich zu verbinden" - hätte schon damals in die Nähe Klafkis kategorialer Bildung führen können. Nur, daß dieses von einer Position der absoluten Ablehnung der "idealistisch", "humanistisch", "romantisch", "individualistischen" Epoche (oder wie die Verallgemeinerungen auch immer lauten mögen) aus nicht gesehen werden kann. Die Theorie, daß ein Subjekt die Form nicht selbst gibt, sondern von einer höheren Instanz empfängt, kann aber auch zu einem strategische Argument werden - zur Bewahrung oder Wiederherstellung einer Autorität.

Zu dem Argument, daß die Volksbildung die Krise nur verschärfen würde, hatte Erdberg schon 1911 bemerkt, daß er es gerne hinnehme, wenn "die Massen unzufriedener und begehrlicher" würden, da dieses ein Zeichen für eine "Bereicherung an innerem Leben" sei (385). Darüber hinaus ist aber zu fragen, ob die "Kulturkrise" nicht nur ein Problem der Intellektuellen gewesen ist? Ringer (1984) legt das nahe; er bemerkt, daß es die Krise schon deshalb gab, weil "beinahe jeder gebildete Deutsche an sie glaubte" (222f).

Die bisherige Untersuchung ergibt ein neues Bild von Hermann Herrigel. Das belegen vor allem die Arbeiten von 1916. Die sachlich gefassten Artikel von 1918 waren philisophische Reflexionen - sobald er sich dem Thema Volksbildung zuwendet wird Herrigel polemisch bis provokativ (Da ist er allerdings nicht der einzige). Jürgen Henningsen (1959, 26) hebt hervor, daß "bei Herrigels literarischen Äußerungen die redliche Strenge des Gedankens, die kritische Selbstbeschränkung des Arguments und die bescheidene Eleganz eines nüchternen Stils äußerst sympatisch (anmuten)."

Auch der Eindruck, den Laack (1984, 494ff) von Herrigel vermittelt, lässt kritische Bemerkungen vermissen. Erinnern wir uns noch einmal an die Ausgangssituation: Die als schmerzhaft empfundene Spaltung des Volkes soll durch Volksbildung überwunden werden. Als ideales Ziel wird eine Gemeinschaft anvisiert. Die Methode ist die Verbreitung der Kultur, dabei entstehen neue Formen der Erwachsenenbildung und eine kritische Reflexion setzt ein. Gleichzeitig wird die Demokratie zu einer Aufgabe. In dieser Situation ist die apodiktische Kritik Herrigels eine Reaktion, die nur eine Möglichkeit offenlässt: - nichts tun - eine das ganze Volk umspannende Gemeinschaft ist nur als naiv religiöse Glaubensgemeinschaft vorstellbar. Die berechtigte Kritik an der Volkbildungsideologie der Neuen Richtung ist aber rückwärtsgewand und nicht konstruktiv. Die Frage nach neuen Alternativen wird nicht gestellt, es ist für Herrigels Denken charakteristisch das es keinen Mittelweg, nur ein Entweder-Oder gibt. Würde sich diese Kritik durchsetzen, wäre aber jede Weiterentwicklung der Erwachsenenbildung, jedes Nachdenken über Alternativen stillgestellt und vorhandene Aktivitäten würden eingestellt: "die ganze öffentliche Bildungspflege muß aufhören!" Mit diesem Hintergrund sind Kompromisse kaum möglich. Dazu müssen wir uns noch einmal vergegenwärtigen wie es zu Herrigels unnachgiebiger Haltung kommt. Ausschlaggebend ist seine protestantische Weltanschauung und das damit verbundene Menschenbild: "Der Mensch ist radikal, d. h. in der Wurzel böse, denn er ist kein verläßlicher Garant des Guten" (Herrigel 1936). Mit Blick auf das Mittelalter stellt sich Herrigel eine streng hirarchische Ordnung, eine menschliche Rangordnung vor, mit einer (naiv "geglaubten") unhinterfragten Autorität an der Spitze. Eine zusätzliche Problematik besteht darin, daß diese Autorität von Herrigel nicht mit bestimmten Eigenschaften und Qualitäten wie z. B. "gerecht" oder "liebevoll" ausgestattet wird; die Frage nach der Legitimität wird nicht gestellt. Der Mensch ist an seinen Platz gestellt (Luther) und soll "dienend" gehorchen. Die Menschen sind grundsätzlich ungleich, gleich sind sie nur vor Gott: über dem homogenen Volk gibt es einzelne bildungsfähige, deren Begabungen und Fähigkeiten nicht beliebig erworben werden können. Es gibt objektive Rangordnungen. Der Besitzende hat eine gewisse Verfügungsmacht über die anderen.

Herrigels Position präzisiert sich in Anlehnung an die Ethik Schelers, für den Werte absolute unveränderliche Wesenheiten sind. Sie präzisiert sich weiterhin in der Ablehnung von Kant und Simmel. Herrigel muß die Vorstellung von einer Form-Stoff Dialektik um eine metaphysische "Form der Formen" ergänzen, die wiederum Wertunterscheidungen ermöglicht. Ein formaler Imperativ, dessen inhaltliche Ausgestaltung letztlich beim Individuum liegt ist für Herrigel nicht vorstellbar. Dem gegenüber steht aber auch Sternbergs Verteidigung des kategorischen Imperativ auf dünnem Eis. Dem freien Menschen bleibt die letzte Entscheidung überlassen: er ist auch frei böse zu sein. Damit ist die Problematik von Sein und Sollen angesprochen und das ist ein, wenn nicht das Problem von Bildung und Erziehung.

Für Erwachsenenbildung sieht Herrigel hier keinen Handlungsbedarf.

Der Mensch der die Welt mit eigenen Augen sieht, sich ein Urteil bildet - dabei kann Erwachsenenbildung mitwirken - und daraufhin verantwortlich handelt, dieser Mensch wird als "schöpferischer Mensch" bezeichnet und als Produkt des Idealismus denunziert. Den Menschen als formende Instanz kann Herrigel sich nur als "Gebildeten" vorstellen, und Volksbildung hätte die Aufgabe diesen zum Glauben zu führen. Dann wäre - mit den "Naiven" - Volksgemeinschaft möglich.

Einer der erstaunlichsten Sachverhalte der gesamten Diskussion ist, daß der antidemokratischen Haltung, die in Herrigels Denken liegt, so wenig entgegen gesetzt wird - abgesehen von Kurt Sternberg - und der gehört bezeichnender Weise nicht zur "Neuen Richtung". Die klare Aussage Sternbergs, daß es sich hier um die Frage Heteronomie oder Autonomie handelt hat sonst niemand hervorgehoben. Wenigstens Rosenstock erwähnt noch die Haltung Herrigels, aber die ironisierende Kritik wird entkräftet. Flitner dessen Laien Herrigels Naiven ähneln, bezeichnet es als "unsittlich" die Naivität künstlich am Leben zu erhalten. Das von Rosenstock, Picht, und Sternberg vorgetragene Argument "die Masse ist nicht mehr im Zustand der Naivität", wird von Herrigel ignoriert. Das Wesentliche ist, daß dieser, von Herrigel beschriebene (beschworene?), mittelalterliche Zustand der Gesellschaft nicht mehr existiert, möglicherweise existierte er nie.

"Es ist also ein höherer Grad von Selbstbewußtsein [...], von innerer Wachheit und Erkenntnis der uns angehenden Zusammenhänge, der entstehen soll, entgegen allem bloßen Vegetieren, allem Kadavergehorsam, allem animalischen bloßen Getriebensein. Es ist durchaus diskutierbar, ob die Erreichung eines solchen Zieles für den Menschen größeres Glück bedeutet. Ich kann es verstehen, wenn jemand die Naivität, Reflexionslosigkeit und Leitung durch eine objektiv gegebene Autorität für den (eudämonistisch betrachtet) erstrebenswerteren Zustand hält. Man kann aus Menschenfreundlichkeit ein Gegner jeder Volksbildung sein. Eine Volksbildung, die den Menschen gleichzeitig Selbstbewußtsein und Naivität, Besinnlichkeit und Sinnenfrieden, Streben und Behagen gewähren will, ist undenkbar. Wer sich zur Volkshochschule bekennt, hat die Brücke zurück zum Ufer Arkadiens abgebrochen. Es ist nicht zu entscheiden, wer recht hat. Alle Versuche, mittelalterliche Gebundenheit, naiven Autoritätsglauben, unbefangene Naturnähe gerade durch die Volkshochschule zu kultivieren, sind Selbstwidersprüche. Denkende, selbstbewußte, selbstverantwortliche und damit vielleicht unglücklichere Menschen sind das Ergebnis einer folgerichtigen Volksbildung." (v. Wiese 1921 ,556)

Möglicherweise kann (und sollte) die Entscheidung für das "unglückliche Selbstbewußtsein" und gegen eine gehorsame Naivität erst heute, nach der Erfahrung mit der Diktatur noch eindeutiger ausfallen.

Die Aufgabenstellung für die Erwachsenenbildung lautet: Wenn es kein zurück gibt in den mittelalterlichen Zustand, was kann dann getan werden, um den Menschen, die "in der Frage stehen" (wie Herrigel später einmal formulieren wird) zu helfen? Daß dies notwendigerweise in Form einer individualisierenden Bildungsarbeit - für alle - geschehen muß, dagegen sträubt sich Herrigel - und das macht seinen Standpunkt aus. Er hängt hoffnungslos zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

Man möchte fast fragen warum Herrigel von den Volksbildnern überhaupt so ernst genommen wurde. Konnte die "Jugendschrift" von 1916 noch ignoriert - der Redakteur der FZ mußte zur Kenntnis genommen werden. Schließlich saß der Stachel der Kritik gegen eine "Volkbildung" tief, auch wenn die Argumente anders motiviert waren, als es uns Henningsen glauben machen wollte. Wichtiger noch ist die Frage ob man sich insgeheim näher stand, ob man in wesentlichen Grundanschauungen übereinstimmte. Es ist herausgearbeitet worden, daß es in der hier dargestellten Diskussion nicht um Demokratisierung ging, wie Laack und Flitner in der Rückschau vollmundig betonen. Mit diesen Gedanken gehen wir über in die Phase, in der der "Hohenrodter Bund" gegründet wurde.

Hermann Herrigels Artikel (1923-1930) über den Hohenrodter Bund als Institution der "Neuen Richtung"[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Wenn wir uns im weiteren überwiegend mit den Berichten Herrigels in der "Frankfurter Zeitung" auseinandersetzen, darf nicht vergessen werden, daß dies nur ein Ausschnitt aus der Arbeit der Hohenrodter ist. Die Artikel Herrigels konzentrieren sich auf die jährlichen Hohenrodter Tagungen mit ihren Vorträgen und Diskussionen - aus dem Hohenrodter Kreis sind aber noch Aktivitäten und Institutionen hervorgegangen, die hier nur am Rande behandelt werden.[24]

Der Hohenrodter Bund, benannt nach dem Tagungsort im Schwarzwald, war eine Gruppe von Persönlichkeiten, die zum großen Teil in der Volksbildung tätig waren und sich zur "freien Volksbildung" der "Neuen Richtung" zugehörig fühlten. Als ein Charakteristikum kann angegeben werden, daß eine Teilnahme an den jährlich stattfindenden Gesprächen nur auf Einladung erfolgen konnte. Zur Kennzeichnung der Bedeutung der Tagungen wird eine Aussage von Franz Pöggeler (1958) gewählt:

Der Name Hohenrodt hat für Kenner der neueren Bildungsgeschichte eine fast magische Anziehungskraft aus mancherlei Gründen: In kaum einem Jahrzehnt hat nach 1923 eine relativ kleine Gruppe begabter Theoretiker und Praktiker eine Literatur hervorgebracht, die alles vorher Dagewesene weithin überholt erscheinen ließ; zugleich gewann dieser kleine Hohenrodter Kreis, von dem kein Außenstehender recht wußte, wer nun eigentlich präzise zu ihm gehörte, die maßgebende Initiative in der deutschen Bildungspolitik; ... Geblieben sind bis heute ... viel Hochachtung und andererseits viel Neid und Mißtrauen" (134).

Eine Geschichte der Entwicklung des Bundes, die kritisch die inneren Auseinandersetzungen aus der Perspektive eines Unbeteiligten betrachtet, ist bis heute nicht geschrieben. Die Besprechung der Artikel von Hermann Herrigel ist ein weiterer Zugang zu dieser Geschichte.

Zur Quellenlage ist zu vermerken, daß der Hohenrodter Bund sich erst 1926 dazu entschloss, ausführliche Tagungsberichte[25] anzufertigen und herauszugeben. Zur Rekonstruktion der vergangenen Tagungen verwendete man für die ersten beiden Jahre auch die Berichte Herrigels - unverändert, bis auf Herrigels Vorwort, jedoch nur für 1923. Daneben konnte auf Vorträge zurückgegriffen werden, die publiziert worden waren und auf Notizen von Theodor Bäuerle, der in den ersten Jahren als Hauptorganisator häufig eine zusammenfassende Schlußansprache hielt. Die Notizen sind erhalten (unveröffentlicht) und haben Laack und J. Henningsen vorgelegen. Jürgen Henningsen hat 1958 "eine erste Aufarbeitung" (10) der Quellen geleistet und sich darauf beschränkt, eine "äußere Geschichte" des Bundes zu schreiben. Pöggeler, der Henningsens Buch bespricht, kritisiert dann auch, daß Henningsen, zwar "mit feinem Takt" berichtet, manches aber in "vagen Andeutungen" belässt. Erich Weniger, der seit 1928 in Hohenrodt eingeladen war, kritisiert: "Man wird aus der Erinnerung heraus manches anders sehen, die Akzente anders setzen: Bäuerles Aufzeichnungen haben vielleicht den Verfasser allzusehr beeinflußt. [...] Aber im Ganzen ist es doch gelungen, ein zutreffendes Bild zu geben."

Eine weitere Quelle stellen die Berichte in der Zeitschrift "Archiv für Erwachsenenbildung" (Organ des Hohenrodter Bundes), bzw. "Freie Volksbildung" (Neue Folge des "Archivs für Erwachsenenbildung") dar. Vom Umfang her stark schwankend, wurden sie in der Regel von Robert v. Erdberg geschrieben. Nach seinem Tod 1929 erschienen keine Berichte mehr. Auch die Tagungsprotokolle wurden nach der 6. Hohenrodter Woche (1928) nicht mehr herausgegeben.

Hermann Herrigel war - mit einer Ausnahme - bei allen Hohenrodter Tagungen anwesend. Jürgen Henningsen schreibt darüber:

"Als seit 1923 das Nachdenken über Volksbildung seinen geistigen Mittelpunkt im Hohenrodter Bund fand, war Herrigel von Anfang an mit dabei. Er gehörte zum engsten Kreis; seine Tagungsberichte in der Frankfurter Zeitung, in denen die schwierige erste Übersetzung des bewegten Ringens um eine der Sache angemessene Sprache in die Sprache der Öffentlichkeit versucht werden mußte, stellten fast die einzige Quelle dar, aus der die Interessierten etwas über den Bund erfahren konnten."[26]

Erich Weniger bemerkt ebenfalls, daß die "bedeutenden Berichte Hermann Herrigels" eine "Übersetzung für die Öffentlichkeit darstellen" (1958, 449).

Manches in Herrigels Berichten ist eine Anspielung oder bleibt undeutlich, dabei ist zu berücksichtigen, daß diese Übersetzung, was den "Hohenrodter Geist" betrifft, nicht gelingen konnte. Der Hohenrodter Geist bestand im "ungesagten", in der Stimmung oder Atmosphäre. Ansonsten bezeichnete er eine Umgangsform, die den Anspruch erhob, jede Meinung zu Wort kommen zu lassen. Man wollte nicht nur Kompromisse finden, sondern sich einigen; auf diesen Unterschied legte vor allem v. Erdberg großen Wert.[27]

Erschwert wird eine Rekonstruktion der Hohenrodter Gespräche, da Herrigel oft nicht kennzeichnet bei welchen Passagen es sich um eine Ergänzung von ihm handelt und was, von wem in Hohenrodt gesagt wurde. Ein Vergleich mit sonstigen Quellen macht deutlich, daß manches in Herrigels Artikeln als seine Meinung erscheint, das in der Form in Hohenrodt gesagt wurde - anderes stellt Herrigel heraus, obwohl die Tagungsberichte es nicht protokollieren oder als die Meinung einer Minderheit bzw. einzelner Personen bezeichnen. Dies wird im einzelnen noch zu belegen sein. Zur Vorgeschichte der Entstehung des Hohenrodter Bundes gehört das Scheitern des A. d. d. V. (vgl. Henningsen 1958 S. 19ff u. 24) und dessen Auflösung am 1.4.1923. Wegen "weltanschaulicher Gegensätze" und einer "Überorganisation" (20) war eine Zusammenarbeit unmöglich geworden. "Mit der Auflösung des A. d. d. V. zu Beginn des Jahres 1923 hatte das deutsche Volksbildungswesen seine einzige zentrale Organisation verloren" (Henningsen, S. 24). Um dennoch eine Aussprache der in der Volksbildung Tätigen zu ermöglichen, lud auf Initiative von Th. Bäuerle der Verein zur Förderung der Volksbildung in Württemberg in ein Erholungsheim in Hohenrodt ein. Der Tagungsplan wurde vom preußischen Ministerium für Volksbildung übernommen, da dieses schon eine ähnliche Veranstaltung geplant hatte.

Ein wesentliches Thema sollte eine Aussprache über den Richtungsstreit zwischen der "Berliner" und der "Thüringer Richtung" sein. Dieser Streit kündigte sich schon in den oben dargestellten Artikeln von Picht (Berlin) und Flitner (Thüringen) an. W. Picht strebte im Gegensatz zu den Thüringern die Förderung einer ausgewählten Elite an. Herrigel wird dazu Position beziehen.

Erste Woche 1923: Bestandsaufnahme und "Heimat"[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Im "Hochschulblatt" der Frankfurter Zeitung vom 12. Juli 1923 erscheint ein Artikel von H. Herrigel über den "Stand der Volksbildungsfrage", der einen Bericht über die erste Hohenrodter Woche enthält. Zunächst bemängelt Herrigel das fehlende Engagement der "Geistigen" (namentlich erwähnt wird Gerhard Hauptmann) für die Volksbildung in Deutschland: "Es ist zu beklagen, daß das sogenannte geistige Deutschland den Fragen der Volksbildung völlig unbeteiligt gegenübersteht." Dieses fehlende Interesse sieht Herrigel als eine Ursache für die "Unzulänglichkeit" des Erreichten an und dafür, "daß die Volksbildungsarbeit noch ganz in den Anfängen steckt." Gefordert sei "vor allem eine ernsthafte Kritik."

In einer Rückschau schildert er Entstehung und Verlauf des Streites zwischen alter und "Neuer Richtung":

"Der extensive Volksbildungsbetrieb, wie er bis 1910 fast ausschließlich vorhanden war, sah seine Aufgabe ganz einfach in der 'Verbreitung von Volksbildung'."
"Als diese Versuche auf der ganzen Linie mißlangen, war man enttäuscht über die Stumpfheit und Interesselosigkeit des ungebildeten Volkes, das diese Gaben verschmähte, und merkte noch nicht, daß man selber gar kein Recht hatte zu solcher Kulturschulmeisterei. Man änderte zunächst nur die Methoden, und als die Gegenüberstellung von intensiver und extensiver Volksbildungsarbeit aufkam, lag der Unterschied zunächst nur in der Wahl der Mittel, mit denen man dieselben Ziele zu erreichen strebte: die Intensiven wandten sich nicht mehr an die breite Masse, sondern an die wenigen Einzelnen, an die Stelle des Vortrags trat die Arbeitsgemeinschaft in kleinem Kreise und an die Stelle der erstrebten Massenwirkung eine differenzierende und individualisierende pädagogische Methode.
In den letzten Jahren hat sich indes der Unterschied zwischen extensiver und intensiver Volksbildung wesentlich verschoben, wenn auch die Lager ungefähr die gleichen geblieben sind. Die Differenzierung der Arbeitsmethoden erweist sich immer wieder als ein vergeblicher Versuch, irgendwelche Schwierigkeiten zunächst auf methodischem Wege zu bewältigen, und führt dann weiterhin dazu, daß an den feineren Mitteln eine verborgene, tiefer liegende, noch nicht durchschaute Problematik der ganzen Arbeit zur Einsicht kommt. Die Extensiven sind stehengeblieben, aber in den Kreisen der intensiven Volksbildungsarbeit ist mehr und mehr die Erkenntnis der Kulturkrisis und damit im Zusammenhang eine tiefe Skepsis der ganzen Arbeit gegenüber in den Vordergrund getreten. Beide unterscheiden sich daher heute nicht mehr durch die Intensität der Arbeitsmethoden sondern durch die Intensität der Fragestellung."

Hervorzuheben ist die Aussage Herrigels, daß sich die Arbeit der "Intensiven" an "die wenigen Einzelnen" wendete, und daß er eine "verborgene, tiefer liegende Problematik", sowie eine "tiefe Skepsis" innerhalb der Neuen Richtung unterstreicht.

In den folgenden Absätzen - die Überschrift lautet: "Die Hohenrodter Tagung - berichtet Herrigel vom Scheitern des A. d. d. V. und betont die Notwendigkeit weiterer Aussprachen, die nun in Hohenrodt möglich geworden sind und auf der Basis der Grundsatzreferate von Picht (Berliner Richtung) und Buchwald (Thüringer Richtung) erfolgten. Nachdem Herrigel mehrfach auf die "geistige Not" hingewiesen hat, schildert er die unterschiedlichen Positionen. Die Aussprache findet "zwischen" den unterschiedlichen Positionen statt, die beide von der geistigen Not ausgehen, "wenn auch diese geistige Not in verschiedener Weise und Tiefe gesehen wird": "Picht warnte vor dem Aberglauben an die Autonomie des Geistes, vor dem Philosophenirrtum des deutschen Idealismus. Wir haben sehr bescheiden davon zu denken, was die Volkshochschule leisten kann. ... Picht liegt viel daran, der Volkshochschule eine festumrissene Gestalt zu geben, um sie auf der einen Seite gegen die kulturreformerische Schwarmgeisterei, auf der anderen Seite gegen die alte 'Verbreitung von Volksbildung' abzugrenzen."

Es kann nur um eine "Schulung zu geistiger Disziplin" in "kleinen Arbeitsgemeinschaften" gehen. Picht sagte (zit. nach Herrigel): "Die Volksbildung kann sich nicht die Aufgabe der Kulturerneuerung d.h. der Schaffung von Kulturwerten stellen ... nirgends ist ein solches Mißverhältnis zwischen Wort und Tat wie in der Volksbildung."

Herrigel fährt fort: "Buchwald sieht die Not des heutigen Menschen in erster Linie als seelische Not. ... Auch auf den Gebieten des geistigen Lebens im engeren Sinn, in Religion, Philosophie usw. sieht Buchwald vor allem die seelische Not, nicht die Entleerung und Fragwürdigkeit der Ordnung und der geistigen Gehalte. ... Das Wesen und die Aufgabe der Volkshochschule liegt darin, daß in ihr die Kräfte von oben und unten sich zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammenfinden." Er schreibt zusammenfassend: "Picht sieht zuerst die geistige Krisis, Buchwald zuerst die seelische Verarmung; Picht sieht die Not von ihrer objektiven, Buchwald von der subjektiven Seite. Sobald die Einseitigkeiten der Formulierungen erkannt ist,... wird es klar, das sich beide ergänzen ... Die Praxis führt zusammen ... Dennoch bleibt natürlich ein Gegensatz ... Buchwald steht der Aufgabe ... mit einem gewissen Optimismus gegenüber. Picht dagegen ... sieht ... die Möglichkeiten pessimistischer".

Herrigel schildert hier schon einen wesentlichen Gesichtspunkt des "Hohenrodter Geistes": "... bei der Aussprache ... war es nicht darauf abgesehen, diesen Gegensatz zu vertuschen ... sondern es handelt sich darum, zu prüfen ... ob trotzdem eine praktische Zusammenarbeit möglich sei."

Abschließend hebt er nochmals Unterschiede und Gemeinsamkeiten hervor.

"Picht sieht die seelische Not, deren tiefster Grund die geistige Krise ist, Buchwald die geistige Krise, die hervorgeht aus der Entseelung des Lebens. Sieht der eine nur tiefer oder sieht der andere falsch? Läßt sich hier nur noch eine Ueberzeugung aussprechen oder handelt es sich um eine Wahrheitsfrage? Liegt Frage und Antwort in der Sphäre des Subjekiven oder des Objektiven? Ist das Seelische das Primäre oder das Geistige? Von der Antwort auf diese Frage hängt die letzte Entscheidung zwischen den beiden Parteien ab.
Es ist möglich, daß an dieser Frage ... einmal eine neue Scheidung eintritt. Trotzdem kann man sich des Gewonnenen freuen. In Hohenrodt ist es einmal gelungen, über die Einseitigkeit der Formulierungen und die daraus erwachsenen Mißverständnisse hinweg sich ehrlich die Hand zur praktischen Zusammenarbeit zu reichen."


Im zweiten Teil des Artikels (FZ v. 26. 7. 1923) berichtet Herrigel über die Aussprache zum "Heimatgedanken in der Volkshochschule", die nach den Referaten von Erdberg und Bäuerle allerdings nicht zu Ende geführt werden konnte. "Man wird sich einmal ganz gründlich darüber unterhalten müssen, ob die Bedeutung des Heimatlichen für die ... Volksbildung, in der Heimatkunde, also beim Heimatlichen als Lehrgegenstand, oder in der Hörerpsychologie liegt." "(Es) braucht das Wort Heimat gar nicht ausgesprochen werden. Denn man muß sich bewußt bleiben, daß mit dem Aussprechen dieses Wortes, mit dem Bewußtmachen des Heimatgedankens ... die Heimat notwendig einen romantischen, sentimentalen Charakter erhält." "Daß wahre Heimatgefühl hat seinen Ort im Unbewußten".

In den folgenden Absätzen - überschrieben mit "Der Hohenrodter Bund" - gibt Herrigel nochmals einen Überblick zum Stand der Volksbildungsfrage. Hier ist von einer realistischen Besinnung die Rede, im Vergleich zu früheren "idealistischen Programmschriften, die darauf ausgingen, die reine Idee der Volkshochschule herauszuarbeiten und die die Aufgabe der Volkshochschule so weit spannten, daß sie als das Allheilmittel für alle Nöte der Zeit erschien."

Herrigel führt aus, was als "Grundlage der heutigen Diskussion" angesehen werden kann: "Die Volksbildungsarbeit verfügt auch nicht über ein gesichertes Bildungsideal, an dem sie ihre Arbeit orientieren könnte. Sie kann daher Aufgabe und Ziel der Arbeit nicht in normativer, allgemeingültiger Weise formulieren, sondern muß von Fall zu Fall, je nach den vorhandenen Bedürfnissen, die Aufgabe neu stellen und immer wieder in Frage stellen." "Die heutige Volksbildungsarbeit kann nicht von sich aus, mit ihrer besonderen Arbeit, die deutsche Kultur retten oder erneuern, die Volksgemeinschaft wieder aufbauen. Sie ist ein Weg, eine Arbeitsmethode, keine geistige Bewegung eigenen Vermögens, denn sie hat kein Heilmittel für die Not und lehnt es ab, einen Ersatz anzubieten ... Sie wird diese Gefahr umsomehr vermeiden, je tiefer sie nicht bloß die seelische, sondern die geistige Not erkannt hat."

Abschließend betont Herrigel, daß diese Sätze "keine authentische Geltung" hätten, sie wurden in dieser Formulierung "nicht in Hohenrodt selber ausgesprochen, sondern sie suchen erst nachträglich auszusprechen, was der dortigen Aussprache zugrunde lag." Sie könnten aber als "Grundlage des 'Hohenrodter Bundes' gelten".

Der Bericht wird später unverändert - bis auf die Einleitung über die Verantwortung der "Geistigen" - in den Tagungsbericht von Hohenrodt (Bd. 1) aufgenommen.

Die Formulierung, daß die Volksbildung "nicht über ein gesichertes Bildungsideal" verfüge und von "Fall zu Fall" entscheiden müsse wird uns von nun an begleiten.

Im "Volksbildungsarchiv" (Jg. 6, S. 127f) erscheint eine kleine Notiz über die Tagung in der im wesentlichen die gute Atmosphäre beschrieben wird. Das Volksbildungsarchiv wird im Jahr darauf (1924) mit der Zeitschrift "Die Arbeitsgemeinschaft" zusammengefasst zum "Archiv für Erwachsenenbildung". Der Untertitel lautet: "Organ des Hohenrodter Bundes". W. Picht und R. v. Erdberg sind die Herausgeber. Picht (ebd. S. 1ff) beschreibt die Situation: "Wir beginnen unser neues Werk zu einer Zeit, die im Zeichen des Abbaues steht". Ein Beleg ist für ihn die "offizielle Preisgabe des Geistes". Nun "enthüllt sich die ganze Schwindelhaftigkeit des Bildungsenthusiasmus der Nachkriegszeit," der "aus Fieber aber nicht aus Glauben kam." Der "Kampf um die 'neue Richtung'" könne als "beendet" gelten. Die Arbeit "alter Art" sei nicht mehr "Gegenstand ernsthafter Diskussion". Abschließend bemerkt Picht, daß der Ausdruck "Volksbildung" im Titel mit "Vorbedacht vermieden" sei aber nach wie vor sich noch "völlig decken" würde mit dem "was wir meinen."

In der Gründungsmitteilung (ebd. S. 39ff) des Hohenrodter Bundes heißt es ebenfalls "Arbeitsgemeinschaft für Erwachsenenbildung". Im ersten Punkt der "vorläufigen" "Richtlinien" wird die Aufgabe beschrieben: "Das freie Volksbildungswesen ... will dem Aufbau der Persönlichkeit und dem Werden einer wirklichen Volksgemeinschaft dienen." In einem weiteren Punkt wird die Bedeutung von "Stammeseigenart" und "Berufsleben" für das "Ziel einer Volksgemeinschaft" erwähnt. Punkt 3. lautet: "Die Grundfragen der Volksbildung sind Teilfragen des allgemeinen Bildungsproblems und lassen sich so wenig wie dieses nur aus der Praxis heraus lösen, sondern verlangen eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem geistigen Leben überhaupt und seinen materiellen Voraussetzungen." (40)

Hervorzuheben sind: Die Forderung der Arbeit in kleinen Kreisen, in "Gemeinschaften ..., von denen die Volksbildnerische Wirkung in die Breite ausgehen kann." Zweitens: Als ein besonderes Gebiet neben Volkshochschule und Bücherei sind Veranstaltungen für die "Masse" geplant. Unterzeichnet ist die Mitteilung u. a. von: Bäuerle, Buchwald, v. Erdberg, Flitner, Hofmann, Pfleiderer und Picht. Es ist noch anzumerken, daß W. Flitner (1986, S. 297) aus der Erinnnerung heraus schreibt, "... wir Thüringer ... (konnten) unsere Position im Hohenrodter ersten Gespräch behaupten".

Zweite Woche 1924: "Heimat"[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Nachdem während der ersten Tagung die Diskussion zur "Heimatfrage" nicht zu einem befriedigenden Abschluss gebracht werden konnte, wurde "Heimat" zum zentralen Thema der zweiten Hohenrodter Woche. Herrigel berichtet in der FZ v. 26. Juni 1924: Der Gesamtverlauf der Tagung

"war dadurch bestimmt, daß die Diskussion wegdrängte von den methodischen Sonderfragen, die im Arbeitsplan vorgesehen waren, zum Allgemeinen hin. ... Die Heimatfrage erwies sich, weit hinausgehend über die Wichtigkeit eines Lehrgegenstandes, als eine so weit- und tiefergreifende Frage, daß alles, was von ihr aus gesagt wurde, von selber eine Beziehung zu den Grundfragen der Volksbildung gewann."

Eigentlich handele es sich um die Frage nach einer "neue(n) Verwurzelung des Menschen in seiner Heimat", und was die Volksbildungsarbeit dazu beitragen könne.

"Der Versuch, ... über den Begriff der Heimat zur Klarheit zu kommen förderte nur die ganze Mannigfaltigkeit der verschiedenen Heimatbeziehungen zutage und löste dadurch den Begriff der Heimat nur immer mehr auf. Die Auflösung führte aber zugleich die entscheidende Wendung der Tagung herbei, denn damit trat immer klarer hervor, daß die Heimat nicht ein Benennbares und begrenzbares ist ... daß Heimat da ist, wo der Mensch in einer naturhaften Verbundenheit steht. ... Heimat, sagte Heinen, ist ein s a k r a l e r W e r t". "Wo aber der Heimat die symbolische Beziehung über sich hinaus fehlt, wo sie nur gegenständlich aufgefaßt wird, da wird die Enge zur betonten Enge. Hier liegt die große Gefahr der Heimatkunde, die die Heimat zu einem Gegenstand des Bewußtseins macht." "Die betonte Enge, der die Weite fehlt, kennzeichnet die Heimat des Kleinbürgers."

Diese Ausführungen sind vermutlich an den Bericht von Bäuerle: "Die Heimatkultur und ihre Erweiterung zur Volkskultur - beim Kleinbürger" angelehnt. Herrigel kennzeichnet dies nicht. Er fährt fort:

"Der Kleinbürger ist aber das ungeeignetste und hoffnungsloseste Objekt der Volksbildung, auch wo er Akademiker ist. Wo die Volksbildung sich auf die Instinkte kleinbürgerlicher Enge einläßt, ist sie verloren. Volksbildung ... hat der aufsteigenden Schicht - durch alle sozialen Schichten hindurch - zu dienen."

"Die Volksbildung hat auch nicht die Aufgabe, den sozialen Aufstieg der Begabten aus der Unterschicht zu fördern. Sie ist richtig verstanden nur eine Regelung der natürlichen Beziehungen, die im Leben des Volkes zwischen Oberschicht und Unterschicht vorhanden sind."

Hervorzuheben sind hier die Differenzen zwischen Tagungsbericht und Artikel: der scharfe Angriff gegen die "Kleinbürger" (Vortrag Bäuerle) findet sich im Tagungsbericht nicht. Eine weiter, wesentliche Differenz ist, ob die Volksbildung "nicht" oder "auch noch" für den sozialen Aufstieg zu sorgen hat.

Herrigel berichtet weiter, daß Katholiken und Protestanten in Hohenrodt zu einer Zusammenarbeit fanden, die für die Tagung von "großer Wichtigkeit" war: "... die Protestanten waren überrascht, was ihnen von den Katholiken, die eine naturhaftere Beziehung zum Boden haben, über die Heimat gesagt werden konnte, während auf der anderen Seite der Sinn der Bildung als eines Aufstiegs aus dieser naturhaften Gebundenheit - vielleicht zu wenig ausgesprochen - doch immer unangetastet erhalten blieb."

Diese Bemerkung wird nicht näher erläutert. Herrigel schreibt abschließend: "Der Hohenrodter Bund, wie er bisher bestand, wurde aufgelöst oder, wenn man lieber will u m g e w a n d e l t."

Damit war gemeint, daß der Bund auf eine Satzung und eine Mitgliederliste verzichtete. Der Hohenrodter Bund ist ein Freundeskreis und "nichts anderes als die Hohenrodter Tagung." "Das deutsche Volksbildungswesen hat also, das sei ausdrücklich festgestellt, keine zentrale Organisation mehr. Der Hohenrodter Bund verzichtet bewußt auf organisatorische Wirkung. Er faßt keine Resolutionen und Beschlüsse, die von seinen Mitgliedern auszuführen sind. Er ist keine 'offizielle' Vertretung gegenüber den Behörden und verzichtet auf behördliche Unterstützung. Er hat kein Programm, das er durchführen will ... Erst die vollkommene Freiheit von all dem macht es ihm möglich, das zu sein, als was er sich in dieser Tagung erwiesen hat - die 'a l l e r g e t r e u e s t e O p p o s i t i o n' der Volksbildungsarbeit. Das will aber ganz unpathetisch verstanden sein, denn ebenso wie es vom Uebel ist, zu viel von der Heimat zu reden, ist es vom Uebel, zu viel vom Hohenrodter Geist zu reden."

Henningsen hebt Herrigels Aussage über den Hohenrodter Geist besonders hervor (1958, 27). Wie er das interpretiert ist nicht zu erkennen. Wir wissen mittlerweile, und dies geht auch aus dem Artikel selbst hervor, daß Herrigel der Meinung ist man solle über bestimmte Sachverhalte nicht sprechen, d. h. ihre Irrationalität bewahren - ob er den "Hohenrodter Geist" ablehnte oder um eine bestimmte Wirkung in der Öffentlichkeit besorgt war, kann aus diesem Zitat nicht entnommen werden.

Dritte Woche 1925: "Berufsethik und Berufsausbildung des Volkslehrers"[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Insbesondere der Verlauf der dritten Hohenrodter Tagung (1925) liegt im dunklen. Das Thema lautete "Berufsethik und Berufsausbildung des Volkslehrers". Laack, der zu dieser Zeit noch nicht an den Wochen des Bundes teilnahm, berichtet, daß genauere Unterlagen über die Diskussion in Hohenrodt nicht vorliegen (vgl. S.82). Wie Laack konzentriert sich auch Henningsen in seiner Schilderung auf den Hinweis, daß bei diesem Treffen der Plan einer Akademie zur Ausbildung der Volksbildner reifte. Den Anmerkungen von Henningsen ist zu entnehmen, daß ein unveröffentlichtes Manuskript mit Notizen von Bäuerle existiert, worauf sich auch die Darstellung in den Tagungsberichten von 1927 bezieht. Die Herausgeber waren offensichtlich in Verlegenheit als sie zwei Jahre später den Verlauf der Tagung rekonstruieren wollten - um so bemerkenswerter ist es, daß sie den Bericht von Herrigel diesmal nicht hinzuzogen. Von erstaunlicher Kürze ist auch die Mitteilung im "Archiv für Erwachsenenbildung" (2. Jg.), wenn man sie mit den anderen der vorherigen Jahre vergleicht: Zu den Inhalten der Tagung wird nur der Plan einer Volksbildungsakademie erwähnt. Demgegenüber enthält der Bericht von Herrigel (FZ v. 23. 7. 1925) einige erstaunliche Bemerkungen und Anspielungen, die einige längere Zitate aus der Frankfurter Zeitung notwendig machen. Herrigel bezeichnet das Tagungsgeschehen zunächst als eine "Klärung und Erweiterung der Aufgabe" und verkündet schließlich das Ende der freien Volksbildung in der bisherigen Form.

Wie schon bei der zweiten Tagung wurde über die grundsätzliche Lage und über die Möglichkeiten der Volksbildung diskutiert, und diese Debatten führten dazu, daß der geplante Ablauf nicht eingehalten werden konnte. In dieser Hohenrodter Woche war ein Referat von Herrigel geplant, aber weder der Tagungsbericht noch Herrigels Artikel geben Auskunft darüber ob es auch wirklich gehalten wurde. Herrigel berichtet:

"Die vorherrschende Stimmung dieser dritten Hohenrodter Tagung war es, daß sie von Anfang an über die institutionelle Isolierung der Volksbildungsarbeit hinausdrängte. Damit schließt sie sich unmittelbar an die beiden vorhergegangenen Tagungen an, denn es gilt von ihr noch in stärkerem Maß, was im Bericht der letzten Tagung gesagt worden war, daß die Diskussion sich nicht mehr um die Fragen der Volksbildungsarbeit im engeren Sinn, die an die besonderen Einrichtungen wie Volkshochschule und öffentliche Bücherei gebunden ist, drehte. Was sich im letzten Jahr bei der Erörterung einer methodischen Einzelfrage, der Bedeutung der Heimat für die Volksbildung, ergeben hatte, erweiterte sich dieses Jahr von vornherein auf die ganze Volksbildungsarbeit. Das wird dadurch noch wichtiger und bedeutungsvoller, daß dies nicht im Plan der Tagung, in der Wahl des Verhandlungsgegenstandes, bewußt vorbereitet war, sondern sich gegen den Tagungsplan durchsetzte. Der Schritt, der damit getan ist, ist für die ganze Volksbildungsarbeit von größter, vielleicht von entscheidender Bedeutung."

Welches Thema sich gegen den Tagungsplan durchsetzte wird nicht gesagt - man kann nur vermuten, daß es um die Möglichkeiten der Volksbildung im Allgemeinen ging.

Herrigel wiederholt seine Version einer Dreiteilung der bisherigen Geschichte der Erwachsenenbildung: Der Beginn, "mit dem naiven Glauben an eine Allgemeinbildung", dann wurde "diese Allgemeinbildung zweifelhaft", und man "endete schließlich bei einer Skepsis der ganzen Arbeit gegenüber, als man sich der eigenen leeren Hände bewußt wurde". Es ist unklar ob es sich nun noch um die Wiedergabe der Gespräche und Diskussionen in Hohenrodt handelt.

"... je ernster man es mit dem Bildungsbegriff nahm, desto enger wurde der Kreis derer, an die man damit herankam. Man war ausgezogen, das Volk zu gewinnen, und fand doch nur die Einzelnen. Die Volksbildungsarbeit hat sich mit der Volkshochschule und der Bücherei ihre eigenen Organe geschaffen und die Arbeit war lange Zeit darauf beschränkt, diese Organe möglichst vollkommen auszubauen. Jetzt fängt man an, diese besonderen Einrichtungen als Schranken zu empfinden, die es wieder zu durchbrechen gilt. Man sieht auf einmal mit Schrecken, daß man sich damit neben das Leben stellte. ... Übrigens liegt es nicht bloß an den Einrichtungen als solchen, am Institutionellen, sondern auch an ihrer Verfassung. Die Isolierung liegt schon in ihrem Plan."

Mit einer bemerkenswerten Argumentation vollzieht Herrigel im weiteren Verlauf des Artikels eine realistische Wende von der Bildung zur "Weiterbildung" als Aufgabe der Volksbildungsarbeit.

"Der Arbeiter, der erwachsene berufstätige Mensch überhaupt, kann ja nur in seinen Mußestunden in diese Räume eintreten. So bleibt das, was er hier findet, auch nur auf seine Mußestunden beschränkt. Er wird hier in einer von vornherein abgegrenzten Welt, wohl als 'Mensch' gefördert; es wird ihm hier der Zugang zu einer Bildungswelt erschlossen, die neben oder über seinem Leben steht, die aber im Grunde genommen doch nur ein schöner Luxus für ihn bleibt da sie zu den entscheidenden Fragen seines Lebens, d. h. seines Arbeitslebens, ohne Beziehung bleibt. Volksbildung ist aber eine Sache, bei der es sich nicht um den müßigen, sondern um den berufstätigen Menschen handelt, ... weil die Muße heute seiner privaten Sphäre angehört, während er in der Arbeit noch öffenlicher Mensch ist. Wenn die ganze Volksbildungsarbeit auf besondere Einrichtungen beschränkt bleibt, die nur in das private Leben eingreifen, so verzichtet sie damit darauf, in das Volksleben einzugreifen. Hier liegt die Gefahr, von der schon im letzten Bericht die Rede war, daß die Volksbildungsarbeit dem geistigen Kleinbürgertum verfällt. ... diese Gefahr (wird) dadurch nur bestätigt, daß es fast durchweg nur ein bestimmter Teil der Arbeiterschaft ist, der die Volksbildungseinrichtungen besucht, nähmlich der, der seine Befriedigung neben der Arbeit in der Pflege irgendwelcher Liebhabereien sucht.
Das ist also die heutige Lage: Die Volksbildungsarbeit wollte in das Leben eingreifen, aber sie findet sich mit ihren Einrichtungen heute mehr als je auf die Seite gedrängt. Es zeigt sich, daß sie in Wahrheit die "Kunstwart"-Romantik immer noch nicht ganz überwunden hat, die Welt, auch die ökonomische Welt, durch 'Bildung' verbessern zu wollen. Daher hat sie heute auch vielfach noch einen gewissen schulmeisterlichen, ja pastoralen Charakter. Sie deckt die Wirklichkeit mit etwas Fremden zu, um sie zu verschönen. Aber Volksbildungsarbeit darf sich nicht gegen die Zeit stellen, und mit der Vergangenheit die eigene Zeit bekämpfen, sondern sie muß sich in die Zeit und in die Wirklichkeit stellen."


"*"
"Der Gegenstand der diesjährigen Verhandlungen war die 'Berufsethik und Berufsausbildung des Volkslehrers'. Dahinter stand von vornherein die Frage nach der Zukunft der Volksbildungsarbeit und es ergab sich auch gleich zu Anfang, daß diese Frage ... sich nicht deckt mit der Frage des Nachwuchses".

Im letzten Satz steckt der Hinweis, daß man sich wieder mit den Möglichkeiten der Volksbildung im Allgemeinen beschäftigte. Daß Herrigel erst nach der Trennung durch "*" den Absatz mit den Worten "Gegenstand der diesjährigen Verhandlungen war ..." einleitet, lässt vermuten, daß die vorhergegangenen Bemerkungen nicht unbedingt dem entsprechen, was während der Hohenrodter Woche besprochen wurde.

Der Teilnehmer der Volksbildung ist der Mensch als Arbeitsmensch - Volksleben ist Arbeitsleben. In der privaten Sphäre werden nur "irgendwelche Liebhabereien" gepflegt. Der "öffentliche Mensch" als politischer Mensch kommt nicht vor und damit auch nicht die politische Bildung als Aufgabe der Volksbildung. Hervorzuheben ist auch die Bemerkung: "die Wirklichkeit wird verschönt", die später noch zum Thema wird.

Herrigel kommt zu dem Thema einer Ausbildungsstätte für Volkshochschullehrer und merkt an, daß es schon aus finanziellen Gründen "nicht in Betracht kommen" kann eine solche "Muttervolkshochschule" mit eigenen Mitteln einzurichten.

"Es bestehen aber dagegen auch starke fachliche Bedenken, denn eine solche Schule müßte notwendig ... allmählich eine Verbeamtung des Volkshochschullehrers und damit auch eine Verfestigung der ganzen institutionellen Volksbildungsarbeit zur Folge haben, während die Diskussion doch gerade über die Institutionen hinausging. Es kann natürlich keine Rede davon sein, daß die bestehenden Einrichtungen abgebaut werden sollten. Sie werden auch künftig notwendig sein und werden sogar noch viel weiter ausgebaut werden müssen. Aber das braucht nicht mehr im Rahmen der freien Volksbildungsarbeit zu geschehen. Vielleicht darf darin, daß Volkshochschule und öffentliche Bücherei jetzt in der Diskussion zurücktreten, ein Zeichen gesehen werden, daß ihre Geschichte heute zu einem gewissen Abschluß gekommen ist. Die Volksbildungsarbeit hat das Ihre getan, nachdem sie die institutionellen Formen entwickelt und Ausgebaut hat. ... (nun ist es möglich) sie in das öffentliche Bildungswesen einzuordnen und der Pflege der Gemeinden zu überlassen."

In Zukunft werden Volkshochschule und Volksbibliothek "nicht mehr die ganze Last der volksbildnerischen Verantwortung allein zu tragen haben", sondern ihnen wird nur noch eine "Teilaufgabe" zufallen:

"Sie werden künftig nicht mehr der Bildung im weitesten Sinn, sondern nur noch der Weiterbildung zu dienen haben ... Die weitere Aufgabe, vor der die Volksbildungsarbeit jetzt steht wird es sein, die volksbildnerischen Kräfte mobil zu machen, die im Leben selber liegen." "Volksbildungsarbeit heißt die erzieherischen Funktionen zwischen den Volksschichten, die verloren gegangen sind, wiederherzustellen. ... es gehört mit zu ihren wichtigsten Aufgaben, den führenden Schichten ihre volkspädagogische Aufgabe zum Bewußtsein zu bringen."

Diese Aufgabenbegrenzung der Volksbildung wird in den folgenden Jahren von Herrigel immer wieder betont. Versucht man Herrigels Aussagen deutend zusammenzufassen, so ist "Volkbildung durch Volksbildung" wegen der geringen Teilnehmerzahlen an der Volkshochschule nicht mehr als realistisch anzusehen. Deshalb sollen die Angehörigen der "führenden Schichten" in einer Schulungsstätte auf ihre volkbildenden Aufgaben vorbereitet werden. Das Ziel der "Volkbildung" bleibt bestehen. Der Bibliothek und der VHS bleibt nur noch die Aufgabe der Weiterbildung des Menschen, der im Berufsleben steht. Es wurde in Hohenrodt sogar über einen möglichen "Abbau" der bestehenden Einrichtungen gesprochen. Die Volksbildungsarbeit ist zu einem "gewissen Abschluß" gekommen.

Die Frage lautet nun, so Herrigel, wie eine Schule aussehen muß, die die Angehörigen der anderen Berufe für ihre "sozialpädagogische" Arbeit vorbereiten soll. Gedacht ist an Ingenieure, Ärzte, Richter und Journalisten, die "an dem Ort ihrer Arbeit und Wirksamkeit selber", die "volkspolitische" Aufgabe wahrnehmen sollen. Darüber kam die Tagung zu keiner festen Anschauung und so wurde ein Arbeisausschuß berufen, der diese Fragen behandeln sollte.

Der Tagungsbericht (Bd. 1, S. 22ff) wurde nach Notizen von Th. Bäuerle angefertigt. Einige Zitate sollen den Vergleich mit Herrigels Artikel ermöglichen: "Die Volksbildung steht im Zeichen des Kampfes mit der Not, die unser Volksleben bedrängt. ... die Errichtung einer Schulungs- und Forschungsstätte ist für die Volksbildungsarbeit zur brennenden Notwendigkeit geworden."

Bäuerle spricht die Nachwuchsproblematik an. Die folgende Bemerkung über Wissenschaft und Leben könnte an Herrigels Vortrag angelehnt sein: "Besinnt man sich aber über den Lehrinhalt, so ist seine Neuformung eine nicht weniger wichtige Frage. Unsere Wissenschaft hat den Zusammenhang mit dem Leben vielfach verloren und ist auch der Mechanisierung verfallen. Wollte man hierin einen Vorwurf erblicken, so trifft er nicht nur sie, sondern den Zustand unserer ganzen Kultur. Der vorhandene Lehrinhalt ist heute zweifelhaft geworden wie er nicht mehr herausgewachsen ist aus dem Dienst am Menschen. Dieser allgemeinen Unsicherheit entspricht die Skepsis gegen die Zeitbildung überhaupt, die heute alles andere als ein tief inneres Zusichselbstkommen ist." "Der vorläufig erreichte Grad unmittelbaren volksbildnerischen Wirkens entspricht nicht der Erfüllung unserer Aufgabe, deren Größe uns klein macht."

Bäuerle sieht die Gesellschaft durchdrungen von Interessengruppen die, "mechanistisch gegliedert, unser Volksleben beherrschen und alle organischen Ansätze zu ... zerstören drohen." Im folgenden Zitat wird deutlich, daß (in der Version des Tagungsberichtes) nicht die Volkshochschulen und Bibliotheken von den "Gemeinden" (Herrigel) getragen werden sollen, sondern die "Schule für Volksforschung und Erwachsenenbildung". Dabei ist "Gemeinde" aber im Sinne von "Gemeinschaft" gedacht: "Gänzlich verfehlt wäre es jedoch, wenn eine solche Schule gewissermaßen in die Luft gebaut würde als Ergebnis lebensferner, abstrakter Ueberlegungen. Eine Gemeinde, die sie trägt ... ist für ihre Existenz von ausschlaggebender Bedeutung. ... Es kommt also zunächst alles darauf an, daß diese Gemeinde sich zusammenschließt und wirksam wird." " ... die Gemeinde (muß) eine organische Einheit darstellen, die in ihrem Wesen der berufsständischen Gliederung im kleinen gleicht. ... Die wissenschaftliche Forschungsarbeit dieser Schule wird zunächst die Angelegenheit der gelehrten Gemeindeglieder sein, deren Aufgabe es ist ein Laienwissen, d. h. neue Lehrinhalte zu schaffen, die einer Bildung zum Volke hin Inhalt und Richtung geben können." (S. 25; Hervorhebung von mir. WB)

Die "bestehenden Schulen aller Art" sollen, nach Bäuerles Bericht, "mit neuem Geist" (24) durchdrungen werden. Die Eingrenzung des Aufgabenbereiches auf berufliche Weiterbildung kann durch diesen Bericht nicht bestätigt werden. Bäuerles Bericht spiegelt die Befürchtungen vor einer "Verbeamtung" des Volkshochschullehrers wieder und schließt mit den Bemerkungen: "Der Volksbildner muß (seine Aufgabe) ... als Lebensaufgabe, als Berufung auffassen und als solche erleben, denn das Volk ist in seiner tiefsten Bedeutung ein sakraler Wert." (25)

Vierte Woche 1926: "Städtische Abendvolkshochschule"[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Bei der nächsten Tagung war Herrigel nicht anwesend. Warum ist ungeklärt. Das Thema der 4. Hohenrodter Woche (1926) war die "Städtische Abendvolkshochschule".

Die "Freie Volksbildung" (1. Jg., S. 261ff) berichtet über die Tagung. Die einleitenden Referate hielten v. Erdberg und Flitner. v. Erdberg beklagt: "Von einer Auswahl der Schüler ist nirgends die Rede." (262) Flitner betont: "Der Lehrplan kann nicht aus einer Idee heraus konstruiert werden. Alle Zielsetzungen haben ihr Recht". Er fordert: "Aufbau von unten, keine Auslese. ... Wir müssen vor allem die musischen Krafte wecken." (263f)

Laack (1984, S. 347f) bemerkt, daß bei diesem Treffen die Praktiker, die "realistische" Auffassung von Prerow vorweggenommen hätten.

Fünfte Woche 1927: "Die Industrialisierung des Geisteslebens"[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Herrigel berichtet in der Beilage für "Hochschule und Jugend" über die 5. Hohenrodter Tagung (1927). Das Thema lautete: "Die Industrialisierung des Geisteslebens". Auffällig ist die klarere Gliederung des Artikels, einzelne Diskussionsbeiträge sind deutlicher zuzuordnen.

Herrigel betont den "Blick nach außen", der mit dem diesjährigen Motto gegeben sei. Damit werde der Weg "über die institutionelle Isolierung hinaus" weiter beschritten. Die Themen der einzelnen Vorträge lauteten: "Die Kulturkrise der Arbeit" (Marr), "Die Ausstellung" (A. Paquet), Reklame (Bäuerle), "Schund und Kitsch" (v. Erdberg), Rundfunk (W. Schumann), Film (Pfleiderer) und Musik (Scherber).In der Einleitung bemerkt Herrigel:

"Die erzieherische Aufgabe des Volksbildners - das wurde besonders von Flitner klar formuliert - kann es nicht sein, diese Erscheinungen nach irgendeinem Bildungsideal umzuformen, vielmehr ist seine Aufgabe nur da gestellt, wo er als Erzieher einem ... Schüler gegenübersteht."


Um einen Eindruck der Tagung zu vermitteln, sollen zunächst einige Zitate aus dem ausführlichen Tagungsprotokoll (1928, S. 140ff) wiedergegeben werden. Am Anfang der Schlussausprache versucht Bäuerle eine Zusammenfassung:

"Es sollte der Schritt in die Welt des Alltags getan werden. Es ist nun die Frage, ob die Volksbildung diesen Schritt überhaupt tun darf. Was bedeutet dieser Schritt? Enthält er einen Verzicht? Bedeutet er die Verneinung der Volksbildung?" "Wir stellen also die Forderung einer neuen Sachlichkeit in der Volksbildungsarbeit. Es gilt sich gläubig zur Zeit hinzuwenden, davon auszugehen, daß im Grunde nichts verwerflich ist was Menschenhände hervorbringen, daß es nur darauf ankommt, das Hervorgebrachte volksorganisch zu gestalten. Liegt hier eine Wendung der Volksbildung vor, oder bleiben wir damit nur auf der Linie, die bisher die Hohenrodter Tagungen schon gezeigt haben? H e i n e n : Ich will ein Bekenntnis abgeben. Ich habe hier viel gelernt. Denken sie aber nicht daß ich nun, wenn ich heimkomme, regelmäßig ins Kino gehen werde oder mir einen Radioapparat anschaffe. Aber es ist wichtig, daß man von diesen Dingen weiß. Ich bin von dieser Tagung sehr beglückt." "Der Arbeiter soll zum Subjekt der Wirtschaft erhoben werden. Dazu muß Kraft in ihm erweckt werden. ... Wir dürfen es nicht quietistisch dem Herrgott überlassen. Wir erstreben eine neue Ordnung, wonach der Mensch Meister sein soll über die Technik. ... Wir müssen also den Schritt in die Dinge dieser Welt wagen. Der Hohenrodter Bund tut damit was er tun muß. Nachdem er zuerst sich im Kosmischen gefunden hatte, muß er nun diesen Fragen ins Gesicht sehen.""H e r m e s : Ich will nicht verletzen, muß aber doch sagen, daß die Ausführungen öfters fern der Wirklichkeit und blutleer gewesen sind. Wenn wirklich ernst gemacht werden soll, daß sich die Volksbildner der Welt zuwenden, so möchte ich vorschlagen, die nächste Tagung aus diesem schönen Heim in eine Gegend der Arbeit zu verlegen und Menschen der werktätigen Bevölkerung heranzuziehen. Man sollte die Arbeiter nicht immer nur zum Objekt der Tagungen machen." S c h u m a n n : "Die Hohenrodter tauschen Zeugnisse einer vergangenen hohen Kultur aus." "Die Sozialisten ... erstreben bewußt die Neuformung, das neue Ideal. Darin ist eine Bildung im alten Sinne vielleicht gar nicht möglich, Bildung als vielleicht selbstbefriedigende Täuschung des Menschen. Und allgemeine Volkbildung in irgend einer Art von Großgemeinschaftbildung bei 60 Millionen Menschen gibt es einfach gar nicht. (Zwischenrufe!) Schumann bricht ab, um Einwendungen zu ermöglichen." (153f)

Die nun folgenden Wortmeldungen versuchen zu vermitteln, ohne jedoch auf die wichtige letzte Bemerkung Schumanns direkt einzugehen. Der letzte Beitrag stammt von Pfleiderer, der herausstellt: "Der Hohenrodter Bund ist wohl da, als Gesamtheit, aber jedes Meinung ist trotz alledem seine Ich-Meinung. Alle die modernen Züge, die Schumann schilderte, packen auch uns. Viele Worte mögen in der Aussprache zu Mißverständnissen Anlass geben, aber man muß den Sinn erlauschen. Schumann verabsolutiert schon wieder viel zu sehr. Man muß umlernen in Richtung des Neuen ohne sich so festzulegen, mehr schwebend als gehend muß man neu werden." (155)

Mit der Überschrift "Diskussion und Ergebnis" bemerkt Herrigel (in der FZ): "Noch vor nicht allzuvielen Jahren währe der Gegenstand dieser Tagung mit einem reformerischen Aktivismus behandelt worden. Einzelne Stimmen, besonders von Seiten der sächsischen Volksbildner, fehlten auch diesmal nicht, die von der Volksbildung eine aktive, mehr oder weniger sozialistische Kulturpolitik erwarteten. Aber im ganzen ist die Volksbildung heute über die Weltverbesserungsprogramme hinausgewachsen. Alle Redner waren sich darüber einig, daß die Volksbildung kein Mittel in der Hand hat, direkt in die einzelnen behandelten Gebiete einzugreifen. Mit diesem Verzicht kam man schon nach Hohenrodt. Es herrschte von Anfang an eine große Bereitschaft, statt eines Bildungsstandpunktes den Standpunkt in der Wirklichkeit, in der gegebenen Situation, als den Arbeitsboden anzuerkennen." "Es handelt sich also darum, über die Resignation hinaus zu Gegenwartserscheinungen, denen gegenüber der traditionelle Bildungsbegriff der Volksbildung und der Pädagogik überhaupt versagt, eine positiv bejahende Stellung zu gewinnen."

Im Text kehrt Herrigel noch einmal zu dem Vortrag von Marr zurück und behandelt einige Fragen zu Wirtschaft und Technik, um dann auszuführen: "Der Widerspruch gegen den Marrschen Vortrag und die Auseinandersetzung, die sich daran knüpfte, führten schließlich zu der Klärung, was Bejahung heißt: nämlich der Glaube, an eine positive Möglichkeit in den Dingen; der Glaube ... (an einen) Sinn in den Dingen ..., der sich aber verwirklichen läßt ... wenn wir auf unsere eigenen Ideen verzichten und uns der gegebenen Welt einordnen." "Der Volksbildner ... darf ... den Arbeiter nicht mit Surrogaten vertrösten und mit seiner Not versöhnen wollen. seine Aufgabe ist die pädagogische, ihm in der Auseinandersetzung mit seiner Arbeitswelt zu helfen und er wird dies um so fruchtbarer tun können, je mehr er selber über den Protest und die Resignation hinaus zu einer glaubenden Bejahung der Gegenwart durchgedrungen ist."

Herrigels Schlußabsatz lautet: "Im ganzen ist zu sagen, daß auch diese Tagung ein Zeugnis ist für die geistige Wandlung, die sich auf allen Gebieten vollzieht, denn im Hintergrund ihrer Auseinandersetzung stand die Frage, wie weit von einem Absoluten aus in die Wirklichkeit eingegriffen werden kann oder wie weit die Wirklichkeit als Gegebenheit anerkannt werden darf und muß. Da ein Absolutes zuletzt nur theologisch begründbar ist, handelt es sich hier um die Grundfrage, vor die man sich heute von jedem Ausgangspunkt immer wieder gestellt sieht."

Bäuerle hatte, soweit dies in den Tagungsberichten wiedergegeben ist, resümiert: "Die allgemein gefundenen Einsichten und Situationen scheinen mir etwa diese: Die behandelten Dinge haben ihren eigenen tieferen Sinn. Wir können sie nicht ausschließlich von außen her reformieren, insbesondere nicht, wenn dies ihrer inneren Gesetzmäßigkeit widerspricht. Es soll gewiß nicht die Not der Arbeit und des Arbeiters verkleinert werden, aber ihr verborgener Sinn ist immer wieder zu beachten. Denn die hinter den Dingen (Kino, Presse usw.) wirkenden Formkräfte setzen sich auch gegenüber gegenwärtigen Ordnungen und Unordnungen durch. Und es ist offenbar, daß der Mensch auch von seinem Arbeitsleben her geformt wird. All dies wird die Stoßkraft des Einzelnen und der Gruppe nicht hemmen und hindern dürfen. An unserem Werk müssen wir vielmehr schaffen und tätig sein. Es wird die Tagung unsere Kraft stärken, weil unser Wirklichkeitssinn durch sie zugenommen hat."

Abschließend ging Bäuerle noch auf einzelne Anwendungsmöglichkeiten ein.

Fritz Laack, der selbst erst an der 6. Hohenrodter Woche teilnahm und sich bei folgender Einschätzung auf den Tagungsbericht stützt, bemerkt eine deutliche "Unsicherheit" in den Reihen der Hohenrodter von 1927. "Die Bedeutung des Heimatgedankens, aber auch der Arbeiterbewegung für die Bildung wurden von allen betont, und es ist bezeichnend, daß die Hohenrodter in ihrem jeweiligen Bildungskreis von ihren eigenen Mitstreitern wegen ihrer für alles aufgeschlossenen Haltung starker Kritik ausgesetzt waren. Das bedeutete damals meistens, daß man sie für verkappte Sozialisten hielt." "Die 'alten' Hohenrodter waren mit diesem Problem des Wandels der Gesellschaft groß geworden, ihre Progressivität in der Erkenntnis der Soziallage unterschied sie ja gerade von der 'alten Richtung'. Neu war dagegen für sie das Problem der Masse in der Demokratie und seine Lösung in einer Zeit, in der die Masse Konturen annahm" (109f).

Laack kennzeichnet diese Diskussion in Hohenrodt als "pädagogischen Sozialoptimismus" hinter dem eine "religiöse Grundauffassung von der Bestimmung des Menschen" steht. Sozialistische Bestrebungen werden von ihm den "jüngeren Hohenrodtern" (110) zugeschrieben und damit dem Hohenrodter Bund integriert. Nur eine "gesellschaftlich-materialistische Teleologie der immanenten Entwicklung von Produktivkräften ... hatte hier keinen Platz" (Laack, 115). In Bäuerles Resümee wurde die Meinung der "Jüngeren" jedoch nicht aufgenommen. Darüber hinaus muß hier nochmals an das durchaus vielfältige Meinungsspektrum erinnert werden, welches im Hohenrodter Bund existierte - ob es jedoch in der "Führungsetage", und damit in der Außenwirkung, ebenso aussah, ist eine andere Frage.

Herrigel macht die "sozialistische Kulturpolitik" zu einer Randerscheinung, über die die Volksbildung "hinausgewachsen" sei.

Erdberg schließlich, stellt fest, daß der "Prozentsatz der 'Erstmaligen' zu groß" geworden ist. Er vermisste die "einheitliche, geschlossene pädagogische Haltung" und bedauert, daß es nur zu einem Kompromiss gekommen sei: "gerade das, was es in Hohenrodt nicht geben darf."

Exkurs: Jürgen Henningsens Rezeption[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Eingerahmt von drei weiteren Artikeln zur Erwachsenenbildung - von Kaphahn, Weitsch und v. Erdberg - erscheint am 16. Januar 1928 in der Beilage "Für Hochschule und Jugend" der berühmte Aufsatz Herrigels zu der Frage: "Was ist heute Erwachsenenbildung?"

Henningsen (1959) schreibt zu diesem Artikel: "Es ist ... nicht verwunderlich, das gerade Hermann Herrigel schon 1928 eine nüchterne Bestimmung der Erwachsenbildung gelang, wie sie nicht nur drei Jahre später - in der berühmten 'Prerower Formel' 1931 - nach langem Kampf in gleichem Sinn formuliert wurde, sondern wie sie auch heute noch sehr modern und sachgerecht anmutet." (38f)

"Die Volksbildung hat lange gebraucht, bis sie mit den Füßen auf den Boden kam", so lautet der erste Satz Herrigels. Es kann heute gesagt werden:

"... nicht mehr die Volksbildung ist rückständig, sondern diejenigen, die glauben, sie nicht ernst nehmen zu dürfen. Vielleicht ist daran auch die unglückliche Wortbildung schuld, die den Anschein erweckt, als sollte hier immer noch dem Volke die Bildung nahegebracht werden. Mit solchen philantropischen Zielen fing die Arbeit um die Mitte des letzten Jahrhunderts an, und es ist gewiß, daß man die Aufgabe zuerst rührend einfach sah. Dabei darf aber nicht vergessen werden, daß damals das große Problem der Spaltung von Volk und Bildung überhaupt noch von niemand erkannt wurde."

Herrigel spricht von der "Spaltung von Volk und Geist", die eine "vom 19. Jahrhundert hinterlassene Erbschaft" sei. "Nach 1918 sprach man von Sozialisierung des Geistes und Volksgemeinschaft: man wollte durch Volksbildung die Kluft zwischen Volk und Geist überbrücken und die Volkseinheit erst bilden. Aber auch das konnte nicht genügen."

An dieser Stelle setzt das Zitat von Henningsen ein. Er lässt einige Passagen aus, von denen ich im nächsten Absatz zwei in Kursivschrift wieder einfüge:

"Je mehr man aus den Wolken der Volksbildungsideologie heraus auf die Erde kam, desto größer wurde die Aufgabe, desto nüchterner die Worte. Von Volksgemeinschaft als der unmittelbaren Aufgabe der in besonderen Einrichtungen und Veranstaltungen verkörperten Volksbildungsarbeit redet heute im Ernst niemand mehr. Volksgemeinschaft und einheitliche Bildung des Volkes können überhaupt nicht das konkrete Ziel einer einzelnen Bildungseinrichtung sein; wenn man von diesen allgemeinen Dingen noch spricht, so nur in dem Sinn, daß sie der gemeinsame Gesichtspunkt sind, unter den das ganze Schul- und Bildungswesen zu stellen ist."

Herrigel fährt fort (auch diese Passage zitiert Henningsen nicht):

"So kann man heute fast sagen, daß die Volksbildungsbewegung im alten Sinne, die durch besondere Einrichtungen dem 'Volk' als der unteren sozialen Schicht die Teilnahme an dem Bildungsbesitz der Gebildeten erschließen oder im Sinne der späteren Ideologie sich zum Organ einer geistigen Volksgemeinschaft (mehr oder weniger im Gegensatz zu den anderen Bildungseinrichtungen wie Universität, Schule usw.) machen wollte, heute abgeschlossen ist."

Bei Henningsen finden wir auch den folgenden Absatz aus Herrigels Artikel:

"Jetzt läßt sich in aller Bescheidenheit etwas darüber sagen. Volksbildungsarbeit hat heute die Aufgabe, den Erwachsenen über das hinaus, was ihm Volksschule und Berufsschule bieten, in die so überaus komplizierte Gegenwartswelt einzuführen; ... ihn selber in seiner Situation wissenschaftlich, d. h. sachlich, wirklichkeitsgemäß denken zu lehren, so daß er imstande ist, die Zusammenhänge und Voraussetzungen seiner Arbeit, seines Berufes, seines Lebens in der Familie, in der Gewerkschaft, im Staat zu überblicken. ... die neue Volksbildungsarbeit geht nicht von einer Bildungsidee, sondern von der Situation und ihren Nöten aus.

[Hier endet das Zitat bei Henningsen. WB]

Es ist für den Gegenwartsmenschen notwendig, seinen Horizont zu erweitern, daß er nicht bloß das Nächste in seiner Einzelheit, sondern in seinen Zusammenhängen, soweit sie in sein Leben hereinreichen und hereinwirken, zu sehen lernt. Es handelt sich dabei nicht um 'Lebensbildung' im Gegensatz zur Wissensbildung, nicht um 'Nahrung der Seele', um 'allgemeinmenschliche Bereicherung', 'Steigerung des persönlichen Lebens' usw., sondern um die Festigung seines existentiellen Selbstbewußtseins als Arbeiter, der praktisch in der Volksbildungsarbeit im Vordergrund steht aber in derselben Weise des Angestellten als Angestellter, der Frau, des Studenten, des Ingenieurs, ... und auch des Bauers, der heute ebenso in die wirtschaftliche Kooperation städtischen Ursprungs hineingezogen wird. Denn darum handelt es sich: da der Gegenwartsmensch immer mehr kooperiert, muß er über die Zusammenhänge Bescheid wissen. ... Die Volksbildungsarbeit beansprucht dafür kein Monopol mehr, und gerade indem sie diesen Monopolanspruch aufgegeben hat, hat sie sich erst das Tor in das Volk hinein geöffnet."

Ist mit "Zusammenhänge im Staat überblicken" auch politische Bildung gemeint? Geht es dabei nur um einen Überblick oder auch um eigenverantwortliches politisches Handeln? Der Artikel gibt darauf keine Antwort.

Jürgen Henningsen kommentiert: "Dieses bemerkenswerte Zitat ist uns wichtig in drei Hinsichten. Erstens ist es aufschlußreich für jede Deutung des Hohenrodter Bundes. ... Die Einstellung, die hier zum Ausdruck gebracht wird ist deutlich und bedarf keiner weiteren Erläuterung. Läßt sie sich als für den Hohenrodter Bund charakteristisch nachweisen (was noch viele sorgfältige Einzelanalysen erforderlich machte), so ließe sich die so schwer zu bestimmende innere Entwicklung des Bundes, ... in dem angesprochenen Zug einer unpathetischen, sachgerechten Auffassung der Volksbildung weit präziser fassen, als es bisher möglich war."

Die Frage ist, was Herrigel mit "Festigung seines existenziellen Selbstbewußtseins als Arbeiter" (Im Original gesperrt!) meint? Soll der Arbeiter Arbeiter bleiben? Soll er sein Klassenbewußtsein schärfen? Es geht Herrigel hier letzlich um "wirtschaftliche Kooperation". Der Zusatz "soweit sie in sein Leben hereinreichen" verweist darauf, daß es noch eine andere Sphäre gibt, über die der Mensch nichts wissen muß. Es wurde hevorgehoben, daß Herrigel schon 1921 in der Auseinandersetzung mit Rosenstock eine ähnlich lautende "realistische" Bestimmung der Volksbildung formuliert und auf die Not hingewiesen hatte, die "nicht praktisch gelöst werden kann" (Vgl. o. S. 86). Herrigel hatte dort die "autoritative" gemeinschaftsbildende Kraft der kirchlichen Dogmatik beschrieben.

Wenn Henningsen die Fankfurter Zeitung vor sich hatte als er Herrigel zitierte, hätte er nur den Blick nach rechts wenden müssen um dort, in dem Artikel mit der Überschrift "Eine Lanze für den geistigen Kampf in der Volkshochschule" von Robert v. Erdberg, zu lesen: "Freie Volksbildung setzt allerdings die Ueberzeugung voraus, daß eine jenseits aller weltanschaulichen Gegensätze und politischen Parteien stehende, alle Glieder des Volkes verbindende Bildung möglich ist, in der jene Gegensätze nicht aufgelöst werden, sondern sich in einer h ö h e r e n E i n h e i t zusammenfinden." Liest man den Artikel, dann kann man aus der Enttäuschung v. Erdbergs über die Zersplitterung der Volksbildungsbewegung, die er in einem Zusammenhang mit der "politischen Lage" sieht, ableiten, daß eine realistische Einschätzung eines pluralistischen Gemeinwesens, die auch dessen Vorteile berücksichtigen müsste, immer noch nicht möglich war.

Aber zurück zu Henningsen: "Zweitens beleuchtet dieses Zitat noch einmal ausdrücklich die Bedeutung Herrigels für die im Dialog entstandene Theorie der Volksbildung. Es zeigt, daß Herrigel schon 1919, die für die spätere Entwicklung wesentlichen Probleme aufgeworfen hatte, und daß seine grundsätzlichen Antworten, von ihm selbst im Laufe der Gespräche in einigen Hinsichten modifiziert, sich im Wesentlichen als angemessen herausstellten." (39)

Herrigel modifizierte anscheinend seine Meinung über die (formalen) Elemente der Wissenschaft, die ein Modell für sachliches Denken liefern können, und über Bildung, die von einer Not ausgeht, denn bezüglich dieser Sachverhalte hatte er Sternberg und Rosenstock (1921) vehement widersprochen.

Darüber hinaus ist zu fragen, was Herrigels Standpunkt nun eigentlich ausmacht. Dem Artikel ist zu entnehmen, daß er nach wie vor "das große Problem der Spaltung von Volk und Bildung" bzw. von "Volk und Geist" als Aufgabe sieht, und auch die Volksgemeinschaft ist noch nicht zu den Akten gelegt - nur kann sie nicht mehr das Ziel einer einzelnen Bildungseinrichtung sein. Letztlich wird der Aufgabenbereich der Volksbildung auf das Ermöglichen von Einsichten in die "wirtschaftliche Kooperation" eingeschränkt. Damit ist der Artikel in sich widersprüchlich, da zuvor auch von Familie und Staat, von der gesamten "Gegenwartswelt" die Rede war. Es muß daran erinnert werden, daß Herrigel 1925 verkündet hatte, daß die Aufgaben von Volkshochschule und Bibliothek nur noch im Weiterbildungsbereich liegen werden.

Der dritte Gesichtspunkt, den Henningsen anspricht berührt die Gegenwart. Henningsen teilt offenbar Herrigels Absage an eine Bildungsidee und verknüpft dies mit der Frage "nach dem Menschenbild", die der Erwachsenenbildner nicht beantworten sollte (vgl. Henningsen 1959, S. 40).

Dazu bleibt zu sagen, daß die Themen "Idee" und "Utopie" in Hohenrodt (1927) sehr kontrovers diskutiert wurden.

Das Stichwort "existentiell" in Herrigels Artikel verweist auf seine Beziehung zu den "südwestdeutschen Religiösen", so nannte Walter Benjamin den Kreis um die Zeitschrift "Die Kreatur", zu dem z. B. auch Martin Buber gehörte (vgl. Marbacher Schriften 27, 15f). Buber war auch Gast bei der nächsten Hohenrodter Tagung.

Sechste Woche 1928: "Weltanschauung und Erwachsenenbildung"[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Bericht Herrigels über die 6. Hohenrodter Woche zum Thema "Weltanschauung und Erwachsenenbildung" wird am 2.7.1928 in der Frankfurter Zeitung wiedergegeben. "Die Volksbildung kann sich nicht als Richterin zwischen den Weltanschauungen aufwerfen, sie kann nicht die Frage nach der 'richtigen' Weltanschauung stellen und auf eine Einheit der Weltanschauung hinarbeiten."

So lautet die einleitende Bemerkung Herrigels. Nach einer knappen Übersicht über die verschiedenen Referate, schildert Herrigel verschiedene Möglichkeiten der Neutralität. Diese Aufzählung lässt sich dem Vortrag von Kaphahn zuordnen der zweite Teil der Ausführungen im nächsten Zitat jedoch nicht mehr (Vgl. Tagungsberichte Bd. 2, S. 54ff). "Wenn die Volksbildungsarbeit in den verschiedenen Phasen ihrer Entwicklung glaubte, das Weltanschauungsproblem ganz umgehen zu können (negative Neutralität), wenn sie glaubte, alle Weltanschauungen gleichmäßig berücksichtigen zu können (Toleranz des sog. Essener Systems), auch noch wenn sie glaubte, die Weltanschauungen in der Arbeitsgemeinschaft zur Diskussion stellen zu können, so suchte sie dabei immer mit dem Weltanschauungsproblem fertig zu werden, indem sie sich auf einen Boden außer den Weltanschauungen stellte. Aber eben damit waren die traditionellen Weltanschauungsgruppen doch noch in ihrem Bestande anerkannt. ... eine andere Ebene war damit noch nicht betreten."

Die neue Situation sieht Herrigel durch eine "Auflösung der Weltanschauungsgruppen und der Weltanschauungsgehalte" gekennzeichnet. "Die Erörterungen führten schon im Anfang zur Unterscheidung der begrifflichen, systematischen Weltanschauung und der Glaubenshaltung. In den Referaten und in der Diskussion kam immer wieder die Abkehr von den Systemen der traditionellen Weltanschauungen zum Ausdruck, am stärksten in den Reden Martin Bubers: Weltanschauung hat mit der wirklichen Welt und mit konkreten Anschauungen nichts zu tun, sondern ist nur eine Sicherung dagegen."

Die Ablehnung der Weltanschauungen wird nun zur Begründung der Notwendigkeit einer pädagogischen Autonomie: "Wenn ... die Weltanschauungen, wie es heute unter uns der Fall ist, im Streit miteinander liegen, wird der Erzieher weder an diesem Streit sich beteiligen, noch sich ihm in eine leere Neutralität entziehen und damit auf Erziehung überhaupt verzichten, sondern er wird suchen eine positive Opposition gegenüber den streitenden Gruppen einzunehmen. Das eben heißt pädagogische Autonomie.

Es folgt die Darstellung des Vortrags von Erdberg über das Verhältnis von Staat und freier Volksbildung, in dem das Wort vom "Sündenfall" der Bewegung fällt: Wenn die freie Volksbildung vom Staat Mittel fordert, muß sie ihm auch Rechte einräumen. Erdberg mahnte die Einheit der Volksbildungsbewegung an, um eine wirkungsvolle Interessenvertretung gegenüber dem Staat zu gewährleisten. Betont wird abschließend, daß Erdbergs Bericht von den Referenten Sachsens und Thüringens "im wesentlichen bestätigt" wurde.

In der Zusammenfassung der Ergebnisse der Tagung von Pfleiderer (Tagungsberichte Bd. 2) heißt es: "Alle Volksbildung ist weltanschaulich oder jedenfalls durch eine Glaubensrichtung bestimmt. Ist dieser Satz richtig, und ich glaube die Tagung hat seine Richtigkeit erwiesen, so gilt er auch für die 'freie' oder 'neutrale' Volksbildung. Diese ist also entweder: a) aufklärerisch-liberal und also eine Nachgeburt der idealistischen Weltanschauung, oder sie ist b) Ausdruck einer noch ungeborenen neuen Weltanschauung, die sich hinter der formalen Gesetzlichkeit einer neuen Pädagogik versteckt ('pädagogische Autonomie'). Eine dritte Möglichkeit gibt es nicht. Und es wäre nun unsere Aufgabe, das Wesen der neuen Pädagogik soweit zu klären, daß die latente Weltanschauung, von der sie getragen wird, wenigstens durchscheint." (77)

Schon diese wenigen Sätze zeigen, daß man Bubers Ablehnung aller Weltanschauung nicht zustimmte und Flitners Theorie abwartend gegenüberstand. So vermerkte dann auch v. Erdberg 1928: "Das Problem der pädagogischen Autonomie wurde eingehend erörtert. Das letzte Wort über sie ist noch nicht gesprochen."

Die Berichterstattung über diese Hohenrodter Woche stellt einen Sonderfall dar, weil Herrigel noch einen zweiten Artikel verfasst, der im "Kunstwart" erscheint und in einigen Punkten eine deutlichere Sprache spricht. Im Unterschied zu dem Artikel in der FZ, stellt dieser Bericht eine enge Verknüpfung zwischen Buber und Flitner dar. Herrigel beschreibt zunächst eine "... Zeit, in der man noch eine Weltanschauung haben konnte und haben mußte. Die Hohenrodter Vorträge und Gespräche zeigten eine gänzlich veränderte Situation, die freilich nicht von vornherein klar wurde und zunächst in einer gewissen Ratlosigkeit der Aussprache zum Ausdruck kam." "Wir leben nicht mehr in einer gesicherten Welt, gesichert, weil ein gemeinsames Weltbild dem Andrängenden seine Form zu geben vermag, sondern in einem Chaos des nicht mehr oder noch nicht Bewältigten, und wir ziehen in der Hoffnung des Kommenden das Chaos den Scheinbewältigungen vor. In seinem Vortrag ... stellte Buber die philosophische Weltanschauung, ... dem religiösen Grundverhältnis gegenüber". (273)

Über das Referat von Buber schreibt Herrigel: "Die philosophische Aussage erhebt den Anspruch der Universalität, strebt nach Endgültigkeit, nach Abschluß, löst das Geheimnis auf; die religiöse Aussage, läßt es bestehen, sie bleibt offen, sie spricht in suspenso. ... (Das ist) die Unterscheidung von echter und unechter Weltanschauung. ... alle begrifflichen Weltanschauungen sind gleichermaßen unecht" (273f).

Dem "religiösen Grundverhältnis" von Buber entspreche "... ein Verhältnis zur Welt, das in jeder Situation die Sprache Gottes vernimmt". "... hier ist ein positiver Boden außerhalb der Weltanschauungen gefunden, der auch ein positives pädagogisches Verhältnis zu ihnen ermöglicht. Nun erhält die pädagogische Autonomie erst ihren Sinn". "Die pädagogische Autonomie darf aber nicht nur als eine formale Gegenüberstellung von Pädagogik und Weltanschauung aufgefaßt werden. Eben weil sie das nicht ist, ist sie mehr als nur Neutralität. Sie schließt eine - der entarteten Pädagogik der Weltanschauungsgruppen gegenüber - neue Auffassung der pädagogischen Aufgabe ein, ein neues Bild des Menschen, das auf Entscheidungen beruht, die schon die Grundzüge der werdenden Weltanschauung erkennen lassen." (274)

Wurde schon in der Frankfurter Zeitung die Notwendigkeit der pädagogischen Autonomie mit der Ablehnung der Weltanschauungen begründet, so erhält sie hier ein religiöses Fundament. Diese enge Verknüpfung von Flitner und Buber lässt sich durch das Tagungsprotokoll nicht bestätigen.

Am 3. 4. 1929 stirbt Robert v. Erdberg. Sein Tod wird von vielen als ein tiefer Einschnitt in der Arbeit der Volksbildungsbewegung gesehen. Das nächste Hohenrodter Treffen fand daraufhin erst im September statt.


Siebte Woche 1929: "Die Alten und die Jungen"[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Herrigel erinnert an die Bedeutung Erdbergs in seinem Artikel über die 7. Hohenrodter Tagung (FZ v. 21. 10. 1929).

"Das Thema der diesjährigen Tagung: Die Alten und die Jungen, war einmal notwendig, aber es erwies sich fast von Anfang an in diesem Kreis als gegenstandslos."

Erinnern wir uns an die Aussagen von Laack und v. Erdberg, dann verweist das Wort "notwendig" auf Spannungen zwischen den ("sozialistisch" orientierten) "Jüngeren" und den "Älteren". Da von dieser Woche kein Tagungsbericht existiert kann keine Aussage über den Teilnehmerkreis gemacht werden. Herrigel fährt fort: "Es gab wohl Gegensätze oder richtiger gesagt, Unterschiede des Mitgehenkönnens, aber nicht des Wollens, nicht der grundsätzlichen Haltung."

Herrigel berichtet über das einleitende Referat von O. Hammelsbeck: Die Jüngeren haben

"keine Tradition, auf der sich aufbauen ließe; große Unbehaglichkeit gegenüber allem, was Theorie heißt; Scheu vor der Anmaßung zu wissen, welche Bildung dem heutigen Menschen notwendig ist. Es bleibt nur, die reine Gegenwart zu tragen und auszuhalten, ohne sie an die Tradition zu verraten. Die volksbildnerische Aufgabe ist nicht ein pädagogisches Mittlertum, sondern dem heutigen Menschen seine Aufgabe zum Bewußtsein zu bringen.
Im Anschluß daran sollte sich das Gesamtthema an einer Reihe von Einzelfragen: dem Familienproblem, insbesondere dem Verhältnis der Geschlechter, Volk und Staat, Stellung zu Religion und Kirche, entfalten. Da jedoch das Hauptthema ausfiel, so fehlte den Sonderthemen der gemeinsame Richtungspunkt, und es entwickelte sich nur eine Reihe von freien Gesprächen
".

Herrigel will auf Einzelheiten nicht eingehen obwohl die Berichte "vielerlei Wertvolles" boten,

"doch soll versucht werden das Fazit der ganzen Aussprache zu ziehen [...] Es ist [...] das Bewußtsein, daß der Volksbildner mit leeren Händen dasteht, daß er kein Bildungsgut mehr hat, das sich einfach lehren und weitergeben ließe. Es gibt keine gültigen Formen des Lebens, sondern überall fällt die Verantwortung auf den einzelnen zurück, und der einzige feste Boden, der ihm bleibt ist seine 'Situation'."

Herrigel präzisiert, was unter "den einzelnen" und "Situation" zu verstehen sei: der einzelne will sich "längst nicht mehr ... von Bindungen befreien und seine Autonomie behaupten", er ist sich "der Gebundenheit in seiner Situation bewußt". "Situation" hat "keine naturalistische und positivistische" Bedeutung mehr, sondern meint "das Bewußtsein, daß nicht aus Theorien, [...] sondern nur am Wirklichen gearbeitet werden kann. In nichts ist man sich so einig wie in der Ablehnung aller Theorie, die aus dem Leben herausführt, die isoliert, die mehr ist als bloßes 'Vokabular'. [...] Damit wird auch die pädagogische Aufgabe eine andere: sie ist nicht mehr nur eine ablösbare, für alle Inhalte gleiche Methode der Weitergabe ebenso abgelöster theoretischer Lehren, sondern sie erhält selber eine inhaltliche Aufgabe. Sie steht ihrer Zeit nicht mehr auf gesichertem Boden gegenüber, sondern nimmt am Schicksal ihrer Zeit teil."

"Der Volksbildungsarbeit diesen Weg gewiesen zu haben, aus der institutionellen Isolierung in das Leben hinein, darf als das wichtigste Ereignis der bisherigen Hohenrodter Tagungen gelten. Schritt um Schritt ist dieses Ergebnis in den Verschiedenen Tagungen mit innerer Zwangsläufigkeit herausgearbeitet worden."

Wieder folgt hier der geschichtliche Rückblick, und wieder bemüht Herrigel das Bild von den "leeren Händen" der Volksbildner.

"So vollzog sich allmählich eine vollständige Wandlung des ursprünglichen Begriffs der Volksbildung, 'daß das Volk gebildet werden sollte'. Hinter dem besonderen Beruf und Anspruch des Volksbildners erhob sich ein Fragezeichen, das immer größer wurde. [...] Es ist nicht gut zu viel von diesem Fragezeichen zu sprechen; denn es darf nicht zu einer Theorie werden, sondern nur eine Haltung bezeichnen. Diese Haltung ist kein Sonderbesitz des Volksbildners mehr, sondern sie ist schlechthin die Haltung des heutigen Menschen, der weder aus einer alten noch aus einer neuen Theorie heraus leben kann. nur indem der Volksbildner selber in dieser Armut bleibt, indem er sich jede bildnerische Anmaßung verbietet, indem er sich dem Jetzt und Hier seiner Aufgabe zuwendet, vermag er auch dem heutigen Menschen seine Aufgabe zum Bewußtsein zu bringen, die nicht darin besteht, ein vorgezeichnetes Persönlichkeitsideal zu erreichen, sondern in seiner Gegenwart und Umgebung seine gesellschaftliche Aufgabe zu erfüllen."

Aus dem Wissenschaftskritiker Herrigel ist ein Theoriefeind geworden - in diesem Zusammenhang sind die schweren Vorwürfe zu sehen, die er der "pädagogischen Aufgabe" macht: sie sei bisher bloße Methode gewesen und habe nur "theoretische Lehren" weitergegeben.

Wiederum ist leider nicht zu sagen ob es sich hier um Aussagen von der Hohenrodter Woche handelt. Ein Indiz für Zweifel ist der Bericht von Laack (1984): Hammelsbeck vertrat die Auffassung, daß die "Jüngeren" ein "Unbehagen gegen die auf alte Vorstellungen zurückgehende Theorie und Praxis der Volksbildung" in sich tragen (253). Demgegenüber ist Herrigel radikaler. Ausführlich berichtet Herrigel über den Vortrag von Erich Weniger über "Das Bild des Krieges und die heutige Generation" und vermerkt im letzten Absatz einen "gewissen Abschluß" der Hohenrodter Arbeit:

"Der Hohenrodter Bund ist in den letzten Jahren seit der ersten Tagung im Jahr 1923 der geistige Mittelpunkt der deutschen Volksbildungsarbeit gewesen. Das werden auch die nicht leugnen können, die im übrigen Hohenrodt mit den verschiedenen Ressentiments gegenüberstehen. ...

(Es) lässt sich die Klärung und Wandlung der volksbibliothekarischen Aufgabe verfolgen ... : der Weg von der Ideologie zur Wirklichkeit, der Uebergang vom Menschen in der Muße zum Menschen in der Arbeit, die Aufgabe der Stellung des Volksbildners mit seinen zweifelhaften pädagogischen Ansprüchen neben dem Leben und der Schritt in den Lebensraum hinein. Damit ist nun fürs erste ein gewisser Abschluß erreicht." "Jede Institution lebt nur solange, als sie auch sterben kann. Die künftige Aufgabe der Hohenrodter Tagungen wird eine andere sein als bisher und damit wird auch ihre Form eine andere, lockerere werden."

Fritz Laack schreibt, daß "noch am Beisetzungstag Erdbergs der 'innere Kreis' in losem Gespräch das u.a. auch schon früher mit Erdberg erörterte Thema unter der Bezeichnung 'Die Alten und die Jungen' aufgriff und als das Richtige in Aussicht nahm" (249).

Wer zu den "Alten" und wer zu den "Jungen" gehörte hatte nicht unbedingt etwas mit dem Alter zu tun, das berichtet auch Herrigel. Laack nimmt folgende Einteilung vor. "Deutlich ließen sich zu dieser Zeit drei Gruppierungen innerhalb des Bundes voneinander abgrenzen: Die seit den Anfängen Beteiligten, ... war die eine. Zu ihnen gehörten Erdberg, Wilhelm, Bäuerle, Heinen, Kaestner, Lampa, Otto Stählin, Heinz Marr, Hofmann und Pfleiderer. In ihren Händen hatte bis dahin die Führung gelegen. Sie trat nach dem Tode Erdbergs als Gruppe ganz zurück.

In der Zweiten Gruppe, "von der der eine oder andere auch schon von Anfang an dabei war, die 35 bis 45jährigen", wird von Laack besonders die Person W. Flitners herausgestellt. Daneben gehörten zu ihr: Rosenstock, Angermann, Weitsch, Mann, Buchwald, Klatt, Weniger, Blum, Mennicke, Hermberg, Herrigel, Kaphahn, Schürholz, Merten, Ernst Michel, Mockrauer, Reuter, Leo Weismantel und Axel Henningsen. Laack schreibt über diese Gruppe: "Sie gehörten zur Kriegsgeneration, waren zumeist nach 1919 in die Volksbildung gekommen und eindeutig bestimmt durch ihre aktiv-demokratische Haltung"(252).

Was Laack unter "aktiv-demokratisch" versteht, wird leider nicht erläutert. Über die dritte Gruppe, also die "Jungen", sagt Laack: "Für sie war Volksbildung der erwählte Beruf, die Weimarer Republik die nach der Verfassung auszubauende parlamentarisch-demokratische Lebensform für Staat und Volk. ... (ihr) Ziel war die werdende Gemeinschaft des Volkes. Sie waren ... sozialkritisch, weniger 'kulturkritisch' in ihrer Ideologie, aber fast ausnahmslos kritische Glaubenschristen" (252).

Zu dieser Gruppierung gehörten u. a. H. Becker, Hammelsbeck, Hofmann und Laack.

Achte und letzte Woche 1930: Hohenrodt und die heutige Lage der Erwachsenenbildung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

1930 findet die 8. und letzte Hohenrodter Woche statt - "Hohenrodt und die heutige Lage der Erwachsenenbildung". Die Überschrift der Frankfurter Zeitung lautet: "Die Volksbildungsarbeit unter dem Druck der Politisierung des Lebens". Herrigels Bericht (FZ v. 12.10.1930) beginnt mit den Worten: "Die Volksbildung ist ein Politikum geworden: das ist die neue Situation, vor der sie heute steht. Die Machtgruppen der Unternehmer, der Gewerkschaften so wie der Konfessionen haben ihre eminente Bedeutung als Machtmittel für ihre Zwecke erkannt und suchen sich ihrer zu bemächtigen." "Die Frage ist, wie sich die Volksbildungsarbeit dieser neuen Lage gegenüber einzustellen hat, um ihre Aufgabe nicht aus den Augen zu verlieren oder sich aus der Hand reißen zu lassen.

Um diesen Gefahren zu entgehen darf sich die Volksbildung, nach Herrigel, weder "sektenhaft abgrenzen" noch sich selbst "als Machtgruppe auf das Feld des des politischen Kampfes" stellen.

Entgegen einer Bemerkung Laacks (267), schreibt Herrigel: "Die Tagung unterschied sich von den früheren schon äußerlich dadurch, daß mit wenigen Ausnahmen nur 'alte' Hohenrodter anwesend waren."

Herrigel berichtet über die Geschichte des Hohenrodter Bundes: "Im Anfang war diese anonyme Unsichtbarkeit des Bundes möglich, vielleicht notwendig, aber je sichtbarer die in Hohenrodt geleistete Arbeit und die von den Tagungen ausgehende Wirkung wurde, um so mehr entstand eine Beunruhigung bei den Außenstehenden, die durchaus begreiflich war ... Die Beunruhigung wuchs, als im Jahr 1927 die Deutsche Schule für Volksforschung und Erwachsenenbildung aus dem Hohenrodter Kreis heraus entstand, die durch Beiträge des Reiches und der Länder finanziert wurde, deren rechtlicher Träger aber der eigens hierzu gegründete, der Oeffentlichkeit ebenfalls undurchsichtig bleibende 'Hohenrodter Bund E. V.' war. So entstand eine Situation, die allmählich unhaltbar wurde. Der Hohenrodter Kreis wurde immer mehr der Gegenstand von Angriffen, wie sie z. B. auf der Breslauer Tagung des Reichsverbandes der deutschen Volkshochschulen zum Ausdruck kamen, deren Unrichtigkeiten zum Teil dem Hohenrodter Kreis selber zur Last fallen, da er es an der nötigen Publizität hatte fehlen lassen."

Herrigel bemerkt, daß bei den Einladungen "auch Fehler" gemacht wurden, denn diejenigen, die in derselben Arbeit standen, hätten "ein objektives Anrecht darauf" gehabt, an den Aussprachen teilzunehmen.

Er schildert nun die Umorganisation der Deutschen Schule und des Trägervereins, da die Situation zu einer "gründlichen Bereinigung" gezwungen hätte: Der "Verein Hohenrodter Bund E. V." hat sich umbenannt und heißt nun "Deutsche Schule für Volksforschung und Erwachsenenbildung E. V." Der Beitritt ist für "jeden Interessenten" möglich. Die Funktion des Vereins ist die Trägerschaft der "Deutschen Schule". Organe der Schule sind ein pädagogischer Rat und der "Verwaltungsausschuß". Herrigel berichtet: "Nicht ganz die Hälfte der Mitglieder dieses Ausschusses ... wurde von der Mitgliederversammlung gewählt". "Die Deutsche Schule ist damit unter Wahrung ihrer pädagogischen Autonomie ... der vollen Kontrolle der Öffentlichkeit unterstellt."

Die Aufgaben der Schule sind Forschung, die Ausbildung des Nachwuchses, und sie hat die "Verbindung mit Personen in anderen Berufen ... aufzunehmen und ihnen ihre sozialpädagogische Verantwortung zu zeigen". Über den Hohenrodter Bund wird gesagt: "Nachdem so die Deutsche Schule aus dem Hohenrodter Bund entlassen war, konnte sich dieser selber auf eine neue Grundlage stellen. Ein Organ, wie es die Deutsche Schule ist, versetzte den Hohenroder Bund ... in die Notwendigkeit, Bildungspolitik zu treiben. Die Ablösung der Schule bedeutet daher praktisch den Verzicht auf Bildungspolitik und die Rückkehr zu der ursprünglichen Aufgabe, unter den Angehörigen verschiedener Macht- und Weltanschauungsgruppen ein gemeinsames Gespräch herbeizuführen. ... Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gelehrt, daß die Möglichkeit eines solchen Gesprächs durch die Bildungspolitik untergraben wird, da die Teilnahme an der Bildungspolitik den Hohenrodter Bund selber in die Position einer Machtgruppe drängte".

Abschließend kommt Herrigel zu den Referaten, die während der Tagung gehalten wurden. Die Überschrift lautet: "Volksbildung und Politik" - das gemeinsame Thema der Referate war "die Klärung der gegenwärtigen Situation der Volksbildung im Verhältnis zu den Verschiedenen Machtgruppen", so Herrigel. Bei der Diskussion, wie auch bei den organisatorischen Fragen ging es "um nichts anderes als die Ermöglichung des Hohenrodter Gesprächs, um die Wahrung der pädagogischen Autonomie gegenüber den Macht- und Weltanschauungsgruppen. Der Politisierung des ganzen Lebens gegenüber, der sich auch die Volksbildung zunächst nicht entziehen kann, mußte die Frage gestellt werden ob die 'freie Volksbildung ... heute überhaupt noch einen Sinn hat, ob sie noch möglich ist, ob sie nicht ... ins Leere geht, da das, was sie zu geben hat scheinbar ein Luxus ist, der der wirtschaftlichen Notlage gegenüber nicht mehr zu verantworten ist; weiter auch, ... ob sie für ihre Arbeit noch die finanziellen Mittel erhält und die Legitimation besitzt, diese Mittel zu fordern. Besonders nachdrücklich wurde diese Frage von Schürholz gestellt, der sagte, die Volksbildung ... müsse die anderen Aufgaben einer veränderten Welt sehen. ... die Wirtschaft müsse mehr als bisher in den Mittelpunkt gestellt werden. Nur so werde es möglich sein, den wirtschaftlichen Kreisen gegenüber Autorität zu gewinnen. Demgegenüber hielt Ernst Michel ein sehr eindrucksvolles Referat über Politik und Volksbildung, in dem er davon ausging, daß es 'echte' Politik, die die Volksordnung, das Volk als Ganzes im Auge hat, heute nicht mehr gibt; 'politische Mächte' bedeutet heute 'gesellschaftliche Mächte', die durchweg politisch maskiert auftreten, die Politik nur als taktisches Mittel kennen und geistige Dinge nur uneigentlich bejahen, nämlich als Tauschobjekt im Interessenausgleich. Im Zustand dieser entarteten Politik ist eine unmittelbare Verbindung zwischen Volksbildung und den Machtgruppen ein Überspringen der Grenze, die der Volksbildung gesteckt ist; sie verändert die Volksbildung, auch wenn die Arbeitsmethode die gleiche bleibt."

Es folgt ein Zitat von Michel: "Gestaltende Volksbildung steht nicht als Institut auf derselben Ebene neben den Machtgruppen, sondern sie ist f r e i - s c h w e b e n d und hat ihren Grund im Glauben".

Abschließend vergleicht Herrigel nochmals die beiden Vorträge. Die wirtschaftliche Not dürfe der Volksbildner nicht ignorieren, aber er darf ihr "nur pädagogisch begegnen". Die Aufgabe der Volksbildung sei es, "sich nicht in die Front der Machtgruppen, auf dieselbe Ebene mit ihnen zu stellen, sondern diejenigen, die den Machtgruppen angehören, auf einen gemeinsamen Boden zu führen, um sie eine gemeinsame Sprache sprechen zu lassen. Michels Begriff der "Entartung" fällt auch in der Darstellung der Rede von Laack. Er berichtet, daß "in der Diskussion die Thesen von Michel stark angegriffen (wurden); insbesondere die 'Jüngeren' hatten den Eindruck, sie würden in der Praxis nicht weiterhelfen." (272) "Michels Ausführungen entsprachen wohl dem weithin in der Volksbildung vorhandenen Unbehagen an dem politischen Treiben der Zeit ... Seine Ansichten fanden aber wenig Zustimmung bei den Hohenrodtern. Rosenstock erklärte die Tendenz der Rede für unrealistisch."

Laack zählt noch Einwände von Weniger, Hofmann, Reuter, Flitner, Becker u. a. auf und schildert nochmals die Meinung der "Jüngeren", "die sich zu dem Vortrag nicht äußerten, (sie) waren übereinstimmend der Ansicht, das Michel von einer irrealen Sicht der Gesellschaft und ihrer Gruppierungen und von einem falschen Bild des Politischen im demokratischen Staat ausgegangen sei. Er lasse sich dazu von einem religiös betonten Ganzheitsbegriff leiten" (279).


Das Ende von Hohenrodt[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

"1931 wurde kein Wunsch nach einer Hohenrodter Woche an die Mitglieder des 'inneren Kreises' ... herangetragen" (Laack 1984, S. 291).

Der nächste und letzte Versuch vor dem Krieg ein Hohenrodter Treffen zu organisieren scheiterte 1932 an der zu geringen Zahl der Interessenten. Von 64 befragten Hohenrodtern sprachen sich nur 19 für ein Treffen aus (vgl. Laack, 294). J. Henningsens Meinung über das Ende von Hohenrodt verweist auf den Nationalsozialismus als Ursache: "Der Hohenrodter Bund selbst, der ja keine organisatorisch feste Form hatte, konnte nicht verboten werden, aber er war natürlich lamgelegt." (43)

Auch F. Laack verweist auf die "Zäsur durch die nationalsozialistische Herrschaft", die "jede weitere Klärung des Verhältnisses von Politik und Volksbildung durch ein Verbot" der "demokratischen Arbeit" der Hohenrodter verhinderte (280). F. Pöggeler schreibt (1958) in der erwähnten Besprechung von Henningsens Buch: "Henningsen weist nach, daß die innere Krise, an der der Hohenrodter Bund letztlich gescheitert ist, durch einen Widerspruch erzeugt wurde: ... Die Deutsche Schule ist denn auch, wie sehr sie konsequent aus den Hohenrodter Intentionen hervorging, zu deren Verhängnis geworden. Aristrokratisches und Demokratisches kamen sich hier ins Gehege, und es hat den Anschein, als habe der Hohenrodter Kreis diesen Gegensatz ... nicht erkennen wollen." (135)

Hervorzuheben ist, daß Herrigel seit 1923 von "Auflösung" "Abschluß" oder Ende der Arbeit geschrieben hat. Aussagen darüber welche Wirkung dies auf die Öffentlichkeit hatte wären aber Spekulation.


Zusammenfassung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Herrigel schrieb 1930: "... es ist nicht zuviel gesagt, daß die Entwicklung der deutschen Volksbildungsarbeit in den letzten sieben Jahren wesentlich von Hohenrodt aus beeinflußt wurde". Dieser Kreis, der sich als Vorbild und Vorwegnahme der Gesellschaftsordnung im Kleinen sah (vgl. Henningsen 1958, 112), ließ erst ab 1930 wenigstens bezüglich der "Deutschen Schule" mehr Öffentlichkeit zu. Ein Teil der leitenden Personen wurde gewählt. Das "Urbild und Modell einer echten Volksgemeinschaft", die "Zelle neuer Volksordnung" (Pöggeler) hat sich über die Möglichkeiten politischer Bildung keine Gedanken gemacht. Bei Durchsicht der Tagungsthemen und Referate fällt auf, daß nicht ein einziges mal "Demokratie" auf dem Plan stand.

Mit Blick auf den Pluralismus der Demokratie schreibt F. Pöggeler 1958: "Würde sich eine Gemeinschaft in der Art und im Anspruch des Hohenrodter Bundes heute bilden, müßten wir das sogar für gefährlich halten" (135).

Bemerkenswert ist, daß Herrigel das Argument aufnimmt, die Arbeiter sollten nicht mit "Surrogaten" vertröstet werden. Schumann hatte das in Hohenrodt gesagt. Bei Herrigel wird das zu einem Argument für die Verpflichtung der Erwachsenenbildung auf das Hier und Jetzt. Das Zerreißen der Spannung zwischen Idee und Wirklichkeit kann letztlich auch dazu geführt haben, daß man nicht zu neuen gemeinschaftsbildenden Ideen kam. Neben einer Geschichte, die freilich als eine kritikwürdige zu denken wäre, hätte sich die Orientierung an einem Gemeinwesen angeboten, welches als ein pluralistisches und demokratisch verfasstes dem einzelnen genügend Freiraum und Mitwirkungsmöglichkeiten gewährt.

Es gab Stimmen in Hohenrodt, die - vor allem in Zeiten der Wirtschaftskrise und geringer staatlicher Mittel seit 1929 - die Rolle der Erwachsenenbildung als berufliche Weiterbildung besonders betonten. Hier ist Heinrich Becker zu nennen der 1929 in Hohenrodt die Schlußansprache hielt und den "Alten" ein Versagen in der "Setzung von Prioritäten" vorwarf (vgl. Laack 1984, 255). Becker war seit Oktober 1929 der Nachfolger v. Erdbergs im preußischen Volksbild-ungsministerium. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß v. Erdberg dem "Jüngeren" Becker fehlenden "Hohenrodter Geist" bescheinigt hatte (Laack, 253). Ob es aber gerechtfertigt war, die berufliche Weiterbildung als Ziel der Hohenrodter so in den Vordergrund zu stellen, wie Herrigel dies schon seit 1925 tat, ist fraglich.

Es müßte an einzelnen Personen nachgewiesen werden ob und wie sich ihre Meinung verändert hat und welches Gewicht ihre Stimme in Hohenrodt hatte. Einige Hinweise können hier gegeben werden: Der "Realist" Picht hat nach 1923 nicht mehr an den Hohenrodter Wochen teilgenommen. Flitners Stellung beschreibt Laack: Dessen

"Beurteilung der Arbeit in Hohenrodt und sein Beitrag dazu ... hatten sich seit 1928 deutlich verändert. Er sah stärker das Problematische ... So hielt er die Woche 'Die Alten und die Jungen' für mißglückt. Es mag auch sein daß er die Fähigkeiten mancher alter Hohenrodter für nicht mehr ausreichend ... hielt, den 'Jüngeren' aber mit einem kritischen Abstand ... begegnete." (282)

Auch zum Ergebnis der letzten Hohenrodter Woche hatte er eine "zurückhaltende Einstellung" die in seiner "Befürwortung einer ordensmäßigen Gestalt des Hohenrodt tragenden Kreises" zum Ausdruck kam (282f).

Möglich ist, daß Robert v. Erdberg als "Herz und Zentrum" von Hohenrodt (Laack, 253), der "der Fiktion einer heute nicht mehr nachzuvollziehenden 'deutschen Bildungseinheit' anhing" (Pöggeler, 135), die Idee von der Volkseinheit als Bildungsziel aufrecht gehalten hat und vorher schon existierende Differenzen so stark waren, daß Hohenrodt nach seinem Tod zerbrach. Welchen Einfluss Herrigel ausgeübt hat ist schwer zu sagen. Auch hierzu einige Hinweise: Keine Darstellung ist in der Beschreibung der Bedeutung Herrigels für die Zeit um 1920 so anschaulich und zugleich undurchsichtig wie die Schilderung von W. Flitner (1986): Ein "Angriff auf unser Kulturbewußtsein ging von Hermann Herrigel aus". Seine Thesen waren geeignet "unsere Arbeit lamzulegen" (275). Flitner schreibt daraufhin die Laienbildung, die von "allen Seiten" kritisiert wurde, "zumal von Mitstreitern im Werk der neuen Erwachsenenbildung: von Hermann Herrigel ..." (276!). Aus dem nicht gerade konstruktiven Kritiker ist (in Flitners Buch von der einen auf die andere Seite) ein Mitstreiter geworden. F. Laack führt in seinem Buch Herrigel an exponierter Stelle an und nicht unter dem Kapitel "Skeptisch Prüfende", obwohl die kritische Haltung Herrigels hervorgehoben wird. In den Protokollen des Hohenrodter Bundes ist eine einzige Wortmeldung von Herrigel festgehalten: Eine Frage zu einem Vortrag über Kunst. Insofern ist auch die Charakterisierung von Laack richtig, das Herrigel ein zurückhaltender Mensch war: Er hörte meistens nur zu (vgl. 496). Es ist aber nochmals daran zu erinnern, daß die Tagungsberichte die Diskussionen nur 1927 und 1928 protokollieren Laack (496) merkt an, daß Herrigels Überlegungen über Wissenschaft in den Plan der Deutschen Schule für Volksforschung und Erwachsenenbildung eingegangen sind.

Einflüsse über persönliche Kontakte oder Freundschaften wären zu überprüfen: Der Katholik Ernst Michel war mit Herrigel freundschaftlich verbunden. Herrigel veröffentlichte mit Hammelsbeck zusammen eine Gegendarstellung zu den "Anonymen Angriffen" gegen den Hohenrodter Bund (vgl. Hammelsbeck 1990, S. 120). Die Nähe zu Flitner und seinen "Autonomievorstellungen" ist unverkennbar. Flitner schreibt 1933 an Hammelsbeck: "Ich ... wäre frei, mit Dir (mit Picht, Herrigel, Michel usw.) eine neue Zeitschrift zu begründen, die sich an die Beeinflussung des geistigen Gesamtgeschehens unserer Tage heranmacht. ... Nachdem die 'Tat' sich ausgeschrieben hat ist ein solcher Schritt durchaus möglich." (Zit. nach Hammelsbeck 1990, S. 301)

Zwischen Flitner und Herrigel bestand eine weitere Verbindung. Flitners "Erinnerungen" (1986) ist zu entnehmen, daß sich einige Hohenrodter nach 1931 im "Silvesterkreis" zusammenfanden. Ihre "zunächst wage Zielsetzung" war es, einen neuen "Weg zur Demokratischen Staatsform zu suchen" (347). Herrigel nahm zunächst an allen Treffen teil. Sein Name verschwindet jedoch nach 1933 aus den Aufzeichnungen Flitners. Dort ist auch nachzulesen, daß sich der Silvesterkreis zunächst um eine Kooperation mit dem "Tat-Kreis" bemühte (vgl. S. 349f). Der umfangreichen Untersuchung über die Frankfurter Zeitung von Gillessen (1986, S. 76) ist zu entnehmen, daß noch 1930 in Kreisen der FZ "die Gedanken des "Tat"-Kreises viel ernster genommen wurden, als die der Nationalsozialisten".

Die zweite Veröffentlichung über die 6. Hohenrodter Woche ("Weltanschauung" / 1928) im "Kunstwart" lässt die Vermutung zu, daß Herrigel sich in der Frankfurter Zeitung nicht mehr so ausdrücken konnte wie er wollte. Das mag mit seiner Stellung bei der Frankfurter Zeitung zusammenhängen. Bevor wir damit zum letzten Kapitel kommen, soll noch ein weiterer Gedankengang angesprochen werden.

Seit 1923 machte man sich in Hohenrodt mit dem Ersatzbegriff "Heimat" Gedanken darüber, wie die Volksgemeinschaft zu verwirklichen wäre - über den "Sauerteig" bis zur "sozialpädagogischen Verantwortung der Ingenieure" (Herrigel 1930) hat man daran festgehalten. Ab 1933 wurde die "Volksgemeinschaft" verwirklicht. Damit ist die These von Markert angesprochen, die gestaltende Volksbildung in der Weimarer Republik hätte einen "präfaschistischen Charakter" gehabt (vgl. Markert 1973, S. 138).

Exkurs: Hermann Herrigel und die Frankfurter Zeitung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Obwohl wir den Untersuchungszeitraum damit überschreiten soll versucht werden, das Ende der Beschäftigung Herrigels bei der Frankfurter Zeitung zu beleuchten. Schließlich hängt mit dieser Frage auch die andere nach der Kontinuität des Denkens in der Zeit von 1918 bis 1945 zusammen. Zur Person Hermann Herrigel gehört diese Frage wieder seit der Veröffentlichung Gillessens.

Es ist daran zu erinnern, daß Herrigel von der Frankfurter Zeitung als Archivar eingestellt wurde. Mit ersten Artikeln zur Volksbildung hatte er sich einen Namen gemacht. Als das Hochschulblatt eingerichtet wurde hatte Erich Tross die Leitung, über den in der Literatur kaum etwas zu finden ist. Nachdem Tross Anfang der 30er Jahre verstarb, wurde Herrigel sein Nachfolger.

Über das Ende der Beschäftigung Herrigels schreibt Gillessen: "Mit einem der Frankfurter Redakteure wurde es schwierig. Hermann Herrigel, zuständig für Fragen der Hochschulen und der Kirchen, war ein Grübler und Sucher, der sich verirrt hatte." Im folgenden zitiert Gillessen aus einem Brief von Simon an Reifenberg (v. 3. 6. 1933): "Er (Herrigel, W.B.) ist mit einem Fuß schon in der Bewegung der Deutschen Christen drin und soll angeblich auch in der Judenfrage sich bedenklich dem nationalsozialistischen Standpunkt nähern."(Gillessen 1986, 147) Schon die Formulierung verrät, daß es sich hier vermutlich um Gerüchte handelt. Anschließend wird mit Bezug auf ein Konferenzprotokoll vom 15. 6. 1933 mitgeteilt: "Herrigel wurde vergattert, mehr Distanz zu halten" und Gillessen fährt fort: "Einigen seiner Berichte merkt man Symphatie für die Deutschen Christen an; unredigiert dürften sie noch stärker gewesen sein" (a.a.O., 147).


In einem Beitrag von Benno Reifenberg findet sich ohne Namensnennung, was in diesem Artikel nicht unüblich ist, folgender Absatz: "Es hat in der Redaktion selbst, bis auf einen Fall, keinen Zweifel darüber gegeben, daß alle prinzipiellen Versuche, das Dritte Reich als notwendig zu begründen, Improvisationen waren, ... Die erwähnte Ausnahme bezieht sich auf den theologischen Streit innerhalb des Protestantismus, der in der Gründung der "Deutschen Christen" und der Verfehmung der "Bekennenden Kirche" sein vorläufiges Ende fand. Die Positionen: hie Christentum - hie Nationalsozialismus zeichneten sich zwar von Anfang an als polar ab (...), aber es dauerte doch eine Weile ehe sich die verschiedenen protestantischen Kräfte zu deutlicher Figur sammelten. Der Leiter einer Beilage, die von der "Frankfurter Zeitung" für "Hochschule und Jugend" seit Jahren entwickelt worden war, ein im innersten unpolitischer Geist, fand sich in grübelnden Aufsätzen allmählich in Gegensatz zur "Bekennenden Kirche" geraten und deshalb, weil man die damit erreichte Nähe zu den "Deutschen Christen", wie man wußte ins politische projezierte, auf der Seite des Nationalsozialismus. Als diese Entwicklung der Redaktion klar wurde, trennte sie sich von jenem Redakteur." (42)

Bei Gillessen heisst es schließlich: "Im Frühjahr 1934 verschwand sein (Herrigels, W.B.) Autorenzeichen aus den Spalten der Zeitung. Die Kollegen und er waren wegen der Beurteilung des evangelischen Kirchenkampfes einander fremd geworden. Es war Kircher gewesen der auf die Entlassung Herrigels gedrängt hatte." (151)

Die Behauptung Herrigel hätte nach Anfang 1934 nicht mehr für die FZ geschrieben ist schlicht falsch. Tatsächlich ist nach der Bibliographie von Schulz ein Einschnitt erst ab Februar 1935 zu verzeichnen. Das letzte von ihm herausgegebene Blatt "Für Hochschule und Jugend" ist vom 3. Februar 1935.

Sein Nachfolger war Dolf Sternberger.

Auch danach erschienen noch einzelne Artikel - der letzte am 9. 4. 1939.

Damit wird aber die Darstellung Gillessens fragwürdig.

Ab Mitte des Jahres 1935 hat Hermann Herrigel seine eigene Zeitung herausgegeben.Herrigel hat sich für die Deutschen Christen eingesetzt - das ist nicht zu bezweifeln. Es ist aber auch daran zu erinnern, daß er sich schon 1917 (FZ v. 23.10., vgl. o. S. 52) gegen einen "pseudowissen-schaftlichen Rassenaberglauben" ausgesprochen hat. Er hat sich nach meiner Kenntnis nie aktiv für den Nationalsozialismus eingesetzt.

Am 20. April 1939 wird die Frankfurter Zeitung Adolf Hitler von der Partei zum Geburtstagseschenk gemacht (Gillessen, S. 389f).

Schlußwort[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Beschäftigung mit Hermann Herrigel hat gezeigt, daß bei der Entstehung der "Neuen Richtung" das Nachdenken über eine Auswahl der Leser und Volkshochschulteilnehmer beteiligt war. Die individuell orientierte Bildungsarbeit war bei einem Teil der Neuen Richtung mit einem für die Erwachsenenbildung heute unvorstellbaren Ausleseprinzip verbunden. Damit im Zusammenhang stehend, ist nochmals das Bild vom Volk als Pöbel (Luther) zu erwähnen.

An der Wiege des Hohenrodter Bundes stand ein teilweise unreflektiertes antidemokratisches Denken. Es muß kaum mehr darauf hingewiesen werden, daß es bis heute noch nicht selbstverständlich ist - auch in Parteien und Gewerkschaften - die Menschen an Entscheidungsprozessen ausreichend zu beteiligen. In Zeiten knapper Finanzen werden Seminare in denen Teilnehmer Erfahrungen sammeln könnten wie in einer fruchtbaren Atmosphäre Kommunikation gelingen kann, bis zum Widersinn vergrößert. Hier kann die Neue Richtung mit ihrer Idee der Arbeit in kleinen Gruppen nach wie vor richtungweisend sein. Die Beschäftigung mit der Erwachsenenbildung der Weimarer Zeit kann uns für die seit Jahren wieder überschäumende Diskussion zum Thema "Individualisierung" sensibilisieren. Die - im Zusammenhang mit der Individualisierung geäußerten - Befürchtung, daß die Menschen überfordert werden, darf nicht dazu führen, daß man ihnen die Fähigkeit zur Entscheidungsfindung abspricht.

Einzelnachweise und Anmerkungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Werner Markert hat 1973 seine Arbeit "Erwachsenenbildung als Ideologie" vorgelegt.
  2. Glücklicherweise liegt mir eine, von Hermann Herrigel selbst verfasste Kurzbiographie vor, die mir Frau Marianne Pfleiderer, die Tochter Hermann Herrigels, zur Verfügung gestellt hat. Ihr möchte ich für ihre Bemühungen an dieser Stelle herzlich danken.
  3. Seitenzahlen in Klammern ohne weitere Angaben beziehen sich immer auf das zuletzt genannte Werk
  4. F. Laack und Axel Henningsen (der Vater von J. Henningsen) haben an einigen Hohenrodter Wochen teilgenommen.
  5. Nach Henningsen in Dresden-Löptau.
  6. Mir liegt eine Bescheinigung von Walter Hofmann vor. Es fällt auf, daß es erst 1948 von Hofmann ausgestellt wurde. Zum zweiten ist hier erstmals erwähnt, daß Herrigel Leiter der Bibliothek Dresden-Plauen war. Außerdem ist als Trennungsdatum hier - abweichend von anderen Aussagen - 1917 angegeben.
  7. Titel einer Kampfschrift von W. Hofmann (1917)
  8. Vgl. Henningsen 1958, S. 14f. Erst 1916 gelang wenigstens der Versuch einer Kooperation im "Ausschuss der deutschen Volksbildungsvereinigungen" (s. u.).
  9. vgl. v. Erdberg 1911, 382
  10. Vgl. dazu W. Scheibe in: Pöggeler 1975, S. 62ff; Wirth 1978, S. 202ff und D. Langewiesche 1989, S. 338f. Verschiedene Gesichtspunkte und Charakteristika der "Neuen Richtung" werden im Verlauf der Arbeit immer wieder aufgegriffen.
  11. Die Nähe zur Reformpädagogik ("vom Kinde aus") ist unverkennbar.
  12. R. Stammler war ein Lehrer Erdbergs.
  13. Der Wissenschaft fehle es an einem "einheitlichen, auf einen Punkt gerichteten großen Zug. Die katholische Kirche und die Sozialdemokratie" betonen in ihren Dogmen jeweils nur ein "Bildungselement", so v. Erdberg (382).
  14. Scheler nennt im einzelnen: die Arbeitstheorie des Eigentums von J. Locke, kapitalistisches Manchestertum von Smith und den englischen Liberalismus seit Locke; die Biologie Darwins, Spencer, den Neupositivismus, die "positivistisch-pazifistische" Geschichtstheorie und den Utilitarismus (Bacon). Die utilitaristische Ethik beruht, so Scheler, auf einer Verallgemeinerung des englischen Charakters, des englischen "cant": "Cant ist ein 'Lügenäquivalent mit gutem Gewissen'" (388).
  15. Bennata Otten: Freihand in der öffentlichen Bücherhalle. In: Blätter für Volksbibliotheken und Lesehallen. 16. Jg. (1915), S. 69-74.
  16. Die Auflagensteigerung der Zeitschrift "Die Tat", Anfang der 30er Jahre (1929: 800, 1932: 30000), wird häufig als ein besonderes Indiz für eine "konservative Revolution" gesehen. 1916 war die Auflage eher klein. Dennoch war die Tat-Flugschrift etwas besonderes: Z. B. Eduard Weitschs Arbeit "Was soll eine deutsche Volkshochschule sein und leisten" (1918) wurde als Tat-Flugschrift veröffentlicht. A. Weber und F. Tönnies veröffentlichten in der "Tat".
  17. G. Stammler (1914, 9); er möchte einen Beitrag leisten die "Grundlagen für eine neue Zucht, für eine geistige Formung des Menschenwesens zu schaffen". Dabei führt das "Ideal des 'schönen Menschentiers' ... zu einer inneren Verwahrlosung". Man muß ebenso "auf die Bestie hin erziehen" (9). Ein Kapitel seines Büchleins handelt "Von der Führerschaft". Dort lesen wir: "Herrentum: Der Weg der ordnenden Geistigkeit unter Ungleichen. Der Starke schafft hier Einheit indem er sein Bild in die widerspenstigen Seelen drückt."(33)
  18. Herrigel führt auch einen Grund an: "jeder ist ja dem positivistischen Zeitgeiste gemäss stolz auf seine induktiv-wissenschaftliche Methode und nur zu leicht geneigt, eine theoretische Abhandlung als allgemeines Gerede ... abzulehnen" (129). Daraus erklärt sich auch Herrigels Ablehnung der empirischen Arbeiten Hofmanns (vgl. Herrigel 1916c, S. 3).
  19. Diese Sichtweise führt dazu, daß Werner Picht noch 1921 (S. 128) bemerken wird, daß Herrigel den Unterschied nicht richtig darstellen würde (s. u.).
  20. Hofmann (1910b): Die "schmarotzenden Elemente", die "Vielleser" stammten vorwiegend aus "bürgerlichen Kreisen ... Denn um viel lesen zu können, bedarf es auch vieler Zeit" (169).
  21. (Volksbildungsarchiv Bd. 5, S. 417)
  22. Die Problematik die hier sichtbar wird, nämlich die der Bewertung, kommt schon in den Bezeichnungen zum Ausdruck, die verwendet wurden. In Herrigels Schriften finden wir den "Normalleser", den "Qualitätsleser", und den "Nichts-als-Leser" (Herrigel 1916b, S. 138). Dann gibt es noch den "Vielleser", und der Mißbrauch des lesens zum sozialen Aufstieg wird als "Hinauflesetreppe" bezeichnet.
  23. Gründungsprotokoll im "Zentralblatt für Volksbildungswesen" 15. Jg., S. 171-178.
  24. An dieser Stelle kann nochmals auf die Arbeiten von Henningsen und auf die ausführliche Schilderung von Fritz Laack verwiesen werden, der an den Tagungen seit 1928 teilgenommen hat. Im Folgenden wird, wenn nicht besonders vermerkt, immer aus seinem Buch "Das Zwischenspiel freier Erwachsenenbildung" (1984) zitiert.
  25. Wenn im folgenden von "Tagungsbericht" gesprochen wird sind diese "Tagungsberichte des Hohenrodter Bundes" gemeint. Im ersten Band (1928) sind die Berichte der Jahre 1923 - 1927 wiedergegeben, der zweite Band (1929) enthält die Protokolle der 6. Hohenrodter Woche 1928.
  26. Henningsen 1959, S. 25
  27. vgl. Henningsen 1958, S. 70ff