Diskussion:Mythisches Analogon
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[Quelltext bearbeiten]Im folgenden arbeitet Lugowski die formalen Merkmale heraus, mit denen sich die Künstlichkeit eines literarischen Textes beschreiben lässt. Anhand einer Analyse von Wickrams Roman Galmy entwickelt er sechs “überindividuelle Formbezirke”, die das mythische Analogon konstituieren.
Den ersten Formbezirk bezeichnet er als “lineare Anschauung”. Damit gemeint ist eine zeitlich lineare Erzählweise, die keine parallelen Handlungsstränge kennt und sich zu einem Zeitpunkt der erzählten Zeit stets auf nur einen Schauplatz konzentriert.
Mit “Aufzählung und Unverbundenheit”, dem zweiten Formbezirk, beschreibt er das Nacheinander von vielen unabhängigen Handlungsstücken, die in der Regel “Angelpunkt[e] des Geschehens” bilden. An dem Phänomen, daß bestimmte Nebenfiguren in literarischen Texten nur auftreten, weil sie “gebraucht werden” (Lugowski wählt das Beispiel des Boten, der eingeführt wird, weil ein Brief zu befördern ist), zeigt sich der dritte Formbezirk der “Funktion”, der aber nicht ausschließlich auf Nebenfiguren beschränkt wird: Auch die Hauptcharaktere können bestimmte Funktionen erfüllen.
Der vierte Formbezirk heißt “Gehabtsein und Wiederholung”. Der Begriff “Gehabtsein” scheint auf die Thematisierung der Liebe in literarischen Texten abzuzielen: Eine Figur, die im erzählten Geschehen von der Liebe überwältigt wird, habe nicht Liebe, sondern werde von der Liebe gehabt. Den Begriff “Wiederholung”, der dem Gehabtsein “innerlich verwandt” sei, bindet Lugowski recht eng an Textbeispiele aus dem Galmy, die das zweifache Erzählen einer Begebenheit (durch den Erzähler und durch einen Brief) illustrieren. Er versäumt es, deutlich zu machen, worin die Überindividualität dieses vierten Formbezirks besteht.203
Der fünfte Formbezirk, die “Motivation von hinten”, bildet das Gegenmodell zur “vorbereitenden Motivation”. Lugowski nennt als Beispiel für vorbereitende Motivation den Schriftsteller, der die Geliebte des Helden in der Absicht sterben lasse, dessen Größe im Umgang mit dem Schmerz zu zeigen. Im Gegensatz zu diesem Modell bestehe eine Erzählung, die von hinten motiviert sei, aus den schon erwähnten “Aufzählungen”, die dem an vorbereitende Motivation gewöhnten Leser zusammenhanglos erscheinen, denn sie hängen “mit dem herausspringenden Resultat notwendiger zusammen als untereinander.” Lugowski geht von einer immer wiederkehrenden, auf ein Resultat abzielenden Struktur aus, die sowohl die gesamte Erzählung als auch die einzelnen Teile präge; ein literarischer Text verhalte sich zu seinen Teilen “wie der große Kristall zu den kleinen, in die er zerfällt, wenn man ihn zerschlägt, und die von der gleichen Struktur sind wie der große.”
Der sechste Formbezirk heißt “Die Begrenzung der dichterischen Welt” und besteht aus drei Komponenten. Die Beschränktheit der Ausdehnung zeigt sich in der schon angesprochenen Linearität des Erzählens und eine Entwertung der Zeitlichkeit ergibt sich durch die nicht nur am Schluß, sondern in den einzelnen, voneinander unabhängigen Aufzählungen ständig endende Handlung. Eine Begrenztheit der Hindernisse (etwa der Intrigen gegen den Helden) bestehe schließlich darin, daß ihre Überwindung immer schon mitgedacht sei und sie somit “nicht mehr ganz Hindernis” seien.
Diese sechs “überindividuellen Formbezirke”, die Lugowski an Wickrams Roman deduktiv entwickelt, konstituieren das mythische Analogon. In ihm zeigt sich ein bestimmtes Weltbild, welches mit dem Inhalt (der Handlung) eines Textes nichts zu tun hat, nämlich “eine Auffassung, der die Welt in eminentem Maße Ganzheit ist.” Da die einzeltextunabhängige Formensprache, in der sich dieses Weltbild manifestiert, von den Rezipienten selbstverständlich hingenommen wird, entsteht eine Gemeinsamkeit, eine Teilhabe am “formalen Mythos”, die der “mythosgetragenen Gemeinsamkeit im Angesichte des tragischen Spiels” im antiken Griechenland vergleichbar ist.
Die sechs Bezirke beanspruchen einzeltextunabhängige Geltung, so sind sie doch nicht allgemeingültig. Lugowskis stellt seine Untersuchung ausdrücklich unter eine literaturhistorische Fragestellung, die zunächst einmal nur im “Typ der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Prosaerzählung” eine “Analogie zu mythischen Strukturen” sieht.
Es geht aber auch nicht darum, die Begriffe Lugowskis zu übernehmen und auf Katzensilber anzuwenden; zunächst einmal soll seine Grundthese für die Analyse von Katzensilber fruchtbar gemacht werden. “Geschichtsphilosophisch impliziert Lugowskis Untersuchung”, so Heinz Schlaffer, “daß sich die Restbestände mythischen Denkens auf ästhetische Strukturen zurückgezogen haben, während seine ursprüngliche Lebensmacht bereits geschwunden ist.”205 Dies muß aber – ohne die für den frühneuzeitlichen Roman gültigen ästhetischen Strukturen zu verallgemeinern – auch für “die Analyse viel späterer Romane” berücksichtigt werden, denn “das mythische Analogon” ist, so Lugowski, “konstitutives Moment aller Dichtung”.206
Das zweite Formelement besteht in der Anreicherung der Erzählung mit symbolisch aufgeladenen Details, die von heutigen Lesern nur zu leicht überlesen werden. Die “röthlichen Mäuslein”, “Eichhörnchen”, “Wiesel und Iltisse” (K, 251) beispielsweise kündigen dem Kenner der volksmythologischen Tradition Gewitter und anderes Unheil an, und auch der in der Erzählung immer wieder erwähnte Haselnußstrauch “ist eine der wichtigsten Zauberpflanzen.”209
abgeschlossen. Im Gegensatz zu Lugowskis mythischem Analogon, welches sich als Restbestand mythischen Denkens nur noch in der ästhetischen Struktur literarischer Texte manifestiert,
203Besonders am vierten Formbezirk zeigt sich die Ungewöhnlichkeit von Lugowskis Terminologie, die von der Fachwissenschaft auch nicht akzeptiert wurde. Obwohl Lugowski die Begriffsneubildungen in seiner (erfolgreichen) Habilitationsschrift widerrufen hat, plädiert Heinz Schlaffer dafür, die hier erwähnten Termini “ernst zu nehmen. Sie scheinen mir, hat man sich erst auf ihren Sachverhalt eingelassen, so unentbehrlich wie die Begriffe Parataxe, Kreuzreim, Exposition, oder Ich-Erzählung. Ihr Platz im Grundriß literaturwissenschaftlicher Terminologie ist noch unbesetzt” (Schlaffer in Lugowski 1994, XIX).
Als schöpferisch bewusstes Prinzip drückt sich das Analogon-Verhältnis zum Mythos am klarsten in der Grunderfahrung des klassischen Goethes aus. Um von Chaos zu Form zu gelangen müsse man so Goethe nach dem Untergang aller normativen Systeme die Form eben eben selbst bilden;