Diskussion:Nichtanwendungserlass

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Nichtanwendungserlass, Kommentar[Quelltext bearbeiten]

Kurz, präzise, objektiv - hervorragender Artikel! (nicht signierter Beitrag von 145.254.50.212 (Diskussion) 20:14, 27. Apr 2005 (CEST))

Der Beitrag zum Thema „Nichtanwendungserlass“ scheint mir durch seine Kürze Missverständnisse zu Eigenschaft und Funktion dieses Instruments des Bundesfinanzministeriums zu provozieren.
Ein sogenannter Nichtanwendungserlass (N.) ist ein Schreiben des Bundesfinanzministeriums (BMF), das im Bundessteuerblatt (BStBl.) wie eine allgemeine Verwaltungsvorschrift veröffentlicht wird. Es verpflichtet die Finanzbehörden, eine bestimmte, gleichzeitig im BStBl. veröffentlichte Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) – die darin enthaltenen Grundsätze - nicht über den entschiedenen Einzelfall hinaus anzuwenden.
Diese Praxis der Finanzverwaltung wird insbesondere in der Steuerberaterschaft sehr kritisch gesehen, da weit überwiegend BFH-Entscheidungen betroffen sind, deren Rechtsgrundsätze sich günstig für die Steuerpflichtigen auswirken würden. Neben solcher Argumentation werden jedoch auch aus der Richterschaft gewichtige Rechtsargumente angeführt, die sich auf das Rechtsstaatsprinzip und insbesondere die Gewaltenteilung beziehen (statt aller mit zahlreichen Hinweisen: Joachim Lang, Reaktion der Finanzverwaltung auf mißliebige Entscheidungen des Bundesfinanzhofs, Referat auf dem Deutschen Richtertag 1991, Steuer und Wirtschaft 1992, Seite 14 ff; die richterliche Sicht grundlegend bei Franz Klein, BFH-Rechtsprechung – Anwendung und Berücksichtigung durch die Finanzverwaltung, Vortrag auf dem Deutschen Steuerberatertag 1983, Deutsche Steuer-Zeitung 1984, S. 55 ff).
In den zehn Jahren von 1971 bis 1980 sollen von 4.464 im BStBl. veröffentlichten BFH-Entscheidungen 62 (Lang, S. 14), in den fünf Jahren von 2000 bis 2004 von 1.654 amtlich veröffentlichten Entscheidungen 28 mit einem N. belegt worden sein (http://www.steuer-newsletter.de/themen/tipps/article.php/id/1057). Diese Zahlen sind jedoch deshalb von begrenzter Aussagekraft für die praktische Bedeutung dieser BMF-Schreiben, weil ein N. regelmäßig besonders wichtige Entscheidungen des obersten Finanzgerichts betrifft, in denen der Rechtsauffassung des BMF widersprochen wird.
Der BMF lenkt den Vollzug der Bundesgesetze und Verordnungen durch die Landesfinanzbehörden unter Anderem mit sogenannten BMF-Schreiben, weil ihm ein unmittelbares Weisungsrecht von den Ländern auch bei der Ausführung von Bundesgesetzen bestritten wird. Ein Instrument zur Herstellung der bundesweiten Einheitlichkeit der Rechtsanwendung ist die Veröffentlichung der BFH-Entscheidungen im BStBl., die das Gericht selbst als grundlegend bedeutsam dazu bestimmt hat. Diese amtlichen Veröffentlichungen haben im Unterschied zu den zahlreichen weiteren Urteilsveröffentlichungen in Fachzeitschriften zur Folge, dass die Rechtsgrundsätze der so bekannt gegebenen Entscheidungen z.B. durch die Finanzämter in allen vergleichbaren Fällen anzuwenden sind. Das ist nicht selbstverständlich, weil Gerichtsentscheidungen (wenn sie keine Verfassungsgerichtsentscheidungen sind) nur zwischen den Parteien wirken, die den Rechtsstreit geführt haben.
Um Entscheidungen von besonderer Bedeutung weiterer Klärung zuzuführen, veröffentlicht das BMF amtlich BFH-Entscheidungen, die seiner Rechtsauffassung grundlegend widersprechen, und nimmt die darin liegende Weisungswirkung für die Finanzämter mit einem N. wieder zurück. Ein solcher N. wird unter Federführung des BMF zwischen den obersten Finanzbehörden abgestimmt.
Die Rechtsnatur dieser Weisungen und deren Rücknahme durch einen N. ist wiederum ein aus verfassungsrechtlichen Gründen problematisierter Punkt.
Die Bindungswirkung der BMF-Schreiben für die Landesfinanzbehörden beruht nämlich nicht auf einer ausdrücklichen gesetzlichen Grundlage. Sie folgt einer Vereinbarung zwischen BMF und Landesfinanzministern vom 15.01.1970. Sie hatte Vorläufer nach der Föderalisierung der Reichsfinanzverwaltung 1949 schon in den 1950-Jahren in einzelnen Ländererlassen (z.B. Erlass des Hessischen Ministers der Finanzen vom 02.01.1952, O 1153/S 1216 – 1 – II/1, Auszug zitiert bei Reinhard Hein, Vorläufiger Rechtsschutz im Verfahren der Herabsetzung von Einkommensteuer-Vorauszahlungen bei der Beteiligung an steuerbegünstigten Kapitalanlagen, Betriebs-Berater 1980, S. 1099, 1101, Fn. 18; gleichlautend der Erlass des Finanzministers Nordrhein-Westfalen vom 07.01.1952, O 1153 – 11150/VA, Auszug zitiert in AO/FGO-Handausgabe, Stollfuß-Verlag, zu § 4 AO; und Praktiker-Handbuch Abgabenordnung, IDW-Verlag, Anlage 3) und in einer Verabredung zwischen dem BFH und dem BMF vom 15.10.1955 (BMF-Niederschrift vom 11.02.1956, IV A/1 – S 1229 – 92/55 II. Ang. – III B/2 – S 1210 – 13/55, veröffentlicht in Der Betriebsberater 1956, S. 230). Die Grundsätze dieses Verfahrens werden auch von Finanzgerichten beachtet (z.B. Finanzgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 13.07.1990, IX K 206/85, Deutsche Steuer-Zeitung 1991, S. 347, 3. Leitsatz).
In anderen Rechtsgebieten als dem Steuerrecht und dem Sozialrecht ist das Instrument N. seltener (vgl. Klein, S. 58), es kann allerdings ohnehin nur für die Verwaltungsanwendung öffentlich-rechtlicher Normen in Betracht kommen.
Die Verabredung zwischen dem obersten Finanzgericht und den obersten Finanzbehörden und die zwischen den Bundes- und Landesfinanzbehörden sollen gewährleisten, dass in Fällen grundlegender Differenzen über die Auslegung von Steuergesetzen die Finanzverwaltung nicht immer wieder mit vergleichbaren Fällen bis in die oberste Instanz prozessiert. Es soll vielmehr nach Ergehen eines N. bei nächster Gelegenheit ein neuer Fall vor den BFH gebracht werden, um diesem Gelegenheit zu geben, seine Rechtsauffassung und die des BMF erneut und abschließend zu überprüfen. Das BMF tritt diesen Verfahren dann regelmäßig bei, um selbst seinen Rechtsstandpunkt vorzubringen. Bleibt der BFH bei seiner Rechtsauffassung, wird der N. aufgehoben.
Dem entspricht der Vollzug dieser Vereinbarungen bis heute.
Die grundlegenden Rechtsbedenken der Steuerberater- und der Richterschaft sind jedoch ungeklärt geblieben. Bislang wurden weder diese Argumente noch die Grundsatzposition des BMF, es sei zu Verwaltungsanweisungen gegenüber den Landesfinanzbehörden befugt, abschließend entschieden. In Abständen allerdings nehmen Bundestagsparteien das Thema N. zum Anlass für Anfragen an die Bundesregierung. Die Fragen und Antworten umreißen und vertiefen weitere Aspekte des Problems (z.B. Bundestagsdrucksache 14/6716 vom 20.07.2001, http://dip.bundestag.de/btd/14/067/1406716.pdf).
Kolkrabe (nicht signierter Beitrag von Kolkrabe (Diskussion | Beiträge) 01:00, 8. Jun 2006 (CEST))
Die Behauptung aus dem Kurzartikel, die Bundesregierung rechtfertige ihre Praxis mit dem Rechtsstattsprinzip in Art. 20 des Grundgesetzes, habe ich nirgendwo belegt gefunden. Die Regierung muss deshalb auch nicht konsequenterweise antreten, alle Urteile auf deren Allgemeingültigkeit zu überprüfen. Sie nimmt, wie in dem ausführlicheren Beitrag von Kolkrabe mit Fundstelle belegt (Bundestagsdrucksache) vielmehr eine Weisungsbefugnis gegenüber der Verwaltung in Anspruch (offenbar aber nicht unbestritten).
Ich habe wegen des eingehenderen Informationsgehalts den Beitrag von Kolkrabe in den Artikel übernommen.
Bonoba (nicht signierter Beitrag von 194.95.179.178 (Diskussion) 19:56, 26. Jun 2006 (CEST))
Auf [[1]] heißt es: „Zu dieser eigenverantwortlichen Prüfung der Rechtsanwendung ist die Verwaltung aufgrund des Artikels 20 Abs. 3 des Grundgesetzes berechtigt und verpflichtet.“ Das Bundesfinanzministerium beruft sich also auf. Art. 2ß GG 84.59.130.37 16:39, 18. Aug. 2011 (CEST)[Beantworten]
Ja, imho unnötigerweise ist der Sachverhalt aber im Zuge einer unkommentierten Ergänzung mal abhanden gekommen. Ich habe ihn an passender Stelle belegt wieder eingefügt. --84.141.12.106 19:22, 27. Jul. 2018 (CEST)[Beantworten]

Inhaltlicher Fehler[Quelltext bearbeiten]

Nichtanwendungserlasse gibt es keineswegs nur vom Bundesministerium der Finanzen (dort sind sie allerdings am verbreitetsten und daher bekanntesten), sondern sind prinzipiell auch durch andere oberste Instanzen von Verwaltungsbehörden möglich: z.B. durch Landesministerien (in der Praxis angewendet z.B. im Vergaberecht) oder bei der Bundesanstalt für Arbeit. (nicht signierter Beitrag von 91.44.237.121 (Diskussion) 21:50, 30. Apr 2008 (CEST))

Zumindest liest sich das so in der schon weiter oben verlinkten Verlautbarung des BMF:
Hat der BFH eine Gerichtsentscheidung zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt, prüfen die obersten Finanzbehörden des Bundes und der Länder, ob das BFH-Urteil bzw. der BFH-Beschluss von den Finanzämtern im Interesse der Rechtssicherheit und der Gleichmäßigkeit der Besteuerung über den entschiedenen Einzelfall hinaus angewandt werden kann.
Wenn sich da seit 2009 nichts geändert hat, sollte der Sachverhalt wohl im Artikel dementsprechend ergänzt werden. --84.141.12.106 18:58, 27. Jul. 2018 (CEST)[Beantworten]

Keine Grundsatzbedeutung trotz Nichtanwendungserlasses[Quelltext bearbeiten]

„Die Verabredung zwischen dem obersten Finanzgericht und den obersten Finanzbehörden und die zwischen den Bundes- und Landesfinanzbehörden sollen gewährleisten, dass in Fällen grundlegender Differenzen über die Auslegung von Steuergesetzen die Finanzverwaltung nicht immer wieder mit vergleichbaren Fällen bis in die oberste Instanz prozessiert.“ Dieser Grundsatz wird mit einem am 18. März 2010 ergangenen Beschluss des BFH zum Halbabzugsverbot bei Auflösungsverlust, IX B 227/09, in Frage gestellt. Obwohl nämlich die Entscheidung sich ausdrücklich gegen einen Nichtanwendungserlass richtet, wird die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache verneint, die Nichtzulassungsbeschwerde des Finanzamts als unbegründet zurückgewiesen. Da entwickelt sich etwas!

Caucus (19:41, 6. Apr. 2010 (CEST), Datum/Uhrzeit nachträglich eingefügt, siehe Hilfe:Signatur)

Gibt es rechtsprechungsbrechende Gesetzgebung?[Quelltext bearbeiten]

Der als Literaturhinweis genannte Aufsatztitel „Rechtsprechungsbrechende Nichtanwendungsgesetze“ und vergleichbare Formulierungen auf der Website des Bundesfinanzhofs zum Obsoletwerden von Rechtsprechung durch die Aufhebung oder Änderung von Gesetzen verdienen besondere Beachtung. "Ein Satz des Gesetzgebers lässt ganze Bibliotheken zur Makulatur werden“, dieser in einem Vorwort zu einem Verfassungskommentar von 1950 (als Zitat der 100 Jahre älteren Sentenz von Julius Hermann von Kirchmann) bezeichnete Grundsatz ist ein wichtiger Ausdruck der Gewaltenteilung. Ein neues Gesetz entzieht alter Rechtsprechung möglicherweise die Grundlage – kann aber ein Gesetz ein (nichtverfassungsgerichtliches) Urteil „brechen“? Was beansprucht ein Richter, der sein (einfachrechtliches) Urteil über die gesetzgeberische Entscheidung des Parlaments gestellt wissen will? (nicht signierter Beitrag von Caucus (Diskussion | Beiträge) 19:41, 6. Apr. 2010 (CEST)) [Beantworten]