Quelltext der Seite Spinobulbäre Muskelatrophie Typ Kennedy

{{Infobox ICD
| 01-CODE = G12.2
| 01-BEZEICHNUNG = Motoneuron-Krankheit
}}

Die '''Spinobulbäre Muskelatrophie Typ Kennedy''' ('''SBMA'''), auch '''Kennedy-Krankheit''' genannt, ist eine seltene [[X-Chromosom|x-chromosomal]]-[[rezessiv]]e [[Erbkrankheit]] aus der Gruppe der [[Trinukleotiderkrankungen]]. Es handelt sich um eine spezielle erbliche Form einer [[Spinale Muskelatrophie|spinalen Muskelatrophie]]. Die Kennedy-Krankheit ist vom [[Foster Kennedy-Syndrom]], das oft auch nur ''Kennedy-Syndrom'' genannt wird, zu unterscheiden, das eine völlig andere Erkrankung ist.

== Beschreibung ==
Die SBMA ist eine langsam fortschreitende ([[Progredienz|progredient]]) [[Motorische Endplatte|neuromuskuläre]] Erkrankung. Die [[Degeneration]] der unteren [[Motoneuron]]en führt zu [[Muskelhypotonie]] (Muskelschwäche), [[Muskelatrophie]] (Muskelschwund) und [[Faszikulation]]en (unwillkürliche Bewegungen, „Zuckungen“, sehr kleiner Muskelgruppen). Von der Muskelschwäche und Muskelatrophie ist vor allem die hüftnahe Beinmuskulatur, der Schultergürtel sowie die Gesichts-, Zungen- und Schlundmuskulatur betroffen, wobei die Symptome in einem dieser Gebiete beginnen können und über Jahre bis Jahrzehnte fortschreiten. Die Faszikulationen treten typischerweise an den Extremitäten und der mimischen Muskulatur auf. Durch die Beeinträchtigung von Zungen- und Schlundmuskulatur können im Verlauf Sprechstörungen ([[Dysarthrie]]) und Schluckstörungen entstehen. Die Gehfähigkeit bleibt lange erhalten.

Bedingt durch den x-chromosomalen [[Erbgang (Biologie)|Erbgang]] sind nur Männer von der Erkrankung betroffen. Viele Patienten haben zudem eine [[Gynäkomastie]] (Vergrößerung der Brustdrüse) und eine [[Hodenatrophie]] (Schrumpfhoden). Die Fruchtbarkeit ist durch die [[Androgene|Androgen]]-Insensivität deutlich vermindert.<ref>A. E. Harding u.&nbsp;a.: ''X-linked recessive bulbospinal neuronopathy: a report of ten cases.'' In: ''J. Neurol. Neurosurg. Psychiat.'' 45, 1982, S.&nbsp;1012–1019. PMID 6890989.</ref> Gynäkomastie oder Zeugungsunfähigkeit können durchaus das Erstsymptom darstellen.

Dagegen erkranken Frauen, die den Gendefekt [[Heterozygotie|heterozygot]] tragen, nicht. Sie geben die Erkrankung mit einer 50%igen Wahrscheinlichkeit an ihren männlichen Nachwuchs weiter. Die Söhne der erkrankten Väter sind dagegen immer gesund, da sie das mütterliche X-Chromosom tragen. Im statistisch gesehen sehr seltenen Fall der Homozygotie des defekten AR-Gens bei Frauen – das heißt beide Elternteile trugen den Defekt im AR-Gen – bilden sich die Symptome bei den betroffenen Patientinnen deutlich schwächer als bei hemizygoten männlichen SBMA-Patienten aus.<ref>B. J. Schmidt u.&nbsp;a.: ''Expression of X-linked bulbospinal muscular atrophy (Kennedy disease) in two homozygous women.'' In: ''Neurology'' 59, 2002, S.&nbsp;770–772. PMID 12221177.</ref>

Im Regelfall manifestiert sich die SBMA zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr. Die Lebenserwartung der Patienten ist – im Gegensatz zur verwandten [[Amyotrophe Lateralsklerose]] (ALS) und den meisten anderen Formen der spinalen Muskelatrophie – normal. Eine Differenzialdiagnose zu anderen Formen von Motoneuronerkrankungen ist daher wichtig.<ref>G. Kuhlenbäumer u.&nbsp;a.: ''Die X-chromosomal rezessive spinobulbäre Muskelatrophie (Typ Kennedy) Beschreibung einer Familie, Klinik, molekulare Genetik, Differentialdiagnose und Therapie.'' In: ''Der Nervenarzt'' 69, 1998, S.&nbsp;660–665. [[doi:10.1007/s001150050325]].</ref>

== Prävalenz und Diagnose ==
In Europa wird eine [[Prävalenz]] von 1:36.000 angenommen.<ref>{{Orphanet|ID=481 |Name=Kennedy-Krankheit |Abruf=}} abgerufen am 19. Dezember 2008.</ref> Lokal kann sie jedoch deutlich höher liegen. In der [[Finnland|finnischen]] Region um [[Vaasa]] wurde beispielsweise eine Prävalenz von 1:6.500 festgestellt.<ref name="udd">B. Udd u.&nbsp;a.: ''High prevalence of Kennedy’s disease in western Finland: is the syndrome underdiagnosed?'' In: ''Acta Neurol. Scand.'', 98, 1998, S.&nbsp;128–133. PMID 9724012.</ref> Anhand der Analyse der genetischen Daten wird davon ausgegangen, dass die SBMA vor etwa 20 Generationen erstmals in West-Finnland auftrat. Die Analyse des [[Haplotyp]]s lässt auf einen gemeinsamen Vorfahren für die meisten skandinavischen SBMA-Patienten schließen.<ref name="lund">A. Lund u.&nbsp;a.: ''Founder effect in spinal and bulbar muscular atrophy (SBMA) in Scandinavia.'' In: ''Europ. J. Hum. Genet.'', 8, 2000, S.&nbsp;631–636. PMID 10951525.</ref>

Noch bevor muskuläre Degenerationen feststellbar sind, manifestiert sich die SBMA – bedingt durch die periphere Androgenresistenz – durch eine Gynäkomastie.
Die SBMA kann molekulardiagnostisch über die Anzahl der CAG-Wiederholungen im Androgenrezeptor-Gen auf dem X-Chromosom sicher – auch [[pränatal]]<ref>I. Georgiou u.&nbsp;a.: ''Preimplantation genetic diagnosis for spinal and bulbar muscular atrophy (SBMA).'' In: ''Hum. Genet.'' 108, 2001, S.&nbsp;494–498. PMID 11499674.</ref> – nachgewiesen werden.

== Ätiologie und Genetik ==
Die Spinobulbäre Muskelatrophie wird durch eine Trinukleotidexpansion im AR-[[Gen]], das für den [[Androgenrezeptor]] kodiert, verursacht. Betroffen ist dabei das Exon 1. Während gesunde Menschen zwischen 10 und 36 sich wiederholende CAG-Einheiten ([[Cytosin]], [[Adenin]] und [[Guanin]]), die die [[Aminosäure]] Glutamin kodieren, in ihrem Genom haben, finden sich bei SBMA-Patienten 38 bis 62 dieser Einheiten die [[Polyglutamin]] bilden. Das betroffene Gen befindet sich auf dem X-Chromosom [[Genlocus]] q11-q12. Bisher konnte kein eindeutiger Zusammenhang zwischen der Schwere der Erkrankung und der Anzahl der sich wiederholenden CAG-Einheiten festgestellt werden.<ref name="udd" /> Dagegen wurde eine leichte Korrelation zwischen der Kettenlänge der Polyglutaminsäure und dem Alter beim Krankheitsausbruch (längere Kette führt zu früherer Erkrankung) festgestellt.<ref name="lund" />

== Therapie ==
Es gibt bisher keine effektive Behandlung der Spinobulbären Muskelatrophie. Verschiedene Therapieansätze mit der Gabe von Androgenen werden derzeit untersucht. Im [[Modellorganismus|Tiermodell]] zeigen verschiedene Substanzen, beispielsweise ein Histon-Deacetylase-Inhibitor (HDAC1),<ref>M. Minamiyama u.&nbsp;a.: ''Sodium butyrate ameliorates phenotypic expression in a transgenic mouse model of spinal and bulbar muscular atrophy.'' In: ''Hum. Molec. Genet.'' 13, 2004, S.&nbsp;1183–1192. PMID 15102712.</ref> [[Leuprorelin]]<ref>M. Katsuno u.&nbsp;a.: ''Leuprorelin rescues polyglutamine-dependent phenotypes in a transgenic mouse model of spinal and bulbar muscular atrophy.'' In: ''Nature Med''  9, 2003, S.&nbsp;768–773. PMID 12754502.</ref> und ein [[Curcumin]]-[[Derivat (Chemie)|Derivat]],<ref>Z. Yang u.&nbsp;a.: ''ASC-J9 ameliorates spinal and bulbar muscular atrophy phenotype via degradation of androgen receptor.'' In: ''Nature Med'' 13, 2007, S.&nbsp;348–353. PMID 17334372.</ref>  eine potenzielle Wirksamkeit. Bis zur [[Medikamentenzulassung|Zulassung]] eines auf Wirksamkeit hin geprüften [[Medikament]]es dauert es aber erfahrungsgemäß noch viele Jahre.

== Erstbeschreibung ==
Die Kennedy-Krankheit ist nach dem US-amerikanischen [[Neurologie|Neurologen]] [[William R. Kennedy]] benannt, der die SBMA erstmals 1968 zusammen mit zwei Kollegen beschrieb.<ref>W. R. Kennedy u.&nbsp;a.: ''Progressive proximal spinal and bulbar muscular atrophy of late onset. A sex-linked recessive trait.'' In: ''Neurology'' 18, 1968, S,&nbsp;671–680. PMID 4233749.</ref> Vor Kennedy beschrieben möglicherweise schon vier japanische Autoren<ref>K. Takikawa: ''A pedigree of progressive bulbar paralysis appearing in sex-linked recessive inheritance.'' In: ''Jpn. J. Hum. Genet.'' 28, 1953, S.&nbsp;116.</ref><ref>U. Murakami: ''Clinico-genetic study of hereditary disorders of the nervous system, especially on problems of pathogenesis.'' In: ''Folia Psychiat. Neurol. Jpn.'' 1, 1957, S.&nbsp;1–209.</ref><ref>L. T. Kurland: ''Epidemiologic investigations of amyotrophic lateral sclerosis. III. A genetic interpretation of incidence and geographic distribution.'' In: ''Mayo Clin. Proc.'' 32, 1957, S.&nbsp;449–462.</ref><ref>H. Tsukagoshi u.&nbsp;a.: ''Hereditary, proximal, neurogenic muscular atrophy in adult.'' In: ''Arch. Neurol.'', 12, 1965, S.&nbsp;597–603. PMID 14295959.</ref> die SBMA.<ref>{{OMIM|313200|Name=Spinal and bulbar muscular atrophy, x-linked 1; SMAX1}} abgerufen am 19. Dezember 2008.</ref>
1991 wurde die molekulargenetische Ursache der Erkrankung durch eine erhöhte Anzahl von CAG-Einheiten in Exon&nbsp;1 des betroffenen AR-Gens ermittelt.<ref>A. R. La Spada u.&nbsp;a.: ''Androgen receptor gene mutations in X-linked spinal and bulbar muscular atrophy.'' In: ''[[Nature]]'', 352, 1991, S.&nbsp;77–79. PMID 2062380.</ref>

== Literatur ==
* S. Petri, J. Bufler: {{Webarchiv |url=http://www.dgm.org/files/neuro27.pdf |text=''Kennedy-Syndrom (Spinobulbäre Muskelatrophie, SBMA)''. |format=PDF; 1,6&nbsp;MB |wayback=20130202004143}}
* M. Berkhoff u.&nbsp;a.: ''X-chromosomale bulbospinale Muskelatrophie (Kennedy-Syndrom).'' In: ''Schweiz Med Wochenschr'', 128, 1998, S.&nbsp;817–823.

== Weblinks ==
* {{OMIM|313200}}
* {{Orphanet|ID=481 |Name=Kennedy-Krankheit |Abruf=}}
* [https://www.sbma.info/Lisa_Ellerby_Kennedys_disease_102504_dt.pdf Kennedy Syndrom: Maus-Modelle und Mechanistische Studien.] (PDF; 4,6&nbsp;MB)
* [https://www.dgm.org/?article_id=220 Infobereich der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke e.&nbsp;V.]

== Einzelnachweise ==
<references />

{{Gesundheitshinweis}}

[[Kategorie:Neurodegenerative Erkrankung]]
[[Kategorie:Krankheitsbild in der Neurologie]]
[[Kategorie:Erbkrankheit]]
[[Kategorie:Proteinfehlfaltungserkrankung]]