Anstaltspsychiatrie

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Anstaltspsychiatrie bezeichnet die traditionelle, herkömmliche und medizingeschichtliche Entwicklung der Psychiatrie in sozial mehr oder weniger abgegrenzten Einrichtungen z. B. nach dem Vorbild des York Retreat. In Deutschland wurden diese meist seit Beginn des 19. Jahrhunderts gegründeten Institutionen als große im Baustil repräsentativ angelegte Landeskrankenhäuser[1] geführt und galten als sogenannte Heil- und Pflegeanstalten. Damit kommt bereits ihr Doppelcharakter[2] zum Ausdruck, der eine Spaltung in akute und chronische Fälle einschließt. Hauptsächlich durch die meist rasch anwachsende Zahl chronischer Fälle entwickelten sich diese Anstalten zu Großkrankenhäusern mit bis zu 3000 Betten.[3] Die Bezeichnung Anstaltspsychiatrie geht auf Karl Jaspers (1883–1969) zurück, der sie als Gegensatz zur Bezeichnung der Universitätspsychiatrie geprägt hat.[4][5]

Anstalts- und Universitätspsychiatrie[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Karl Jaspers hat es als Merkmal der Anstaltspsychiatrie angesehen, dass hier Psychiater „fern vom Verkehr ein einsames Leben mit ihren Kranken führten“, das von einer gewissen „manchmal sentimental wirkenden Menschlichkeit“ geprägt war, aber auch von einer gewissen Robustheit, mit den Problemen fertigzuwerden, sowie von einer gewissen „pastoralen Würde“. Es bestand bei ihnen auch ein gewisses Niveau an Allgemeinbildung, jedoch ohne eigentliche Tiefe. Die persönliche Nähe zum Patienten stand im Gegensatz zur Haltung derjenigen Psychiater, die etwa ab dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts den Charakter der Universitätspsychiatrie ausmachten. Sie teilten nicht mehr „von früh bis spät das Leben mit ihren Kranken“, der Kontakt zum Patienten wurde „herzloser, kleinlicher, unpersönlicher, ungebildeter“. Die Arbeit verlor sich in „endlose Einzelheiten, Messungen, Zählungen, Befunde“. Jaspers betont dabei jedoch auch die Vorteile der Universitätspsychiatrie. Wie sich das Verhältnis von Anstalts- zu Universitätspsychiatrie zukünftig entwickle, dies sei nicht zu sagen.[5]

Chronisch psychisch Kranke[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Chronisch psychisch Kranke galten früher oft als unheilbar, heute werden sie häufig als Pflegefälle eingestuft. Dennoch bestand bis ca. 1980 die Belegschaft der psychiatrischen Krankenhäuser (Anstaltspsychiatrien) meist aus solchen Kranken. Mit dem Wechsel zum Krankenhauscharakter der ehemaligen Anstalten für psychisch Kranke als nun akut behandlungsbedürftige Patienten hängt es zusammen, dass sich auch ein Wandel für diese Krankenhäuser vollziehen musste. Die Forderung nach Verkleinerung der Bettenzahl auf maximal 500–600 wurde erhoben. Damit wurden jedoch durch die Psychiatrie-Enquête auch Forderungen gegenüber der Universitätspsychiatrie gestellt, die sich zwar auf ihre Sonderaufgaben beruft, sich jedoch bis dahin nicht an der sektorisierten Standardversorgung von Patienten (nach geographisch bestimmten Versorgungsgebieten oder Sektoren) beteiligte.[3]

Uwe Henrik Peters beschreibt das Problem der chronisch psychisch Kranken so: „Im Unterschied zur Universitätspsychiatrie herrschen (bei der Anstaltspsychiatrie) praktische Probleme der Behandlung von chronisch Kranken, Alterskranken, Anstaltsorganisation und der sozialen Wiedereingliederung vor.“[6]

Geschichte der Psychiatrie[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Als Organ der Anstaltspsychiatrie zwischen 1830 und 1860 ist die Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie (Berlin) zu nennen. Sie war von Heinrich Damerow zusammen mit Carl Friedrich Flemming und Christian Friedrich Wilhelm Roller 1844 gegründet worden. – Als Beginn der Universitätspsychiatrie und der damit verbundenen naturwissenschaftlichen Forschungsaufgaben kann man die Gründung des „Archivs für Psychiatrie und Nervenkrankheiten“ im Jahre 1867 durch Wilhelm Griesinger zusammen mit Ludwig Meyer ansehen.[1] Diese Entwicklung hat Ackerknecht als „Sieg des Mechanismus“ bezeichnet.[4] Durch Griesinger sei die Psychiatrie „vom Kopf auf die Füße“ gestellt worden. Durch dieses Zitat von Karl Marx soll zum Ausdruck gebracht werden, dass Griesinger die Ergebnisse der romantischen Medizin ebenso wie Karl Marx die der Philosophie Hegels zwar verwertete, sie jedoch anders gewichtete.[4] Von Anstaltspsychiatern wurde das Fachgebiet der Psychiatrie nur noch bis ca. 1890 umfassend – etwa von der Illenauer Schule durch Richard von Krafft-Ebing oder durch Heinrich Schüle[7] – dargestellt. Von da an waren Universitätsprofessoren für die psychiatrische Wissenschaft führend.[5][8] Die Wiederkehr der Sozialpsychiatrie mag jedoch auch als das Ende der klassischen deutschen Psychiatrie gewertet werden und an die Anfänge der institutionellen Psychiatrie im 19. Jahrhundert erinnern.[2]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. a b Dörner, Klaus: Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie. (1969) Fischer Taschenbuch, Bücher des Wissens, Frankfurt / M 1975, ISBN 3-436-02101-6; (a) zu Stw. „Baustil“: Seite 304; (b) zu Stw. „Gründung des Archivs“: Seite 316
  2. a b Eikelmann, Bernd: Sozialpsychiatrisches Basiswissen. Enke, Stuttgart 1997, ISBN 3-432-27801-2; (a) zu Stw. „Doppelcharakter der Heil- und Pflegeanstalten“ Seite 23; (b) zu Stw. „Begriffsbestimmung der Sozialpsychiatrie“ Seite 3
  3. a b Dörner, Klaus und Ursula Plog: Irren ist menschlich oder Lehrbuch der Psychiatrie / Psychotherapie. Psychiatrie-Verlag Rehburg-Loccum 71983, ISBN 3-88414-001-9; (a) zu Stw. „Großkrankenhaus“: Seite 419; (b) zu Stw. „Verkleinerung der Bettenzahl und konsequente Umstrukturierung der Versorgungspraxis“ Seite 419
  4. a b c Ackerknecht, Erwin H.: Kurze Geschichte der Psychiatrie. Enke, Stuttgart 31985, ISBN 3-432-80043-6; (a) zu Stw. „Herkunft der Bezeichnung“: Seite 62, Fußnote 5; (b) zu Stw. „Sieg des Mechanismus“: Seite 62; (c) zu Stw. „Materialistische und psychologistische Interpretation der Psychiatrie“: Seite 70 ff.
  5. a b c Jaspers, Karl: Allgemeine Psychopathologie. Springer, Berlin 91973, ISBN 3-540-03340-8, Anhang § 4 Historisches über Psychopathologie als Wissenschaft. - Anstaltspsychiatrie und Universitätspsychiatrie. Seite 705 f.
  6. Peters, Uwe Henrik: Lexikon Psychiatrie, Psychotherapie, Medizinische Psychologie. Urban & Fischer, München 62007; ISBN 978-3-437-15061-6; Lexikon-Stw. „Anstaltspsychiatrie“: Seite 40 (online)
  7. Franz Kohl: Heinrich Schüle (1840–1916) – Psychiatrischer Forscher, Lehrbuchautor und Pionier der badischen Anstaltspsychiatrie. In: Gerhardt Nissen, Frank Badura (Hrsg.): Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde. Band 7, Würzburg 2001, S. 103–114.
  8. Schüle, Heinrich: Klinische Psychiatrie. Specielle Pathologie und Therapie der Geisteskrankheiten. Vogel, Leipzig 31886