Architekturgeschichte

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Die Architekturgeschichte ist der Teil der Kulturwissenschaften, der sich mit vorwiegend kunstwissenschaftlicher und in zweiter Linie mit ingenieurwissenschaftlicher und soziologischer Methodik mit der historischen Dimension der Architektur beschäftigt.

Gebiet

Architekturgeschichte erforscht die Geschichte der Architektur, also der Bauwerke, der Architekturtheorie und des Diskurses um Architektur, wie auch des Städtebaus und der Siedlungsgeschichte. Denn auch wenn die Stadtbaugeschichte ein eigener Zweig der Architekturgeschichte ist, so kann eine Architekturgeschichte doch nie ohne die städtebauliche Dimension auskommen.

Interesse

Da jede Zeit, jedes Land und jede Region ihre eigene Ausformung von Architektur hat, möchte die Architekturgeschichte diesem Phänomen auf die Spur kommen. Sie bestimmt die jeweiligen personenbezogenen, örtlichen und zeitlichen Faktoren, die bei der Errichtung eines Bauwerks, oder, auf höherer Ebene, im Charakter einer Periode oder Epoche hineinspielen. Ziel dabei ist, den kulturgeschichtlichen Stellenwert der Architektur innerhalb des gesellschaftlichen Kontextes zu verstehen. Seit den 1980er Jahren hat sich dabei zunächst innerhalb der Denkmalpflege und bald auch darüber hinaus der Gedanke durchgesetzt, alle Epochen, und so auch die der Moderne und Nachkriegsmoderne objektiviert zu sehen, und nicht etwa eine von ihnen zu diskriminieren, indem man ihr die Geschichtlichkeit abspricht.[1][2]

Methodik

Wie die Architektur in ihrer alltäglichen Praxis und ihrer gesellschaftlichen Wahrnehmung sich in einer Mittlerrolle zwischen Kunst und Funktion befindet, wendet auch die Architekturgeschichte sowohl Methoden der Kunstwissenschaft, wie auch der Technik, der Technikgeschichte und der Soziologie an. Konkret kann kein Bauwerk untersucht werden, ohne dass der künstlerische Aspekt, zum Beispiel die Gestaltung der Gliederung, die Kombination der Materialien etc. zusammen mit dem technischen Aspekt gesehen wird. Zu den technischen Aspekten gehören etwa Tragwerkstechnik, Materialherstellung, -verfügbarkeit und -beschaffenheit. Insbesondere die Konstruktionstechniken bilden ein zentrales Unterscheidungsmerkmal der verschiedenen Zeiten, hängt mit ihnen doch immer auch die konkrete Ausbildung der Bauwerke zusammen. Diese Methodik ist eine der Moderne, sie ist jedoch ebenso bei Vitruv oder Andrea Palladio anzutreffen.

Die Arbeitsweise des Architekturhistorikers lässt sich daher wie folgt beschreiben:

Häufig geht die Architekturgeschichte zunächst von einer Bauanalyse aus, ohne den historischen Kontext unmittelbar zu berühren. Das heißt, dass man zunächst beschreibt und beurteilt, wie an Bauten mit Material, Konstruktion, Funktion, Raum, Dekoration, Farbe etc. umgegangen wird. In dieser Phase spielt die „Historische Bauforschung“ eine bedeutende Rolle.[3] Sie leistet die zeichnerische und photographische Dokumentation eines Gebäudes mit allen seinen Teilen und bedient sich ferner diverser analytischer Methoden der Datierung.

Der zweite Schritt, der manchmal auch vorher erfolgt, ist die Suche nach Schriftquellen und sonstigen Aussagen zu dem Gebäude, z. B. in Bauämtern und anderen Archiven, die Befragung von Zeitzeugen und Bewohnern. Auch die Lektüre einschlägiger Publikationen gehört dazu. Schließlich muss das Umfeld analysiert werden, in dem das Bauwerk steht.[4]

Die Ergebnisse der beiden Schritte werden in einen örtlichen, persönlichen und historischen Kontext gebracht: Der Zusammenhang der Bauherrenintention und seiner sozialen Stellung etc., ebenso die Architektenpersönlichkeit und schließlich die Zusammenhänge, in denen Materialien und Techniken jeweils stehen. Das Bauwerk kann so schließlich in seinen Bezügen verstanden werden, die zu seiner spezifischen Ausprägung führten. Die Zusammenschau vieler solcher Einzelanalysen führt zum Verständnis der Bezüge, in denen eine Periode oder Epoche der Architekturgeschichte mit ihrer spezifischen Ausprägung steht.

Der Diskurs um Methodik und Abgrenzung

Architekturgeschichte entspricht einer gesellschaftlichen Aufgabe. Zur inhaltliche Abgrenzung und Methodik haben jedoch sowohl Fachvertreter wie auch Vertreter benachbarter Disziplinen unterschiedliche Auffassungen geäußert.

Ein Hintergrund der Auseinandersetzung ist der Streit, ob Architektur eine Kunst oder eine Ingenieurleistung ist. Die Zuordnung zur (Bau-)Kunst oder zum Ingenieurwesen führt dazu, dass das Fach entweder der Kunstgeschichte oder der Technikgeschichte bzw. konkret dem jüngeren Fach der Bautechnikgeschichte zugeordnet wird.[5] 2005 wurde bei einer der Einführungsreden des Kunsthistorikertages die Meinung geäußert, Architekturgeschichte solle sich nicht als eigenes Fach benennen. Hier bestand von Seiten meinungsführender Kunsthistoriker die Auffassung, Architekturgeschichte könne sich auf die Untersuchung von künstlerischen Aspekten beschränken und sei von der Kunstgeschichte daher nicht zu trennen. Aus der Architektenschaft gibt es den Einwand, Architekturgeschichte sei kein eigenes Fachgebiet, sondern Teil der Architektur. Der Kölner Kirchenbaumeister Rudolf Schwarz vertrat 1953 die Auffassung, Architekten sollten sich mit der Architekturgeschichte keine “überzählige Geisteswissenschaft ins Bett” legen lassen.[6] Schwarz glaubte, Architekten selbst sollten die Architekturgeschichte erforschen, und wollte keine Vertiefung in einer akademischen Geisteswissenschaft.

Entgegen dieser Vielzahl von gegensätzlichen Positionen vertritt die hier gegebene Definition die Auffassung, dass Architekturgeschichte ein eigenständiges komplexes Fach mit einem anspruchsvollen methodischen Repertoire ist. Architekturgeschichte bemüht sich, technische, künstlerische, kulturhistorische und biographische Aspekte zu berücksichtigen, um zu einem angemessenen Verständnis des Kulturphänomens Architektur zu gelangen.

Geschichte

Man könnte bereits den antiken Architekten Vitruv mit seinem Buch "De Architectura" oder etwa die Renaissanceliteraten Alberti und Palladio als Architekturhistoriker bezeichnen, wobei jedoch der Unterschied zur modernen Architekturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts ins Auge fällt: Die älteren Theoretiker haben ihre Werke hauptsächlich im Sinne einer Sammlung von Mustern gesehen, die sie interpretieren, um darauf ihre eigene Architekturtheorie zu stützen.

Die Anfänge der architekturgeschichtlichen Forschung[7] liegen jedenfalls im Interesse der italienischen Renaissancearchitekten an der antiken Architektur besonders der Stadt Rom, die sie zeichneten, vermaßen und analysierten, um Vorbilder für ihre eigenen Werke zu gewinnen. Im 18. Jahrhundert suchten europäische Bildungsreisende im Zuge ihrer Grand Tour die Kunststätten Italiens auf und beschrieben die dortigen architektonischen Meisterwerke, wobei sich das Augenmerk vornehmlich auf Antike und Neuzeit als vorbildliche Stilepochen konzentrierte. Im Kontext der Wiederentdeckung antiker Architektur (wie Pompeji in den 1750ern, oder Troja um 1830), wurde antike Architektur über den bisherigen Kanon hinaus greifbar. Vereinzelt traten aber auch schon die großen Kathedralen des Mittelalters nördlich der Alpen in den Blick, die als Objekte der lokalen oder nationalen Geschichte und als technische Meisterwerke bewundert werden. In Frankreich, England und Deutschland sah man den „gotischen“ Stil als nationale Errungenschaft an. Nachdem mit dem Ende des Klassizismus die Antike als einzige Norm der Kunst abgelöst war, führte die Suche nach historischen Vorbildern für das Kunstschaffen der Gegenwart zu einer intensiveren Beschäftigung mit der Architektur aller Zeiten und Völker. Im Zuge des Aufblühens der Geschichtswissenschaft und der akademischen Kunstgeschichte im 19. Jahrhundert wurden Stilkategorien (vgl. Stilkunde) für die Analyse der Architekturgeschichte ausgebildet. Die Abgrenzung der Stilepochen untereinander entwickelt sich jedoch erst im Laufe der Zeit. „Gotik“ und „Romanik“ sind Begriffe aus der Architekturgeschichte, die sich in der gesamten Stilgeschichte verbreitet haben. Die Erforschung der nationalen Kunstdenkmäler wurde in Angriff genommen, parallel zu den Anfängen der Denkmalpflege. Aus der Restaurierungstätigkeit der Architekten (z.B. Viollet-le-Duc) an den mittelalterlichen Kathedralen ergaben sich viele Erkenntnisse zur Baugeschichte. Orts- und regionalgeschichtliche Forschungen durch Geschichtsvereine (Vorreiter ist England mit seinen Archaeological Societies, in Frankreich folgen die Societés Archéologiques diesem Vorbild) stehen neben den ersten Überblicksdarstellungen (z.B. Franz Kugler, Geschichte der Baukunst. Stuttgart 1856–1859). Die Lehre an den Architektenschulen richtete sich zunehmend historisch aus. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wandte man sich mehr und mehr vernachlässigten und missachteten Epochen wie dem Barock zu. Dabei stand das Forschungsinteresse stets in einem Zusammenhang mit den ästhetischen Vorurteilen der jeweiligen Gegenwart. Die städtebaulichen Aufgaben der Gründerzeit weckten das Interesse an der Stadtgeschichte und historischen Stadtplanung. Auch die Moderne und die folgenden Strömungen stellen sich trotz der radikalen stilistischen Neuerungen nie außerhalb der Rezeption historischer Baukonzepte.

Vitruv schrieb als Architekt für Architekten. Moderne Architekturgeschichte erforscht Architektur als Kulturphänomen für die Allgemeinheit. Sie geht dabei über eine reine Baukunde und Baudenkmalforschung hinaus und findet in fächerübergreifenden Ansätzen wie Urbanistik, Raumordnung und Landschaftsplanung Anwendung. Längst auch erfasst sie die Bautätigkeit aller Kulturen in globaler Perspektive.

Architekturgeschichte als Studienfach

Architekturgeschichte wird in der Regel nicht als eigenes Fach studiert, sondern stattdessen eine Kombination aus Fächern, die zum Verständnis der besonderen Arbeitsweise der Architekturgeschichte dienen, wie etwa Kunstgeschichte, Architektur, Denkmalpflege. Auch Klassische Archäologie ist als ein Studium von Architekturhistorikern häufig.

Anwendungsgebiete

Herausforderung Architekturgeschichte: Berlin, Neue Schönhauser Straße. Der geknickte Straßenverlauf durch die Entstehung parallel zur Befestigung Memhardts 1658-62, die niedrigeren Häuser Mitte des 19. Jahrh., die höheren aus Historismus und der Reformarchitektur um 1900, so das „Volkskaffeehaus“ von Alfred Messel, 1890. Haus rechts von 1887, 1929 überformt. Darüber Hochhaus am Alexanderplatz, 1970, Kollektiv Roland Korn.[8]

Eine Person, die Architekturgeschichte professionell und mit kritischem Methodenbewusstsein betreibt, nennt sich Architekturhistoriker. Architekturgeschichte hat vielfältige Anwendungsgebiete, von denen drei jedoch die häufigsten sind: Architektur, Denkmalpflege und Stadtführungen.

Architekten verwenden die Architekturgeschichte, um für aktuelle Projekte Anregungen zu finden, die Bewältigung ähnlicher Probleme zu vergleichen oder ein Bauwerk mit seinem Umfeld abzustimmen, d.h. es entweder einzupassen oder abzusetzen. Im Falle der bewusst gewählten Anpassung handelt es sich letztlich um einen Fall der Stadtbildpflege oder Denkmalpflege.

In der Denkmalpflege zielt die Erforschung der Architekturgeschichte zunächst auf eine Bewertung der Bauten eines Gebietes, um zu bestimmen, welche einen so hohen kulturhistorischen Wert haben, dass sie mit wissenschaftlicher Begründung als Baudenkmal eingetragen werden müssen (Phase der Inventarisation). Die architekturhistorische Erforschung eingetragener Denkmäler dient ihrem Schutz. So muss einerseits durch die Bauforschung ein Gebäude in seinen Teilen (wie vorher in der Phase der Inventarisation als Ganzes) bewertet werden, um zu entscheiden, welche unbedingt, welche bedingt und welche überhaupt nicht schützenswert sind (Phase der Begleitung einer Baumaßnahme). Andererseits dienen die architekturgeschichtlichen Publikationen der Denkmalpflege zur öffentlichen Vermittlung der Baudenkmäler. Diese Publikationen tragen mit dem Mittel der Überzeugung zu ihrem Schutz bei.

Im Bereich Tourismus und Stadtführungen ist die Architekturgeschichte einer Stadt oder eines Gebiets das eindringlichste Mittel, seinen Charakter und seine Identität zu erklären.

Literatur

in der Reihenfolge des Erscheinens

Gesamtdarstellungen

  • David Watkin: The rise of architectural history. Architectural, London 1980.
  • WBG Architekturgeschichte. Wissenschaftliche Buchgesellschaft (WBG), Darmstadt 2013–2015.
  • Pavlos Lefas: Architecture. A Historical Perspective. Jovis Verlag, Berlin 2014, ISBN 978-3-86859-315-0.

Einzelne Epochen und geographische Räume

  • Robert Suckale: Kunst in Deutschland. Von Karl dem Großen bis heute. DuMont, Köln 1998.
  • Hans Ibelings: Europäische Architektur seit 1890. Jovis Verlag, Berlin 2011, ISBN 978-3-86859-038-8.

Einzelne Gesichtspunkte

  • Richard Strobel, Felicitas Buch: Ortsanalyse. Zur Erfassung und Bewertung historischer Bereiche (= Arbeitshefte des Landesdenkmalamts Baden-Württemberg). Theiss, Stuttgart 1986.
  • Michael Petzet, Gert Mader: Praktische Denkmalpflege. Kohlhammer, Stuttgart, Berlin und Köln 1993.
  • Norbert Huse: Unbequeme Baudenkmale. C.H. Beck, München 1997 (Dieses Buch entwickelt ein von der Denkmalpflege angeregtes, differenziertes Bild verschiedener Aspekte der Architekturgeschichte.)

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Norbert Huse: Unbequeme Baudenkmale. C.H. Beck, München 1997
  2. Roman Hillmann: Anti-Modernism and Architectural Rhetoric: The Case of Prince Charles, in: Edinburgh Architectural Research, Vol. 29, 2004, pp.67-71. (PDF; 1,7 MB)
  3. Michael Petzet, Gert Mader: Praktische Denkmalpflege. Kohlhammer, Stuttgart, Berlin und Köln 1993.
  4. Richard Strobel und Felicitas Buch: Ortsanalyse. Zur Erfassung und Bewertung historischer Bereiche. Arbeitshefte des Landesdenkmalamts Baden-Württemberg. Theiss, Stuttgart 1986
  5. Rezension zum Dritten Internationalen Kongress zur Bautechnikgeschichte an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus vom 20. bis 24. Mai 2009, in: Kunsttexte.de 2009, Nr. 3 (PDF; 375 kB)
  6. Rudolf Schwarz: Bilde Künstler, rede nicht. In: Baukunst und Werkform. 6. Jahrg. 1953, Heft 1, S. 9–17.
  7. vergleiche etwa Robert Suckale: Kunst in Deutschland. Von Karl dem Großen bis Heute. Monte von DuMont, Köln 1998, dort Seiten 416-421
  8. Landesdenkmalamt Berlin (Hrsg.): Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland. Denkmale in Berlin. Bezirk Mitte. Ortsteil Mitte, Michael Imhof, Berlin und Petersberg 2003, Seiten 447-451