Braunschweiger Schule

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Die Bezeichnung Braunschweiger Schule wird als Kennzeichnung für die Architekturlehre an der Technischen Hochschule Braunschweig in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg verwendet.

Die Technische Hochschule Braunschweig

Die Technische Hochschule Braunschweig geht auf das 1745 in Braunschweig gegründete Collegium Carolinum zurück und wurde 1878 in Herzogliche Technische Hochschule Carolo-Wilhelmina umbenannt. Die dortige Architekturlehre besaß bereits seit dem späten 19. Jahrhundert durch Professoren wie Ludwig Winter, Constantin Uhde, Georg Lübke und Carl Mühlenpfordt überregionales Renommee. 1968 erhielt die Hochschule ihren heutigen Namen Technische Universität Carolo-Wilhelmina und feierte 1995 ihr 250-jähriges Bestehen.

Zeitliche und personelle Definition

Bei „Braunschweiger Schule“ handelt es sich nicht um einen offiziellen Begriff, sondern um eine Bezeichnung für die schulbildende Wirkung der Braunschweiger Architekturlehre in der Nachkriegszeit. Zeitlich einzugrenzen ist sie etwa von 1946 bis in die frühen 1980er Jahre. Besonderes Stilmerkmal ist die starke Verbindung von ihrem Wirkungszeitraum – der Nachkriegszeit – mit den schulbildenden Lehrinhalten als auch prägnanten Lehrerpersönlichkeiten. Personell prägend waren hauptsächlich die Professoren Friedrich Wilhelm Kraemer, Dieter Oesterlen und Walter Henn. Sie bildeten eine Art „Triumvirat der Architekturlehre“ in Braunschweig. Daneben gehörten auch Lehrer wie Johannes Göderitz, Zdenko von Strizic und Konrad Hecht dazu.

Kraemer übernahm 1946 die Professur für Gebäudelehre und Entwerfen, den Haupt-Entwurfslehrstuhl an der TH Braunschweig. Er gilt damit als Begründer der Braunschweiger Schule und setzte sich für die Berufung von Dieter Oesterlen ein, der 1952 einen zweiten Entwurfslehrstuhl übernahm, sowie von Walter Henn, der 1953 aus Dresden als Professor für Baukonstruktion und Industriebau berufen wurde.

Ihre größte Wirkung entfaltete die Schule in den 1950er und 1960er Jahren. Mit den Emeritierungen Kraemers 1974, Oesterlens 1976 und Henns 1982 zerfiel die stark personengebundene Braunschweiger Schule, wogegen sich ihr Ruf für die Architekturausbildung in Braunschweig bis heute erhalten hat.

Architekturgeschichtliche Wirkung

Die Braunschweiger Schule war eine einflussreiche deutsche Architekturschule der Nachkriegszeit. Hauptsächlich für den norddeutschen Raum prägend, ist sie an Reputation und Wirkung vergleichbar mit der Karlsruher Schule in Süddeutschland. Ihre Lehre basierte auf den Idealen des Neuen Bauens, der modernen Architektur der 1920er und frühen 1930er Jahre. Im Vordergrund stand das Streben nach einer „gesamtheitlichen“ Architektur unter Berücksichtigung der drei Aspekte Funktion, Konstruktion und Form, die in einer systematischen, werkbezogenen Lehre zusammengefasst wurden. Demgegenüber sollten nach der Programmatik dieser Schule stilistische oder regionalistische Fragen keine besondere Rolle spielen.

Die drei maßgeblichen Lehrer vertraten die einzelnen Aspekte in individueller Ausprägung: Kraemer vertrat vor allem den Bereich der Funktionslehre, die er mit seinen zahlreichen Bürohausbauten illustrierte. Für die konstruktiven Fragen war hauptsächlich Henn verantwortlich, mit besonderer Ausprägung im Industriebau. Mit einem mehr künstlerisch geprägten Entwurfsansatz deckte Oesterlen dagegen besonders das Themengebiet der formalen Gestaltung ab. Allen dreien gemeinsam war jedoch, trotz individueller Schwerpunkte, die umfassende Betrachtung aller drei Aspekte, um einer Zersplitterung der Lehre entgegenzuwirken.

Der Rationalismus hatte besonderen Einfluss auf die Braunschweiger Schule. So vertrat Kraemer die Auffassung, „daß subjektiver Willkür übergeordnete Ordnungsphänomene […] entgegenstehen“. Gerade im Bereich der Gestaltung entwickelte er eine Proportionslehre, aufbauend auf dem Raster als architektonischer Basis. Geprägt von einem Raumverständnis, dem eine städtebauliche Auflockerung und die Verwendung stereometrischer Baukörper zugrunde lagen, sprach Kraemer von Raum als der „Lagebeziehung von Körpern“. Die Braunschweiger Schule wirkte auch in Bezug mit dem Umgang mit historisch gewachsener Bausubstanz durch Oesterlens Lehre vom Vorlage:"-de prägend.

Die Braunschweiger Schule nimmt für sich in Anspruch, ihre besondere Stellung innerhalb der deutschen Architekturlandschaft der Nachkriegszeit sowohl durch die persönliche Autorität ihrer Lehrer als auch durch den in der Lehre vertretenen Anspruch wissenschaftlicher Objektivierbarkeit gewonnen zu haben. Durch Systematik und die Kombination von Funktion, Konstruktion und Form wollte sie Sicherheit in der Frage um die Vorlage:"-de Architektur in der Nachfolge der Architektur im Nationalsozialismus vermitteln. Ihre reduktionistisch-sachliche, auch an internationalen Vorbildern orientierte, Architektur beeinflusste das Bild der deutschen Nachkriegsarchitektur nachhaltig. Durch Schüler, wie Eckhard Gerber, Meinhard von Gerkan, Volkwin Marg, Hans-Joachim Pysall, Peter Stahrenberg oder Hans Struhk wirkt sie bis heute fort.

Kritik an der Braunschweiger Schule

Die Braunschweiger Schule bzw. ihre Vertreter waren zum Teil erheblicher Kritik ausgesetzt: Kraemer wurde beispielsweise Anfang der 1960er Jahre durch den Braunschweiger Landeskonservator Kurt Seeleke zum Vorwurf gemacht, sich nicht – zusammen mit seinen einflussreichen Kollegen – stärker oder zu spät für den Erhalt des Braunschweiger Schlosses eingesetzt zu haben. Weitere Kritik erfuhr die Schule im Zusammenhang mit Parallelentwicklungen wie der Vorlage:"-de eines Hans Bernhard Reichow oder dem sachlichen Reduktionismus dahingehend, dass ihr vorgeworfen wurde, bauliche Fremdkörper in mittelalterliche geprägte Städte gesetzt zu haben, die weder auf historische gewachsene Stadtgrundrisse und -landschaften noch auf die Nachbarbebauung in angemessener Weise Rücksicht genommen hätten.

Beispielhafte Bauten (Auswahl)

Jahrhunderthalle Frankfurt
Verwaltungsgebäude Osram Licht AG, Henn, München 1966
  • Verwaltungsgebäude Pfeiffer & Schmidt, Friedrich Wilhelm Kraemer, Braunschweig 1952[1]
  • Warenhaus Flebbe, Kraemer, Braunschweig 1954[2]
  • Hochhaus der Fakultät für Bauwesen, Dieter Oesterlen, Braunschweig 1956[3]
  • Verwaltungsgebäude Unterharzer Berg- und Hüttenwerke, Kraemer, Goslar 1958[1]
  • Mensa, Walter Henn, Braunschweig 1962[4]
  • Jahrhunderthalle, Kraemer, Frankfurt-Unterliederbach 1963[5]
  • Institut für Kolben- und Strömungsmaschinen, Henn, Braunschweig 1965
  • Historisches Museum, Oesterlen, Hannover 1966
  • Hauptverwaltung Osram Licht AG, Henn, München 1966[4]
  • Universitätsforum, Kraemer, Braunschweig 1957 bis 1971[1]
  • Gebäudeensemble, Kraemer-Fassaden, Kurt-Schumacher.Str., Braunschweig, Iduna-Hochhäuser, Atrium-Hotel, 1960er Jahre, heute zerstört durch postmoderne und investorisch-ökologische Fassadentechnik

Einzelnachweise

  1. a b c F. W. Kraemer auf architekten-portrait.de
  2. Das Warenhaus Flebbe, Braunschweig auf architekten-portrait.de
  3. D. Oesterlen auf architekten-portrait.de
  4. a b W. Henn auf architekten-portrait.de
  5. Jahrhunderthalle bei structurae.de

Literaturauswahl

  • Dieter Oesterlen: Bauten und Texte. 1946–1991. Wasmuth, Tübingen / Berlin 1992, ISBN 3-8030-0153-6.
  • Roland Böttcher, Kristiana Hartmann, Monika Lemke-Kokkelink: Die Architekturlehrer der TU Braunschweig. in. Braunschweiger Werkstücke. Band 41. Stadtbibliothek, Braunschweig 1995, ISBN 3-87884-046-2.
  • Holger Pump-Uhlmann: Die „Braunschweiger Schule“. in: TU Braunschweig: Vom Collegium Carolinum zur Technischen Universität 1745–1995. S. 747, Olms, Hildesheim 1995, ISBN 3-487-09985-3.
  • Karin Wilhelm, Olaf Gisbertz, Detlef Jessen-Klingenberg, Anne Schmedding: Gesetz und Freiheit. Der Architekt Friedrich Wilhelm Krämer (1907–1990). Jovis, Berlin 2007, ISBN 978-3-939633-20-4.
  • Olaf Gisbertz (Hrsg.) für das Netzwerk Braunschweiger Schule: Nachkriegsmoderne kontrovers. Positionen der Gegenwart. Jovis, Berlin 2012, ISBN 978-3-86859-122-4.
  • Anne Schmedding, Zwischen Tradition und Moderne: Die "Braunschweiger Schule". Architektenausbildung an der TU/TH Braunschweig nach 1945 bis Ende der 60er Jahre, in: Detlef Schmiechen-Ackermann, Hans Otte und Wolfgang Brandes (Hrsg.), Hochschulen und Politik in Niedersachsen nach 1945 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen, Bd. 274), Göttingen 2014, S. 41–52, ISBN 978-3-8353-1535-8

Weblinks