Der Mann mit der Kamera (1929)

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Film
Titel Der Mann mit der Kamera
Originaltitel Человек с киноаппаратом
(Tschelowek s kinoapparatom)
Produktionsland UdSSR
Originalsprache Russisch
Erscheinungsjahr 1929
Länge 68 Minuten
Altersfreigabe
  • FSK ohne Altersbeschränkung
Stab
Regie Dsiga Wertow
Kamera Michail Kaufman
Schnitt Jelisaweta Swilowa

Der Mann mit der Kamera (russisch Человек с киноаппаратом) ist ein poetischer Dokumentarfilm von Dsiga Wertow aus dem Jahr 1929, der sich experimenteller Mittel bedient. Bis auf Titeltexttafel zu Beginn kommt der Film ohne Zwischentitel aus.

Synopsis

Der Film zeigt einen Tag in einer russischen Großstadt – vom Erwachen der ersten Bewohner, über ihre Arbeitsschichten, bis hin zum Feierabend mit sportlicher Betätigung und diversen Freizeitbeschäftigungen. Den ganzen Tag über begleitet der Zuschauer einen Filmreporter mit einer Kamera, der diverse Alltagsszenen filmt, die nachher im Schneideraum zusammengefügt werden.

Kontext

Für die russische Gesellschaft bedeuteten die 1920er Jahre eine Zeit des Umbruchs. Die Februar- und Oktoberrevolution von 1917 hatten die russischen Herrschaftsverhältnisse grundlegend verändert. Das vormals zaristische Russland verwandelte sich in die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken. Die Umsturzdekrete der Bolschewiki führten zur Enteignung des privaten Grundbesitzes und zur Verstaatlichung der Industrie. Der Marxismus wurde grundlegende Philosophie politischer und sozialer Entscheidungen.

In dieser Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs waren sich die russischen Filmemacher ihrer Bilder schaffenden Kraft bewusst. Sie nutzten das Medium Film, um die sozialistische Gesellschaftskonstruktion in Szene zu setzen, und erachteten dies gar als eigentliche Intention von Film und Kino. Unter anderem Dsiga Wertows Schriften zum Film zeugen durchweg von dieser Intention einer sozialistischen Funktionalität des Kinos.

Die Kinoki

Die Kinoki verstanden sich als Opposition zu den „Kinematographisten“ und der ökonomischen, psychologischen und theatralisierten Konzeption der „Filmsache“. Der innere Kreis der Kinoki setzte sich aus dem „Rat der Drei“ zusammen, nämlich Dsiga Wertow, seinem Bruder, dem Kameramann Michail Kaufman und Wertows Frau, der Filmeditorin Jelisaweta Swilowa. Der Film sollte sich von den klassischen Stilmitteln wie Literatur oder Szenarium lösen und so eine eigenständige Sprache entwickeln. Das wirkliche Leben und die unverhoffte, weder geplante noch inszenierte Aufnahme war das Szenarium der Kinoki. In dem 1934 veröffentlichten Manifest „Kinoprawda“ schreibt Wertow:

„Nicht Kinoglas um des Kinoglas willen, sondern die Wahrheit mit den Mitteln des Kinoglas, das ist Kinoprawda. Nicht die unverhoffte Aufnahme um der unverhofften Aufnahme willen, sondern um die Menschen zu zeigen ohne Maske, ohne Schminke, sie mit den Augen des Apparates zu packen im Moment des Nichtspielens. Ihre vom Kinoglas bloßgestellten Gedanken zu lesen.“

Dsiga Wertow

Gleichzeitig ging Wertow jedoch davon aus, dass sich die ungeschminkten Aufnahmen zu einem Ideal montieren ließen, das die Gesellschaft in ihrer Lebensweise beeinflussen sollte. In Kinoki - Umsturz heißt es:

„Ich bin Kinoglas, ich schaffe einen Menschen, der vollkommener ist als Adam, ich schaffe Tausende verschiedene Menschen nach verschiedenen, vorher entworfenen Plänen und Schemata. […] Von einem nehme ich die stärksten und geschicktesten Hände, von einem anderen die schlanksten und schnellsten Beine, von einem dritten den schönsten und ausdruckvollsten Kopf und schaffe durch die Montage einen neuen, vollkommenen Menschen.“

Dsiga Wertow

Dieses Prinzip findet sich in Wertows Der Mann mit der Kamera. Indem er die Bilder dreier Städte – Kiew, Odessa und Moskau – zu einer idealen Stadt verdichtet, nähert er sich der Utopie. Das Erwachen dieser idealen Stadt ist dem Erwachen der sozialistischen Revolution gleichzusetzen.

Bedeutung für die Filmtheorie

Der Mann mit der Kamera kann als poetischer Dokumentarfilm, als Querschnittsfilm, als politische Agitation oder auch als reflexiver Dokumentarfilm bezeichnet werden. Alle Bezeichnungen sind zutreffend und gerade dies stellt die Bedeutung von Der Mann mit der Kamera für die Filmtheorie heraus. Es ist jedoch zum großen Teil Wertows reflexives Konzept, die permanente Darstellung der Aufnahmesituation und der filmischen Konstruktion, die ihn seiner Zeit voraus erscheinen lassen.

Filmmusik

Nachdem bereits 1999 In the Nursery einen eigenen Soundtrack für den Film im Rahmen ihrer Optical Music Series veröffentlicht hatten, wurde die britische Band The Cinematic Orchestra von den Organisatoren des Festivals von Porto (der Kulturhauptstadt Europas des Jahres 2000) gebeten, eine neue Filmmusik zu produzieren und diese live während der Filmvorstellung zu spielen. Diese Arbeit unterschied sich von den sonstigen Kompositionen der Band wegen ihres Live-Charakters, der aufwändige Post-Produktionen wie beim Album „Motion“ nicht zuließ. The Cinematic Orchestra ging mit diesem Projekt auf Tour und veröffentlichte wenig später ein Album und die neu vertonte Version des Films unter dem englischen Namen „Man with a movie camera“. Viele der Live-Kompositionen, die ursprünglich für Der Mann mit der Kamera hergestellt worden waren, wurden von der Liveform auf Studioformat umgemischt, indem z. B. vokale und elektronische Elemente hinzugefügt wurden, und fanden Verwendung für das nächste Album „Every Day“.

Literatur

  • Franz-Josef Albersmeier (Hrsg.): Texte zur Theorie des Films. 5. Auflage. Reclam, Stuttgart 2003, ISBN 3-15-009943-9.
  • David Gillespie: Russian Cinema: Inside Film. Longman, Edinburgh 2003, ISBN 0-582-43790-3.
  • F. T. Meyer: Filme über sich selbst : Strategien der Selbstreflexion im dokumentarischen Film. Transcript, Bielefeld 2005, ISBN 3-89942-359-3.
  • Janina Urussowa: Das neue Moskau : die Stadt der Sowjets im Film 1917 - 1941. Böhlau, Köln/Weimar/Wien 2004, ISBN 3-412-16601-4.
  • Dziga Vertov: Schriften zum Film. Hanser, München 1973, ISBN 3-446-11794-6.
  • Dziga Vertov: Aus den Tagebüchern. Wien 1967.

Weblinks