Episches Theater

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 12. Juni 2011 um 00:29 Uhr durch Tirelietirelei (Diskussion | Beiträge) (→‎Verfremdungseffekt und Historisierung). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Das epische Theater ist eine Theaterform, in der versucht wird, das Theater durch die Einführung eines Erzählers zu „episieren“. Dies geschieht in der antiken Tragödie etwa durch den Chor. Dabei steht das epische Theater im Gegensatz zum dramatischen (bzw. aristotelischen) Theater, welches das Ziel verfolgt, den Zuschauer durch Einfühlen in das Gesehene zu läutern (Katharsis).

In der modernen Geschichte des deutschsprachigen Theaters ist das epische Theater vor allem mit den Namen Erwin Piscator und Bertolt Brecht verbunden. Brecht hoffte, das Publikum durch seine Stücke zum kritischen Denken anregen zu können.

Episches Theater nach Brecht

Das epische Theater stellt einen grundlegenden Eingriff in das System des geordneten Theaters dar. Brecht verstand das epische aber nicht als Gegensatz zum dramatischen Theater; es lägen „nicht absolute Gegensätze, sondern lediglich Akzentverschiebungen“ vor. Episches Theater soll in seiner Form erzählend sein, die Aktivität des Zuschauers wecken, ihn zu Entscheidungen führen und ihn dem Gezeigten gegenüberstellen. Nachahmung (Mimesis) und Identifikation sollen im epischen Theater vermieden werden. Vom Schauspieler verlangte Brecht ständige Reflexion. Der Darsteller sollte sich nicht wie in der traditionellen Theaterpraxis in die Rolle hineinversetzen, sondern sie und ihre Handlungen zeigen und diese gleichzeitig bewerten. Brecht folgte hierin der Prämisse von Karl Marx, nach der das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimmt. Eine wesentliche Methode ist dabei die Verfremdung, die eine Handlung durch unterbrechende Kommentare oder Lieder so modifiziert, dass der Zuschauer eine Distanz zum Stück und seinen Darstellern aufbauen kann. Auch Bühnenbild und Ausstattung können diese Distanz verstärken.

Das epische Theater Brechts vollzieht in Teilen einen Bruch mit vorherigen Theaterkonzeptionen. Als Marxist verstand er seine Dramen als „Instrument der Aufklärung im Sinne einer revolutionären gesellschaftlichen Praxis“[1](Klett S. 5). Um aufzuklären, müsse beim Zuschauer ein Denkprozess ausgelöst werden. Dazu sollte er sich der Illusion des Theaters bewusst werden und dürfe sich nicht, wie in der klassischen Theatertheorie der aristotelischen Katharsis gefordert, von der Handlung gefangen nehmen lassen, mit dem Protagonisten Mitleid empfinden, das Geschehene als individuelles Schicksal empfinden und als solches hinnehmen. Er soll das Dargebotene vielmehr als Parabel auf allgemeine gesellschaftliche Verhältnisse sehen und sich fragen, wie etwas an den dargestellten Missständen verändert werden könnte. Brechts Dramentheorie ist eine politische Theorie, seine im Exil geschriebenen Stücke versteht er als Versuche für ein neuartiges Theater, das „Theater des wissenschaftlichen Zeitalters“[1](Klett S. 68).

Brecht wollte ein analytisches Theater, das den Zuschauer zum distanzierten Nachdenken und Hinterfragen anregt. Zu diesem Zweck verfremdete und desillusionierte er das Spiel absichtlich, um es als Schauspiel gegenüber dem wirklichen Leben erkennbar zu machen. Schauspieler sollten analysieren und synthetisieren, d.h. von außen an eine Rolle herangehen, um dann ganz bewusst so zu handeln, wie es die Figur getan hätte. Das „Epische Theater“ Brechts steht im Gegensatz sowohl zur Lehre Stanislawskis als auch zur Lehre der methodischen Schauspielkunst von Lee Strasberg, die größtmögliche Realitätsnähe anstrebten und vom Schauspieler verlangten, sich in die Rolle hineinzuversetzen.

Vergleich: Dramatisches Theater – Episches Theater bei Brecht

Das Schema mit einigen „Gewichtsverschiebungen vom dramatischen zum epischen Theater“ wird in der von Brecht 1938 überarbeiteten Fassung aus den Anmerkungen zur Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny wiedergegeben[2]:

Aristotelische Form des Theaters Epische Form des Theaters
handelnd erzählend
verwickelt den Zuschauer in eine Bühnenaktion macht den Zuschauer zum Betrachter
verbraucht seine Aktivität weckt seine Aktivität
ermöglicht ihm Gefühle erzwingt von ihm Entscheidungen
Erlebnis Weltbild
Der Zuschauer wird in etwas hineinversetzt er wird gegenübergesetzt
Suggestion Argument
Die Empfindungen werden konserviert bis zu Erkenntnissen getrieben
Der Zuschauer steht mittendrin Der Zuschauer steht gegenüber
miterlebt studiert
Der Mensch als bekannt vorausgesetzt Der Mensch ist Gegenstand der Untersuchung
Der unveränderliche Mensch Der veränderliche und verändernde Mensch
Spannung auf den Ausgang Spannung auf den Gang
Eine Szene für die andere Jede Szene für sich
Wachstum Montage
Geschehnisse linear in Kurven
evolutionäre Zwangsläufigkeit Sprünge
Der Mensch als Fixum Der Mensch als Prozeß
Das Denken bestimmt das Sein Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Denken
Gefühl Ratio
Idealismus Materialismus

Theater und Gesellschaft

Theater und Gesellschaft standen für Brecht in einem ständigen Austausch und in einer Wechselwirkung zueinander. Theater sollte die Gesellschaft widerspiegeln und das im Theater Gesehene sollte den Zuschauer dazu anregen, über die Gesellschaft und seine eigenen Positionen nachzudenken. Dieser Denkprozess sollte nach Brecht gesellschaftliche und politische Veränderungen in Gang setzen, weil der Zuschauer mit den gezeigten und gleichzeitig realen Zuständen nicht zufrieden ist und gegen diese rebelliert. Demzufolge sah Brecht das Theater auch nicht in seiner gemeinhin elitären Stellung für die Oberschicht, sondern als Lehrstück insbesondere für das Proletariat.

Verfremdungseffekt und Historisierung

Bei der Historisierung handelt es sich um eine Erzähltechnik, die z.B. im Leben des Galilei zu finden ist. Um Erkenntnisse aus der gesellschaftlichen Situation der Gegenwart zu ziehen, wird "ein bestimmtes Gesellschaftssystem vom Standpunkt eines anderen Gesellschaftssystems betrachtet"[3](Brecht, Gesammelte Werke, Band 16, S. 653). Dies ermöglicht darüber hinaus ein tieferes Verständnis dieser Epoche im Vergleich zum aktuellen Gesellschaftssystem:

Die Klassiker haben gesagt, dass der Affe sich am besten vom Menschen aus, seinem Nachfolger in der Entwicklung, begreifen lasse.[3](Brecht, Gesammelte Werke, Band 16, S. 610).

Die Verfremdungseffekte, kurz V-Effekte, werden dagegen angewandt, um den Zuschauer der Illusion des Theaters zu berauben und über das Dargestellte nachdenken zu lassen. Er soll der Auslöser für die Reflexion des Zuschauers über das Dargestellte sein. Nur über das Verfremdete, dem Zuschauer unbekannte und merkwürdig erscheinende, denkt dieser intensiver nach, ohne es hinzunehmen. Als Beispiel ist der Blick Galileo Galileis zu nennen, der einen schwankenden Kronleuchter als fremd betrachtet. Erst wenn das Bekannte und Alltägliche – wie beispielsweise gesellschaftliche Verhältnisse – in einem neuen, ungewohnten Zusammenhang erscheint, beginnt der Zuschauer mit einem Denkprozess, der in einem tieferen Verständnis dieses eigentlich längst bekannten Sachverhalts mündet. Dies kann sich beispielsweise in einer Historisierung der Personen oder Ereignisse niederschlagen:

Einen Vorgang oder einen Charakter verfremden heißt zunächst einfach, dem Vorgang oder dem Charakter das Selbstverständliche, Einleuchtende zu nehmen und über ihn Staunen und Neugier zu erzeugen [...] Verfremden heißt also Historisieren, heißt Vorgänge und Personen als vergänglich darzustellen[3](Brecht, Gesammelte Werke Band 15, S. 301).

Unterhaltung und „Misuk“

Episches Theater sollte unterhaltend sein in dem Sinne, dass Produktivität Unterhaltung darstellt. Der Zuschauer soll sich nicht mit dem Gezeigten identifizieren und sich davon nicht passiv berieseln lassen, sondern aktiv durch Nachdenken am Geschehen teilnehmen. Der Aspekt der Unterhaltung bestand also für Brecht im Denk- und Reflexionsprozess beim Zuschauen, aber auch beim Zuhören. Das Konzept der Episierung wurde von Brecht deshalb auch auf den Bereich der Musik übertragen. Für die entsprechende Musik führte er die Bezeichnung Misuk ein.

Literatur

  • Bertolt Brecht: Das Leben des Galilei Suhrkamp Verlag
  • Bertolt Brecht: Schriften zum Theater. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1999.
  • Bertolt Brecht: Kleines Organon für das Theater. In: Versuchte 27/32 Heft 12. Aufbau Verlag. Berlin 1953.
  • Bertolt Brecht: Der gute Mensch von Sezuan Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1964, ISBN 978-3-518-10073-8.
  • Walter Benjamin: Was ist das epische Theater?. In: Rolf Tiedemann u.a. (Hrsg.): Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Frankfurt/M, II, S.532ff

Einzelnachweise

  1. a b Hahnengrep, Karl-Heinz, Klett Lektürenhilfe: Leben des Galilei, Stuttgart 1992
  2. Bertolt Brecht: Anmerkungen zur Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“. In: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 24: Schriften 4. Berlin u. a.: Aufbau Verlag, Suhrkamp Verlag. 2003, S. 78f. ISBN 3-518-41480-1
  3. a b c Bertolt Brecht, Gesammelte Werke in 20 Bänden, Frankfurt a.M. 1967

Weblinks