Europäischer Haftbefehl

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 23. Juli 2016 um 17:14 Uhr durch WilliHuhn (Diskussion | Beiträge) (An sich sinnvolle Ergänzungen; sind jetzt in der disk-Seite- bitte sinnvoll in den Artikel einarbeiten, ohne dass der Text den Leser erschlägt.). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Der Europäische Haftbefehl (EuHB) ist ein Instrument zur EU-weiten Durchsetzung eines nationalen Haftbefehls, das auf einem Rahmenbeschluss vom 13. Juni 2002[1] beruht. Er vereinfacht und verkürzt die Auslieferung von Straftätern bzw. Verdächtigen, da das um Auslieferung ersuchte Land die Rechtmäßigkeit des Haftbefehls grundsätzlich nicht nachprüfen darf.

Funktionsweise

Die justizielle Entscheidung für den Haftbefehl, die in einem EU-Mitgliedstaat ergangen ist, wird in diesem Rahmen „nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung“, d. h. weitgehend automatisch vom ersuchten Mitgliedstaat anerkannt und die gesuchte Person wird dort festgenommen und zwecks Strafverfolgung oder Vollstreckung „übergeben“ (ausgeliefert). Der EuHB verpflichtet die EU-Mitgliedstaaten auch, ihre eigenen Staatsbürger an andere EU-Länder auszuliefern, doch können die Staaten immerhin darauf bestehen, die gegen ihre Bürger verhängten Strafen selbst zu vollstrecken (Art. 4 Nr. 6, 5 Nr. 3; gleiches gilt für Personen, die im ersuchten Staat ihren Wohnsitz haben).

Der Rahmenbeschluss nennt 32 Deliktsbereiche wie Betrug, Cyberkriminalität, Rassismus oder Nachahmung und Produktpiraterie, bei denen die Auslieferung sogar dann erfolgen muss, wenn die Tat nach dem Recht des ausliefernden Staates gar nicht strafbar ist (Art. 2 Abs. 2; es wird insofern auf das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit verzichtet).

Der Rat für Justiz und Inneres hat auf Vorschlag der Europäischen Kommission und nach Stellungnahme des Europäischen Parlaments den Rahmenbeschluss vom 13. Juni 2002[1] über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten verabschiedet.

Entstehungsgründe

  • Die Verwirklichung der Idee, einen „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ (Art. 29 Abs. 1 EU) zu schaffen, insbesondere durch effektive Bekämpfung der organisierten Kriminalität,
  • Verstärkung und Vereinfachung internationaler Kooperation in Strafsachen,
  • Entstehung eines einheitlichen europäischen Rechtsraumes für Auslieferungen durch Abschaffung des förmlichen Auslieferungsverfahrens.

Diese Ziele sollen durch eine bessere Vereinbarkeit, eine stärkere Konvergenz der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten und Anerkennung und Vollstreckung von Urteilen und Entscheidungen in der gesamten Union erreicht werden.

Unterschiede zum bisherigen Auslieferungsrecht

  • direkte Zusammenarbeit der Justizbehörden ohne Inanspruchnahme des diplomatischen Weges und Verzicht auf das sogenannte Bewilligungsverfahren,
  • verkürzte Übergabefristen,
  • Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung der gerichtlichen und außergerichtlichen Entscheidung führt dazu, dass ein EuHB, der in einem Anordnungsmitgliedstaat erlassen wird, in jedem anderen Mitgliedstaat (Vollstreckungsstaat) nur unter Vorbehalt bestimmter Ablehnungsgründe (Art. 3 des Rahmenbeschlusses) zu vollstrecken ist,
  • weitgehender Verzicht auf das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit,
  • allgemeine Verpflichtung zur Auslieferung eigener Staatsangehöriger,
  • Einbindung von Hilfsinstrumenten und Organen (wie: Eurojust, Europäisches Justizielles Netz, SIS)

Inkrafttreten

Dieses neue Instrument der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen sollte bis zum 31. Dezember 2003 durch die Vornahme aller notwendigen Durchführungsmaßnahmen in die Rechtssysteme der Mitgliedstaaten der EU implementiert werden (Art. 34 Abs. 1). Die Frist zur Inkorporierung des EUHB in das nationale Recht bezüglich der 10 neuen Beitrittskandidaten lief gemäß Beitrittsvertrag (Art. 2) am 1. Mai 2004 aus.

Deutschland

Das zuerst vom Bundestag verabschiedete Gesetz über den Europäischen Haftbefehl (BGBl. 2004 I S. 1748, EuHbG) war nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2005 verfassungswidrig und nichtig. Das Gesetz greife unverhältnismäßig in das Grundrecht auf Auslieferungsfreiheit (Art. 16 GG) und die Rechtsweggarantie (Art. 19 Abs. 4 GG) ein. Deutschland habe die EU-Vorgabe nicht grundrechtsschonend umgesetzt, so die Urteilsbegründung.[2] Zu dem Urteil haben drei Richter jeweils ein Sondervotum abgegeben. Beschwerdeführer war der in Auslieferungshaft für Spanien einsitzende terrorverdächtige Deutsch-Syrer Mamoun Darkazanli.

siehe auch: Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Europäischen Haftbefehl

Bundestag und Bundesrat reagierten darauf mit einem Gesetzgebungsverfahren für eine erneute Auflage des EuHbG. Dabei wurden die vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig monierten Punkte überarbeitet, die übrigen Regelungen weitgehend aus dem ursprünglichen Gesetz übernommen.

Das neue Umsetzungsgesetz wurde am 20. Juli 2006 vom Bundespräsidenten Horst Köhler unterschrieben und am 25. Juli 2006 im Bundesgesetzblatt (BGBl. I S. 1721) veröffentlicht. Das Gesetz trat am 2. August 2006 in Kraft.

Unter Bezugnahme auf Artikel 1 Abs. 1 GG hat das Bundesverfassungsgericht am 15. Dezember 2015 mit Beschluss[3] festgestellt: „Hoheitsakte der Europäischen Union und - soweit sie durch das Unionsrecht determiniert werden - Akte der deutschen öffentlichen Gewalt sind mit Blick auf den Anwendungsvorrang des Unionsrechts grundsätzlich nicht am Maßstab der im Grundgesetz verankerten Grundrechte zu messen. Der Anwendungsvorrang reicht jedoch nur soweit, wie das Grundgesetz und das Zustimmungsgesetz die Übertragung von Hoheitsrechten erlauben oder vorsehen. Er wird durch die in Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG verfassungsänderungs- und integrationsfest ausgestaltete Verfassungsidentität des Grundgesetzes begrenzt“.[4] Dadurch erfolgt eine verfassungsrechtlichen Kontrolle von EU-Recht durch das Bundesverfassungsgericht wegen eines Verstoßes gegen die Menschenwürde. Das Bundesverfassungsgericht hat damit den Vollzug eines EU-Haftbefehls unterbunden. Siehe hierzu die Entwicklung in den Leit-Entscheidungen: Solange I, Solange II, Maastricht-Urteil und Lissabon-Urteil.

Siehe auch

Literatur

  • Heiko Ahlbrecht: Internationales Strafrecht in der Praxis. Müller, Heidelberg 2008, ISBN 978-3-8114-4352-5.
  • Martin Böse: Der Grundsatz "ne bis in idem" und der Europäische Haftbefehl: europäischer ordre public vs. gegenseitige Anerkennung. Besprechung von EuGH, Urt. v. 16. November 2010, Rs. C-261/09 - Gaetano Mantello, HRRS 2011 Nr. 970, HRRS 01/2012, 19[1]
  • Stefan Braum: Der Europäische Haftbefehl – Motor europäischer Strafrechtspflege? – Bemerkungen zum Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 3. Mai 2007 Rechtssache C-303/05 (Advocaten voor de Wereld VZW vs. Leden van de Ministerraad) -. In: wistra. Zeitschrift für Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 26. Jg., 2007, S. 401–405.
  • Eckhart von Bubnoff: Der Europäische Haftbefehl. C.F. Müller, Heidelberg 2005, ISBN 3-8114-7345-X.
  • Bernd von Heintschel-Heinegg, Daniel Rohlff: Der Europäische Haftbefehl. In: GA 2003, ISSN 0017-1956, S. 44.
  • Johannes N. Henke: Der Europäische Haftbefehl - Entwicklung und Schwierigkeiten. Meidenbauer, München 2008, ISBN 978-3-89975-846-7.
  • Pawel Nalewajko: Der Europäische Haftbefehl: aktuelle Entwicklungen in Polen. In: Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik. Nr. 3/2007, S. 113–118 online-Ausgabe (PDF, 0,1 MB)
  • Daniel Rohlff: Europäischer Haftbefehl. Lang, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-631-51181-7.
  • Helmut Seitz: Das Europäische Haftbefehlgesetz. In: Neue Zeitschrift für Strafrecht. 2004, ISSN 0720-1753, S. 546.
  • Frank Schorkopf (Hrsg.): Der Europäische Haftbefehl vor dem Bundesverfassungsgericht. Mohr Siebeck, Tübingen 2006, ISBN 3-16-148983-7.
  • Bernd Schünemann: Europäischer Haftbefehl und EU-Verfassungsentwurf auf schiefer Ebene. In: Zeitschrift für Rechtspolitik. 2003, ISSN 0514-6496, S. 185.
  • Carsten Wegner: Vorschlag der Europäischen Kommission für einen Europäischen Haftbefehl. In: Der Strafverteidiger. 2003, ISSN 0720-1605, S. 105.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b Rahmenbeschluss 2002/584/JI vom 13. Juni 2002
  2. Fehler im Denksystem - Bei der Verhandlung zum "Europäischen Haftbefehl" blamierten sich Regierung und Parlament. Das Verfahren wird zur Nagelprobe für Europa. Der SPIEGEL 16/2005 vom 18. April 2005.
  3. Beschluss vom 15. Dezember 2015 - 2 BvR 2735/14.
  4. Zitiert nach: Pressemitteilung Nr. 4/2016 vom 26. Januar 2016.