Kontingenztheorie (Evolution)

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Die Kontingenztheorie der Evolution ist eine makroevolutionäre Theorie, die besagt, dass das Leben auf der Erde überwiegend von Zufällen (kontingenten Ereignissen) abhängig ist und nicht noch einmal so entstehen würde wie es heute ist.

Die Kontingenztheorie beschäftigt sich mit den langfristigen erdgeschichtlichen Formen der Entstehung des Lebens. Ihr Hauptvertreter ist der New Yorker Paläontologe und Evolutionsbiologie Stephen Jay Gould.[1] Weitere wichtige Beiträge stammen von dem amerikanischen Wissenschaftsphilosophen John Beatty. Ausgehend vom Studium der vielen Bauplänen des Kambriums, wird beobachtet, dass es nur wenige Arten zu einer adaptiven Radiation geschafft haben. Diejenigen, die überlebt haben, haben nicht aus Fitness­gründen und als Folge von Adaptation überlebt, sondern aus Zufall. Mit Zufall sind weniger mathematisch-stochastische Ereignisse, sondern nicht vorhersehbare Naturereignisse unterschiedlicher Art und Dimension gemeint, etwa der Meteoriteneinschlag an der Kreide-Tertiär-Grenze, aber auch geringfügige klimatische Temperaturschwankungen etc. Ursächlichkeit und Richtung in der Entwicklung der Arten werden von dieser Theorie nicht durchgehend darwinistisch im Sinn der Synthetischen Evolutionstheorie in permanent wirkenden Selektions-Adaptationszyklen gesehen sondern primär im Einwirken von unberechenbaren Ereignissen. Gould hat das am Beispiel einer Bandaufzeichnung verdeutlicht, wenn er sagt: Die letzten 500 Millionen Jahre des Lebens auf der Erde hätten auch ganz anders verlaufen können, hätten wir die Möglichkeit, das Leben wie auf einem Bandgerät wieder zurückzuspulen und erneut ablaufen zu lassen.

Im Weiteren behauptet die Kontingenztheorie, dass das Vorherrschen von Kontingenz gegenüber Konvergenz (Konvergenztheorie (Evolution)) in der Evolution den Rahmen für den Verlauf des Lebens restriktiv einschränkt, weil unzählige alternative Formen unabhängig von Fitness aussterben. Kontingenz legt somit den Rahmen des Lebens auf der Erde fest (externe Constraints). Dass der Mensch in der Evolution entstehen konnte, hat in der Konsequenz der Kontingenztheorie im Vergleich zur Konvergenztheorie keine Vorbestimmung. Es gibt keinen zwangsläufigen evolutionären Weg dahin. Im Gegenteil sagt Gould: Hätte das Kambrium einen nur geringfügig anderen Verlauf genommen, hätte es weder die Vielfalt der Chordatiere noch den Menschen auf der Erde gegeben. Gould äußert sich somit ablehnend gegenüber jedem immanenten Fortschritt in der Evolution.[2]

Kritik

Das Gegenprogramm zur Kontingenztheorie ist die Konvergenztheorie des Briten Simon Conway Morris.Referenzfehler: Ungültiger Parameter in <ref>. Hier wird vom Vorherrschen streng adaptiver Prozesse ausgegangen und behauptet, dass bestimmte makroevolutionäre Entwicklungen, wie etwa Flügel, Flossen, Intelligenz, zwangsläufig zustande kommen mussten und daher auch auf oft vielen alternativen Wegen konvergent, das heißt unabhängig, entstanden. Als Beispiel kann hier die Flügelentwicklung von Vögeln, Fledermäusen oder Hautflüglern genannt werden. Eine starke Strömung in der Biologie unterstützt heute den Konvergenzgedanken.

Kritik an der Kontingenztheorie wird ferner darin geübt, dass es leicht zu Plattitüden kommen kann, wenn es vereinfacht heißt, dass einige Änderungen in den Anfangsbedingungen zu einigen Änderungen im Endergebnis führen können.[3] Hier ist kritisch zu fragen: Welches sind die Anfangsbedingungen? Was heißt geringfügig anders? Drei Grad Temperaturunterschied oder fünf?

Tests

  • Anolis-Echsen auf karibischen Inseln.[4] Der an der Harvard-Universität forschende Wissenschaftler Jonathan B. Losos hat mit Kollegen die Anolis-Arten auf vier karibischen Inseln als Testfall für die Theorie untersucht. Auf jeder dieser Inseln leben mehrere Anolis-Arten nebeneinander (sympatrisch). Dabei ist jeweils eine dieser Arten morphologisch in besonderer Weise an einen bestimmten Lebensraum angepasst, in der sie gegenüber den anderen konkurrenzüberlegen ist. Es können sechs solcher ökologischen Spezialisierungen unterschieden werden (für große Arten im Kronenraum, in Buschwerk und Gräsern, an Baumstämmen, an Baumstämme bis in den Kronenraum, auf dünnen Zweigen) die auf (nahezu) allen Inseln vorkommen (auf zwei Inseln fehlt jeweils einer dieser Typen). Bei der Analyse der Verwandtschaftsverhältnisse (DNA-Stammbaum mit mitochondrialer DNA) zeigt sich, dass nicht die Habitatspezialisten untereinander am nächsten verwandt sind, sondern jeweils die auf derselben Insel zusammenlebenden Arten. Dies ist am einfachsten dadurch erklärbar, dass sich derselbe Satz morphologischer Spezialisierungen auf jeder der Inseln jeweils unabhängig voneinander so entwickelt hat, dass sich die Arten in ihren Anpassungen jeweils exakt entsprechen. Schlussfolgerungen: Betrachtet man die Entwicklungen auf den Inseln als Ganzes, ist die Entwicklung streng deterministisch: dasselbe Resultat wird unabhängig von den Ausgangsbedingungen erreicht. Da die Reihenfolge der Artaufspaltungen aber auf jeder Insel verschieden ist, ist der Prozess bei Betrachtung nur der einzelnen Insel zufallsgetrieben.
  • Schnirkelschnecken in polnischen Städten.[5] Die beiden Forscher nutzen hier drei Populationen der Gehäuseschneckenart Cepaea hortensis in drei polnischen Städten als natürliches Experiment. Die Schnecken sind hier vor relativ kurzer Zeit durch den Menschen eingeschleppt worden, sie bilden also Verbreitungsinseln außerhalb des natürlichen Verbreitungsgebiets. Da vermutlich nur wenige Tiere begründend waren, gehen Unterschiede vermutlich vor allem auf erst seit der Einschleppung erfolgte Anpassungen zurück. Die Wissenschaftler vergleichen nun in jeder Stadt Schneckenhäuser jeweils einer Population in besonnten und schattigen Habitaten. Von Schnirkelschnecken ist bekannt, dass Tiere in besonnten Lebensräumen hellere Gehäuse besitzen als solche in beschatteten (Bedeutung für die Thermoregulation durch direkte Einstrahlung). Nun wurde in jeder der drei Städte beobachtet, dass in der Tat die Tiere in den schattigen Habitaten dunklere Gehäuse besitzen als diejenigen in besonnten. Dieser Effekt wurde aber jeweils auf andere Weise erreicht. Helle Schalen sind gelb, dunkle rosa getönt, zusätzlich kann das Gehäuse entweder keinen, oder einen, drei bzw. fünf dunkle Bänder tragen, wobei diese Formen in einer Population nebeneinander leben können (genetischer Polymorphismus). Obwohl in jeder Stadt tatsächlich die dunklen Tiere in beschatteten Habitaten überwiegen, wurde dies jeweils durch eine andere Kombination aus Farb- und Bändermorphen erreicht. Je nach zufälliger genetischer Ausstattung der Gründerpopulation kann hier also dasselbe Ziel auf verschiedenen Wegen erreicht werden.
  • Selektion im Laborexperiment: E.coli-Stämme in Petrischalen[6][7] In einer Serie von Experimenten untersuchten die Mikrobiologen Richard E. Lenski, Michael Travisano und Kollegen Stämme des Darmbakteriums E.coli, eines der verbreitetsten genetischen Modellorganismen. In einem Experiment begründeten sie einen Klon von zwölf genetisch identischen Laborstämmen und ließen sie über 2000 Generationen auf Nährmedien wachsen, die arm an Glucose waren. Anschließend testeten sie die aufgrund dieser Selektion evolvierten Bakterien auf anderen Nährmedien, die an anderen Zuckern (Maltose und Laktose) verarmt waren. Hier zeigten sie (trotz vorheriger identischer Selektion) wesentliche Fitness-Unterschiede, die sich bei längerer Kultur auf diesem Medium später dann wieder annäherten. Es zeigte sich, dass die Selektion im Glukose-verarmten Milieu im Detail ganz verschiedene genetische Veränderungen bewirkt hatte, die aber in ihrem Anpassungswert sehr ähnlich waren. Sie bewirkten aber deutliche Unterschiede, wenn sie im neuen Nährmedium getestet wurden. Die ähnlichen (aber nicht identischen) Anpassungen, die die Bakterien nach 2000 Generationen erreicht hatten, näherten sich nicht weiter aneinander an, wenn das Experiment auf 10.000 Generationen verlängert wurde. Obwohl also in allen Fällen auf identische Selektionsfaktoren ähnliche Anpassungen erfolgten, war der dabei im Detail eingeschlagene Weg untereinander vollkommen verschieden, was offensichtlich auf Zufallsabhängigkeit hindeutet.

Literatur

  • Axel Lange: Darwins Erbe im Umbau - Die Säulen der Erweiterten Synthese in der Evolutionstheorie. Königshausen & Neumann, 2012, ISBN 978-3826048135

Einzelnachweise

  1. Gould, Stephen J.: Zufall Mensch. Das Spiel des Lebens in der Natur. Hanser Verlag 1999
  2. Gould, Stephen J.: Illusion und Fortschritt. Die vielfältigen Wege der Evolution. Fischer TB 3. Aufl. 2004
  3. Powell, Russel: Reading the book of life: Contingency and Convergence in Macroevolution. (Diss. Duke University) 2008
  4. Jonathan B. Losos, Todd R. Jackman, Allan Larson, Kevin de Queiroz, Lourdes Rodrıguez-Schettino (1998): Contingency and Determinism in Replicated Adaptive Radiations of Island Lizards. Science 279: 2115-2118 doi:10.1126/science.279.5359.2115
  5. Małgorzata Ozgo & Michael T. Kinnison (2008): Contingency and determinism during convergent contemporary evolution in the polymorphic land snail, Cepaea nemoralis. Evolutionary Ecology Research 10: 721–733.
  6. M. Travisano, F. Vasi, R.E. Lenski (1995): Long-Term Experimental Evolution in Escherichia coli. III. Variation among the Replicate Populations in Correlated Responses to Novel Environments. Evolution Volume 49 Issue 1: 189-200.
  7. R.E. Lenski & M. Travisano (1994): Dynamics of adaptation and diversification: a 10,000-generation experiment with bacterial populations. Proceedings of the National Academy of Sciences USA vol. 91 no. 15: 6808-6814.