Leichendiebstahl

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Leichendiebstahl (engl. body snatching) ist die Entwendung von Toten aus Leichenhäusern oder Friedhöfen. Meistens werden die Leichen an Abnehmer verkauft, die diese für medizinische Zwecke nutzen. Der Leichenhandel ist in den meisten Ländern verboten.

Geschichte

19. Jahrhundert

Straßenhändler in den Slums von London; von Gustave Doré: Ein Hundeleben, 1872

Anfang des 19. Jahrhunderts durften in Großbritannien selbst Leichen Hingerichteter nur dann obduziert werden, wenn der Urteilsspruch dies ausdrücklich vorsah. Während aber 1831 in England und Wales nur zwölf Mörder hingerichtet wurden, benötigten die sich erweiternden medizinischen Hochschulen und Forschungseinrichtungen jährlich zwischen fünfhundert und eintausend Leichen. Aus der Situation entwickelte sich ein "grauer Markt" für aus Friedhöfen entwendete Leichen. Die Entwendung eines Leichnams galt als Vergehen, nicht als möglicherweise mit dem Tode oder der Verbannung bedrohtes Verbrechen, so dass das Risiko einer Gefängnis- oder Geldstrafe den Leichendieben erträglich erschien.

Die Praxis führte dazu, dass nahe der medizinischen Schulen und besonders in Edinburgh dauerhaft verschließbare, eiserne "Sicherheitssärge" angeboten wurden; eine weitere Methode war es, Eisengitter über den Gräbern anzubringen (Mortsafe).

In den Jahren 1827 und 1828 verkauften William Burke und William Hare in Edinburgh eine Leiche an das Edinburgh Medical College und beschlossen - vom hohen Gewinn überrascht - weitere Menschen zu ermorden. Die daraufhin begangenen Morde gingen als West-Port-Morde in die Geschichte ein.

Im Jahre 1831 waren in London drei Viertel der Bevölkerung sehr arm, die Kindersterblichkeit hoch. Auf Grund der schlechten Ernährung – die Menschen konnten sich keine vitaminreiche Nahrung wie z.B. Obst kaufen – waren Krankheiten wie Skorbut die Folge. Die Themse, in der man Abwässer und Leichen entsorgte, diente den Armen als Trinkwasser; das ungefilterte Wasser führte vor allem in den Elendsvierteln zu Durchfallkrankheiten.[1] Korruption, Raub und Prostitution waren verbreitet, da viele der Armen keinen anderen Weg zu überleben sahen. Aus ihren Kreisen kamen die berufsmäßigen Leichendiebe (engl. body snatchers. Resurrection men: Männer die Tote wieder auferstehen lassen). Sie stahlen kürzlich Verstorbene aus Krankenhäusern, aus den Aufbahrungshallen oder gruben sie aus. Chirurgen zahlten für frische Leichen bis zu 20 Pfund; nicht mehr anatomisch verwendbare Leichen dienten Zahnärzten (Gebisse), Perückenmachern und Altkleiderhändlern als Material.

Da Leichenhändler für besonders „frisches“ Material besser bezahlt wurden, kam es 1827 und 1828 in Edinburgh, später auch in London zu Verhaftungen. Drei später als London Burkers bekannt gewordene Leichenhändler (James May, John Bishop und Thomas Williams) wurden in London festgenommen, und John Bishop und Thomas Williams gestanden nach zwei Tagen, zwei Jungen und eine obdachlose Frau ermordet und dann verkauft zu haben; den Mitbeschuldigten James May entlasteten die beiden geständigen Mörder. Thomas Williams und John Bishop wurden hingerichtet und ihre Körper zur Sektion freigegeben.

Am 11. Mai 1832 wurde ein Anatomiegesetz verabschiedet. Es erlaubte den Anatomen, von Anverwandten nicht beanspruchte Leichen zu sezieren. Damit keine Leichen mehr illegal seziert wurden, wurde ein Inspektor für Anatomie ernannt (engl. “Her Majesty's Inspector of Anatomy”).

Gegenwart

Mit zunehmendem Fortschritt der Transplantationsmedizin erlangten menschliche Körperteile sowohl von Lebenden als auch von Leichen wieder einen sich im Organhandel niederschlagenden Schwarzmarktwert, da es gemessen am Bedarf zu wenige gespendete Organe gibt. Es werden auch wieder Morde zum Zwecke der Leichengewinnung begangen – so an Straßenkindern in der Dritten Welt und an serbischen Kriegsgefangenen und Zivilisten durch die „Kosovo-Befreiungsarmee“.[2]

Anfang der 1980er Jahre wurden aus Norddeutschland Leichendiebstähle gemeldet, die anscheinend keinen wirtschaftlichen Hintergrund hatten.[3]

2006 wurde in New York eine Gruppe um den früheren Zahnarzt Michael Mastromarino verhaftet, die aus reiner Gier Körperteile und Organe weiterverkauften. Mastromarino erhielt die Leichenteile aus dem Daniel George Funeral Home in Brooklyn, einem Bestattungsunternehmen, in dem er sich mit seiner Firma BioMedical Tissue Services einmietete. Er und seine Komplizen verkauften Knochen, Gewebe und andere Körperteile von mehr als 1000 Leichen an börsennotierte Gewebebanken[4] und strichen damit Millionengewinne ein.[5] Teilweise wurden die Leichen, denen Knochen und Gewebe entnommen wurden, mit PVC-Rohren und Ähnlichem präpariert. Damit sollte verhindert werden, dass die Angehörigen neugierig wurden. Mastromarino wurde am 27. Juni 2008 zu einer Haftstrafe zwischen 18 und 54 Jahren verurteilt.[6] Über diesen Fall, der in New York als BTS-Skandal bekannt wurde, drehte der Filmemacher Toby Dye im Jahr 2010 die Dokumentation Body Snatcher of New York.[7] 2005 wurde ein Amerikaner zu zwei Jahren Haft verurteilt, weil er aus dem Leichenschauhaus seines Arbeitgebers über siebzig Kilogramm Leichenteile gestohlen hatte, um daran das Sezieren zu „üben“.[8]

Strafbarkeit

Die Entwendung einer menschlichen Leiche ist strafbar als Störung der Totenruhe § 168 Strafgesetzbuch (Deutschland) und § 127 Strafgesetzbuch (Österreich). Strafbar macht sich danach wer eine Leiche, eine tote Leibesfrucht, Teile davon oder eine zu Asche verbrannte Leiche entwendet. Bei der Aneignung des Zahngoldes nach der Verbrennung des Körpers sah das OLG Bamberg die Störung der Totenruhe für gegeben an; das OLG Nürnberg hat dies verneint.[9] Eine Strafbarkeit der Wegnahme der Leiche als Diebstahl scheidet im Regelfall aus, da eine Leiche keine Sache ist. Dies beruht auf einer Entscheidung des Reichsgerichts wonach am menschlichen Körper keine Eigentumsrechte bestehen, der Körper daher nach dem Ableben herrenlos wird. Anders verhält es sich bei sogenannten Museums- oder Anatomieleichen, die Teil des Rechtsverkehrs sind, hier ist Diebstahl und Sachbeschädigung möglich[10].

Literarische Verarbeitung

Die Erzählung des schottischen Schriftstellers Robert Louis StevensonDer Leichenräuber(The Body Snatcher) aus dem Jahre 1884 spielt vor dem Hintergrunde des bis 1832 grassierenden Leichenhandels; das Werk wurde 1945 und 1966 verfilmt. Auch die Erzählung „The Case of Charles Dexter Ward“ des amerikanischen Schriftstellers H. P. Lovecraft befasst sich mit dem Diebstahl Verstorbener.

Literatur

  • GEO Epoche: London: Geschichte einer Weltstadt 1558–1945. Band 18, Gruner und Jahr, Hamburg 2005, DNB 975601857.
  • Peter Ackroyd: London. The Biography. Anchor books, New York 2003, ISBN 0-385-49771-7.
  • Auferstehungsmänner. 4. Auflage. In: Meyers Konversationslexikon. Verlag des Bibliographischen Instituts, 1885–1892 (online auf: retrobibliothek.de)

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Peter Ackroyd: London. Die Biographie. München 2002, S. 553–560.
  2. guardian.co.uk
  3. Verkehrt gepolt. In: Der Spiegel. Nr. 10, 1981 (online).
  4. CNBC The Body Snatcher of New York (englisch), abgerufen am 27. November 2012.
  5. nydailynews.comNew York Daily News Boss of body snatching ring.. (englisch), abgerufen am 27. November 2012.
  6. CNN: Mastermind of body parts scheme sentenced to prison (Memento vom 19. Dezember 2008 im Internet Archive) (englisch), abgerufen am 27. November 2012.
  7. Bodysnatcher of New York
  8. rp-online.de
  9. dghs.de (PDF; 88 kB), Wem gehören eigentlich Omas Goldzähne?
  10. jura.uni-freiburg.de (Memento vom 27. November 2014 im Internet Archive) (PDF; 522 kB) Arbeitsgemeinschaft im Strafrecht BT für Anfänger (Seite 60)