Schläfenbrille

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Stilisierte Trageart einer Schläfenbrille (mit spiralförmigen Bügelenden)

Die Schläfenbrille war Anfang bis Mitte des 18. Jahrhunderts der Übergang von der Bügelbrille (Klemmbrille) hin zur späteren Gattung der Ohrenbrille.

Die Schläfenbrille war die erste Brille mit seitlich angesetzten Bügeln, die zur damaligen Zeit noch im deutschen Sprachraum als Seitenarme, Stangen oder Federn bezeichnet wurden. Diese Bügel waren von Anfang an durch ein Scharnier einklappbar. Die Besonderheit war, dass diese Seitenarme nicht bis auf oder hinter das Ohr reichten, sondern nur bis zur Schläfe gingen, gegen die sie drückten. Meist waren diese Seitenarme mehr oder weniger im rechten Winkel zum Brillenrahmen angebracht, teilweise aber auch in einem bis zu 45° Winkel seitlich am Kopf nach oben verlaufend. Schläfenbrillen mit längeren Bügelstangen waren als Lesebrillen gedacht und wurden entsprechend weiter vorne auf der Nase getragen.

Unterschiedliche Varianten der Schläfenbrille[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Erstmals abgebildet ist die Schläfenbrille auf den Handelskarten von Edward Scarlett in der Zeit von 1714 bis 1727[1]. Diese hatten auffällig große Ösen in Spiralform (bzw. Schneckenform) am Ende der kurzen Bügelstangen[2]. Diese Spiralform sollte für einen besonders guten Halt und Druckverteilung an der Schläfe sorgen. Nur einige Originale dieser Scarlett-type Spectacles sind erhalten.
  • Die wohl einzig erhaltene 'Scarlett-type Spectacles' (schneckenförmige Bügelenden) mit Herstellersignierung stammt ebenfalls aus der 1. Hälfte des 18. Jh. (1705–1750) und befindet sich in der Sammlung des Museums Kassel, Deutschland[3]. Statt aus Runddraht sind hier die Bügel aus vergoldetem Silberblech. Inschrift: „Opticus Temmen in Cassel L.a.p.d.“ (Vater und Sohn Temmen waren in Kassel als Optici zwischen 1705 und 1750 tätig).
  • Ein Grabstein, auf dem Friedhof Kirkliston / Edinburgh einer Margaret Shield datiert 1727, zeigt zwei in Stein gemeißelte Köpfe oder Totenschädel, die ganz offenbar Schläfenbrillen mit seitlichen runden Ringen tragen[4][5]. Ob es tatsächlich Köpfe sind, die zudem Brillen tragen, ist allerdings nicht endgültig gesichert. Passt aber zeitlich zu den Handelskarten von Edward Scarlett (s. o.).
  • Ab 1746 sind Schläfenbrillenbügel mit großen kreisrunden Ringen bekannt. Diese weitaus häufigere Variante wird dem französischen Optiker Marc Thomin[6], Paris zugesprochen. Die Ringe wurden in der Folge immer geringer im Durchmesser, bis hin zu kleinen ovalen Ösen. In Verbindung mit dann länger werdenden Bügeln war das dann der fließende Übergang zum Steckbügel (zur Gattung Ohrenbrille gehörend).
  • 1751. Eine in Italien gefertigte Schläfenbrille aus Eisen hat geschlossene Bügelendplatten mit einem relativ kleinen Durchmesser von ca. 17 mm[7]. Die Gläser sind mit einem Reduzierring aus Horn eingesetzt. Der rechte Reduzierring ist mit einer Inschrift versehen: „Camillo Lazzarini fecit 1751 Pesaro“ und die Gläser haben eine Stärke von ca. −18,00 Dioptrien. Ähnliche Schläfenbrillen mit geschlossenen Endstücken sind auch als Hornbrillen bekannt.
  • Aufwendig gestaltete Elfenbein- und Silberbrillen mit paddelförmigen Seitenteilen in Seitenschwert-Form früher Segelboote.
Selbstporträt von Anton Graff mit aufgesetzter Schläfenbrille, 1805 / Dresden

Die Brillen mit Schnecken-, Ring- und Ösenbügel waren aus Eisen und drückten mit hoher Kraft auf die Schläfen. Das Tragen von Schläfenbrillen war dadurch, in gewissem Maße, unangenehm und schmerzhaft. So wurden die Endstücke gerne, für ein angenehmeres Tragen, mit Seidentuch überzogen. Ebenso dienten die runden Enden zur Befestigung von Bändern, um die Brille hinter dem Kopf festzuziehen.
Typisch für die Zeit der Schläfenbrillen sind runde Gläser (ø max. 38 mm), verbunden durch einen „C-Steg“ und dicke Metallrahmen mit meist groben Fertigungsmerkmalen. Brillen mit ovalen Gläsern (ab etwa 1810), dünnrandigeren Rahmen und etwas längeren starren geraden Bügelstangen mit kleinen Ösen sind Steckbügel-Brillen und gehören, genauso wie die Doppelscharnierbrille, zu den nachfolgenden Ohrenbrillen.
Nach dem Aufkommen der Ohrenbrillen verschwand die Schläfenbrille bereits am Ende des 18. Jahrhunderts wieder.

Allgemeines[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

1784 England, Robert Harris hält eine „Martin’s Margins“ Schläfenbrille in Händen

Aus heutiger Sicht etwas unverständlich, warum man damals, nachdem man nach etwa 400 Jahren Brille endlich auf die Idee mit dem Bügel kam, diesen nicht bis zum Ohr führte. Zum einen waren es die Händler selbst, die kein sonderliches Interesse daran hatten, neben verschiedenen Glasstärken in Kombination mit unterschiedlichen Nasenstegbreiten auch noch diverse Bügellängen berücksichtigen zu müssen (denn noch bis Mitte des 19. Jh. wurden Brillen in der Regel von fliegenden einfachen Händlern als Fertigbrillen feilgeboten) und zum anderen waren es die Brillenträger selbst. Wenn man manch einen in Öl porträtierten Brille tragenden Gelehrten ausklammert, war den Menschen damals das Benutzen einer Brille oft peinlich. Brillenträger galten als behindert bzw. alt. Zudem sind Fehlsichtigkeiten teilweise vererbbar und so waren Brillenträger bei der Partnerwahl weniger gefragt.

Zwei weitere Aspekte waren hinderlich bei der Verbreitung funktionaler Brillen mit festem Sitz am Kopf:

  1. Gab es die Befürchtung, dass das gebündelte Licht des Brillenglases das Auge schädigen könnte (wie ein Brennglas zum Feuer entzünden). So empfahl um 1750 in England James Ayscough leicht getönte Gläser, da die weißen schädliches Licht erzeugen und Benjamin Martin seine „Martin’s Margin“ Reduzierringe[8] zur Lichtmengen Reduzierung.
  2. Je nach Region und Gesellschaftsschicht war es unehrenhaft, Mitmenschen durch eine Brille zu betrachten. Denn selbst noch im 19. Jh. hatten viele Angst davor, was ein Brillenträger beim Blick durch seine Glaslinsen alles von seinem Gegenüber wahrnehmen könnte (womöglich wie ein Hellseher durch seine Glaskugel). Selbst Goethe war es unangenehm, wenn ihm jemand mit aufgesetzter Brille gegenübertrat[9], ebenso benutzte er seine Kurzsichtigkeits-Fernbrille nur kurzzeitig und sporadisch[10] (aufgrund seiner Kurzsichtigkeit brauchte er im Übrigen keine Lesebrille).

Damit war es nicht nur die Eitelkeit, die zur damals verbreiteten Meinung führte, je kleiner die Brille und auch wenig geeignet zum dauerhaften Tragen, umso unbedeutender die Brille und die damit korrigierte Sehschwäche. Somit durfte man hoffen, dass das eigene Augenleiden vom persönlichen Umfeld dementsprechend auch nur als gering eingeschätzt wurde. Aufgrund dieser Einstellung mussten Brillen möglichst klein sein, um sie vor und nach dem kurzfristigen Benutzen z. B. in der hohlen Hand oder einem kleinen Etui zu verbergen. Dementsprechend waren lange Bügel, die zudem umständlich unter die im 18. Jahrhundert üblichen voluminösen Frisuren oder Perücken[11] geschoben werden mussten oder beim Abnehmen in denselben hängen bleiben konnten, nicht gefragt. Das Mass für die Länge der Bügel war die Fassungsbreite, damit sie nach dem zusammenklappen nicht überstehen und voluminöse Etuis benötigen. Passend zu diesem Umstand hatten die dann doch nachfolgenden Ohrenbrillen[12] in sich zu verkürzende Bügelstangen (Knickstangen, Schiebestangen). Sicher auch ein Grund dafür, warum sich bügellose Klemmbrillen (ab etwa 1840 dann Kneifer), Lorgnetten und Monokel noch bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts großer Beliebtheit erfreuten, die erst mit Erfindung der heutigen anatomisch anpassbaren Golfbügel (um 1930) langsam verschwanden.

Schläfenbrillen nannte man

  • in England: „temple spectacles“ = Schläfen-Brille. Alle dann folgenden Bügelvarianten werden im englischen Sprachraum allerdings bis heute ebenfalls als „temple“ bezeichnet!
  • in Frankreich: „Lunettes à tempes permettant de respirer à l’aise“ = Brille an der Schläfe, ermöglicht bequemes Atmen (gegenüber den damals üblichen Nasenklemmern).
  • in Italien: „Occhiali con asta tempiale“ = Brille mit Schläfen-Stange.

In Fachbüchern des späten 19. Jh. und frühen 20. Jh. wird von verschiedenen Autoren Spanien im 17. Jh. als möglicher ursprünglicher Entstehungsort der Schläfenbrille benannt. Die Begründungen zu diesen Aussagen sind allerdings nur sehr vage und ohne Nachweise.

Zeitgenössische Darstellungen mit Schläfenbrillen:

1799 NL, Wybrand Hendriks „Het Haarlemse Teekencollegie“, Student mit Schläfenbrille. (Bildausschnitt)
  • 1784 R. Fulton, Porträt Robert Harris, hält eine „Martin’s Margins“ Schläfenbrille in der Hand.
  • 1787 Karikatur mit Edmund Burke1, von John Boyne, Titel: „Cicero gegen Verres“.
  • 1788 Adriaan de Lelie, Porträt Joannes Henricus Lexius, hält eine Schläfenbrille in Händen.[14]
  • 1794/95 Adriaan de Lelie, „De kunstgalerij van Jan Gildemeester Jansz“, seltene birnenförmige Bügelenden.
  • 1796 George Moutard Woodward, Titel: „Front window of the Globe Inn, Exeter“ (England).[15]
  • 1798 Anton Graff, Porträt Daniel Chodowiecki, hält eine Schläfenbrille in Händen.2
  • 1798 Henry Hervey Baber, Porträt John Price, walisischer Bibliothekar der Universität Oxford.[16]
  • 1799 Wybrand Hendriks, „Het Haarlemse Teekencollegie“, einer der Studenten trägt eine Schläfenbrille.[17]
  • 1805 Anton Graff, Selbstporträt mit aufgesetzter Schläfenbrille, sitzend.2
  • 1809 Anton Graff, Selbstporträt mit aufgesetzter Schläfenbrille, stehend.2
  • 1815 Joannes Bemme, Niederland. Titel: „Oude vrouw in een nis“ („Alte Frau in einer Nische“).
  • 1840 vor. Zwei Porträts von Caroline Herschel (1750-1848 Hannover), Astronomin mit Schläfenbrille.[18]
  • 1880–1900, Porträt Julia Foote, einer afroamerikanischen Frau mit seltenen 45° gewinkelten Bügeln.

1 Der englische Unterhaus Politiker Edmund Burke kommt in vielen politischen Karikaturen diverser Künstler in der zweiten Hälfte des 18. Jh. vor[19]. Immer mit langer Nase und immer mit Brille (div. Schläfenbrillen und Ohrenbrillen). Auf seinen Porträts ließ er sich aber stets ohne Brille darstellen.
2 Bei den Schläfenbrillen auf 3 Gemälden von Anton Graff könnte es sich um eine Art Requisite ohne Gläser gehandelt haben. Sein Freund Daniel Chodowiecki hält sie etwas unrealistisch mit dem Finger auf dem imaginären Glas, was zur Folge hätte, dass die Gläser verschmutzen. Anton Graff hatte zur Zeit seiner beiden Selbstporträts von 1805 + 1809 eine Staroperation hinter sich (1803) und brauchte mindestens +18 bis +22 dpt um etwas zu sehen. In seinen beiden Gemälden ist allerdings kein Glas zu erkennen, erst recht kein Glas mit entsprechend hoher Dioptrienzahl.

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Physiker, Naturforscher, Mathematiker und Schriftsteller Georg Christoph Lichtenberg schrieb in seinem 1791 erschienen Aufsatz „Über einige wichtige Pflichten gegen die Augen“: „Den guten Ton wird sie [Anm.: die Stimme] nicht verlieren, wenn die Dienstfertige [Anm.: die Nase] nicht zu sehr geklemmt wird, und etwas Unterstützung durch Bügel an den Schläfen erhält.“ Vor allem die Nase, meinte er sei in der Regel viel zu großen Mißhandlungen ausgesetzt. „Allein nichts, was die Nase zur Unterstützung der Augen tut, hat sie je lächerlich gemacht, wegen der bekannten Verwandtschaft die zwischen beiden stattfindet. Es ist nämlich bekannt, daß beide schon in der frühesten Jugend gemeiniglich zugleich weinen, [...] und daß sie nicht seltten zur gleichen Zeit rot werden.“[20]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. The Edward Scarlett Trade Card
  2. Scarlett-type Spectacles, British Optical Association Museum
  3. https://www.tmkkassel.de/index.php/sammlungsgebiete/optik-vermessung TMK Kassel
  4. Headstone to Margaret Shield d. 1727 / Gesamtansicht
  5. Headstone to Margaret Shield d. 1727 / Teilansicht
  6. Brille im Laufe der Zeit, abgerufen am 22. Mai 2020
  7. Asta Tempiale, Italia 1751
  8. Martins Ränder
  9. Goethes Abneigung gegenüber Brillenträgern
  10. Goethe - Wilhelm Meisters Wanderjahre
  11. Frisuren des 18. Jh.
  12. Eine Ohrenbrille aus der Zeit um 1800, Schlossmuseum Jever, abgerufen am 22. Mai 2020
  13. 18.Jh. Silber Niederlande, Vascellari-Sammlung
  14. Joannes Henricus Lexius (1755-1817) mit Schläfenbrille
  15. „Front window of the Globe Inn, Exeter“
  16. John Price, Bibliothekar der Universität Oxford
  17. Ölbild Haarlemse Teekencollegie
  18. Caroline Herschel 1 Caroline Herschel 2
  19. Karikaturen mit Edmund Burke
  20. Georg Christoph Lichtenberg: Über einige wichtige Pflichten gegen die Augen, S. 153.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]