Trolley-Problem

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Das Trolley-Problem ist ein Gedankenexperiment zu einem moralischen Dilemma, das in neuerer Zeit von Philippa Foot[1] beschrieben wurde. Der Name leitet sich vom englischen Ausdruck für Straßenbahn ab. Erstmals entwickelt wurde dieses Gedankenexperiment von Hans Welzel, das seitdem im deutschen Sprachraum als Weichenstellerfall bekannt ist.[2]

Das Gedankenexperiment

Grafische Darstellung des Trolley-Problems

Erste Fassung von Welzel (1951):

Ein Güterzug droht wegen falscher Weichenstellung auf einen vollbesetzten stehenden Personenzug aufzufahren. Ein Weichensteller erkennt die Gefahr und leitet den Güterzug auf ein Nebengleis um, so dass dieser in eine Gruppe von Gleisarbeitern rast, die alle zu Tode kommen. Wie ist die Strafbarkeit des Weichenstellers zu beurteilen?

Fassung von Foot (1967):

Eine Straßenbahn ist außer Kontrolle geraten und droht, fünf Personen zu überrollen. Durch Umstellen einer Weiche kann die Straßenbahn auf ein anderes Gleis umgeleitet werden. Unglücklicherweise befindet sich dort eine weitere Person. Darf (durch Umlegen der Weiche) der Tod einer Person in Kauf genommen werden, um das Leben von fünf Personen zu retten?

Varianten

Varianten des Trolley-Problems

Später wurde dieses Problem von Judith Jarvis Thomson[3] um die folgende Variante ergänzt („Fetter-Mann-Problem“):

Eine Straßenbahn ist außer Kontrolle geraten und droht, fünf Personen zu überrollen. Durch Herabstoßen eines unbeteiligten fetten Mannes von einer Brücke vor die Straßenbahn kann diese zum Stehen gebracht werden. Darf (durch Stoßen des Mannes) der Tod einer Person herbeigeführt werden, um das Leben von fünf Personen zu retten?

Das Gedankenexperiment greift ein Problem auf, das auch in der Populärkultur in zahlreichen Abwandlungen auftaucht, beispielsweise in dem Kurzfilm Sommersonntag von Fred Breinersdorfer und Sigi Kamml, in dem ein Brückenwärter das Leben seines gehörlosen Sohnes opfert, um die Passagiere eines heranrollenden Zuges zu retten. Dabei geht es wesentlich um die Frage, ob man den Tod weniger in Kauf nehmen darf, um viele zu retten, oder zu diesem Zweck sogar herbeiführen muss. Das Entscheidungsproblem wird in der Fachliteratur variiert, indem die Anzahl der beteiligten Personen geändert oder ihnen besondere Eigenschaften zugeordnet werden. Die Absicht dieser Variationen besteht darin, Grenzen für die moralische Bewertung von Handlungen auszuloten und festzustellen, ab wann und mit welcher Begründung eine bestimmte Entscheidung als moralisch gerechtfertigt oder verwerflich gilt. Durch die Einführung von Sonderbedingungen soll zudem die Analogiebildung zu real häufiger auftretenden und kontroversen Entscheidungsproblemen erleichtert werden.

Eine weitere Variante entwickelt sich gerade bei der Programmierung selbstfahrender Autos. In einem Artikel auf CNN online wird folgendes Beispiel gegeben: Sie und ein weiterer Passagier fahren in einem autonomen Fahrzeug auf einer einspurigen Straße, rechts und links Mauern. Auf der Straße vor Ihnen laufen drei Fußgänger bei rot über die Straße. Soll die Steuerung Ihr Auto gegen eine Mauer krachen lassen?[4] In einer psychologischen Studie der University of California sprach sich die Mehrheit der Befragten dafür aus, dass möglichst alle anderen Verkehrsteilnehmer Autos mit einer utilitaristischen Steuerung haben sollten, sie selbst würden jedoch lieber ein Fahrzeug fahren, das seine Passagiere unter allen Umständen beschützt.[5] Das Massachusetts Institute of Technology (MIT) hat eine Moral Machine entwickelt, mit der man seine eigenen Entscheidungen mit denen der anderen Testpersonen online vergleichen kann.[6]

Der deutsche Fernsehfilm Terror – Ihr Urteil aus dem Jahr 2016, basierend auf dem gleichnamigen Theaterstück von Ferdinand von Schirach, behandelt eine weitere Variante. Darin steht Luftwaffen-Major Lars Koch vor einem Berliner Schwurgericht, weil er ein entführtes Passagierflugzeug abgeschossen hatte, als der Entführer drohte, den Airbus auf ein vollbesetztes Fußballstadion stürzen zu lassen.[7] Diese Variante entspricht im Wesentlichen Sachverhalten, die durch das deutsche Luftsicherheitsgesetz aus dem Jahr 2005 geregelt wurden, welches durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz 2005 für nichtig erklärt wurde. Allerdings liegt hier eine Gefahrengemeinschaft zwischen Passagieren und Fußballzuschauern vor, wohingegen beim eigentlichen Trolley-Problem keine Gefahrengemeinschaft zwischen den Menschen auf den unterschiedlichen Gleisen besteht: Die Flugzeugpassagiere würden beim Absturz auf das Fußballstadium ohne Chance auf Rettung zusätzlich zu den Fußballfans sterben, beim Trolley-Problem würde hingegen jeweils die Menschengruppe auf einem Gleis gerettet werden.

Ethische Bewertung

Am Trolley-Problem werden elementare Unterschiede zwischen utilitaristischen (bzw. konsequentialistischen) und deontologischen Theorien verdeutlicht. Ein Vertreter einer utilitaristischen Position würde durch Umstellen der Weiche die fünf Leben auf Kosten des einen retten, da in der Summe weniger schlechte Konsequenzen auftreten. Er müsste aber aus gleichem Grund auch für die Tötung des dicken Mannes argumentieren, obwohl die meisten Menschen dies intuitiv ablehnen.[8]

Deontologische Theorien stehen beim Trolley-Problem vor einem Dilemma. Nach dem Prinzip der Doppelwirkung kommt es nicht in Frage, den fetten Mann auf die Gleise zu werfen, da die Tötung eines Menschen als Mittel zur Erreichung eines guten Zweckes ausgeschlossen ist.[9] Ob die Weiche umgestellt werden soll, kann diskutiert werden. Die meisten Vertreter deontologischer Ethik neigen dazu, die Rettung der fünf durch Umstellung der Weiche herbeizuführen: Da der Tod der Einzelnen nicht Mittel zum Zweck ist, sondern als unbeabsichtigte Folge angesehen wird, darf er in Kauf genommen werden.[10]

Innerhalb der Pflichtenethik veranschaulicht das Trolley-Problem die Differenz zwischen positiven und negativen Pflichten. Die Weiche umzustellen würde der (meist als schwächer eingestuften) positiven Pflicht, andere zu retten, entsprechen, jedoch die (meist stärker bewertete) negative Pflicht verletzen, niemanden umzubringen.

Juristische Bewertung in Deutschland

In beiden Optionen des klassischen Trolley-Problems verursacht der Weichensteller den Tod anderen menschlichen Lebens: Durch Unterlassen, wenn er nichts tut, durch positives Tun, wenn er die Weiche umlegt.

Im deutschen Strafrecht hat die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen erhebliche Folgen. Deshalb sind die beiden Fälle im Folgenden getrennt darzustellen. Wichtig ist ferner, dass im deutschen Strafrecht zwischen der Rechtfertigung und Entschuldigung (d. h. Rechtswidrigkeit ohne individuelle Vorwerfbarkeit) einer Tötung streng unterschieden wird.

Fall des Unterlassens: Im deutschen Strafrecht wird bei Unterlassungen unterschieden. Einerseits kommt immer eine die Mindestsolidarität sichernde Strafbarkeit nach dem relativ milden § 323c StGB (Unterlassene Hilfeleistung) in Betracht. Ist eine Garantenstellung vorhanden, kommt eine Strafbarkeit auch nach anderen Normen des StGB, hier eines Totschlags, § 212 StGB, in Betracht. Ein zufällig vorbeikommender Mensch hätte aber aus keinem ersichtlichen Grund eine Garantenpflicht. Ansonsten (etwa für einen beauftragten Weichenwärter im Dienst) gilt, dass eine Rechtfertigung der Strafbarkeit aus einer rechtfertigenden Pflichtenkollision ausscheidet: Im Widerstreit zwischen einer Handlungspflicht und einer Unterlassungspflicht bezüglich gleichrangiger Rechtsgüter muss nach herrschender Meinung für das Unterlassen entschieden werden. Das Untätigbleiben des Wärters ist daher gerechtfertigt und nicht strafbar.[11]

Fall des Handelns: Eine Rechtfertigung gemäß § 34 StGB scheidet aus – solch eine Quantifizierung wäre mit der Menschenwürde nicht vereinbar.[12] Der Topos einer rechtfertigenden Pflichtenkollision ist nur beim Unterlassen relevant. Die Schuld könnte nach herrschender Ansicht aufgrund eines übergesetzlichen Notstandes ausgeschlossen sein, denn: „In einer so ungewöhnlichen, nahezu unlösbaren Pflichtenkollision vermag die Rechtsordnung keinen Schuldvorwurf zu erheben, wenn der Täter seine Entscheidung nach bestem Gewissen trifft und sein vom Rettungszweck bestimmtes Handeln unter den gegebenen Umständen das einzige Mittel darstellt, noch größeres Unheil für Rechtsgüter von höchstem Wert zu verhindern. Hier ist dem Täter in Anerkennung eines übergesetzlichen entschuldigenden Notstandes Straflosigkeit zuzubilligen.“[13] Eine Mindermeinung sieht dies anders:[14] Der übergesetzliche Notstand greife hier nicht, weil keine Gefahrengemeinschaft vorliege. Es würden – im Gegensatz z. B. zum Abschuss eines von Terroristen gekaperten Flugzeuges – bisher ungefährdete Personen getötet. Ein Teil dieser Mindermeinung möchte dem Täter hier über die Figur eines Verbotsirrtums entgegenkommen (dieser führt zum Schuldausschluss oder zu einer Strafminderung), weil der Täter in Sekundenbruchteilen entscheiden müsse.[15]

Für weitere Rechtsprechung zum übergesetzlichen Notstand (auch als „schuldausschließende Pflichtenkollision“ bezeichnet) siehe den diesbezüglichen Artikel.

Literatur

Film

Einzelnachweise

  1. Philippa Foot: The Problem of Abortion and the Doctrine of the Double Effect, in: Virtues and Vices, Basil Blackwell, Oxford 1978 (ursprünglich erschienen in Oxford Review, Nummer 5, 1967)
  2. ZStW Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 63 [1951], S. 47 ff.
  3. Judith Jarvis Thomson: Killing, Letting Die, and the Trolley Problem, in: The Monist 59, 1976, 204-17 (englisch)
  4. http://edition.cnn.com/2016/06/23/health/driverless-cars-safety-public-opinion/index.html
  5. http://science.sciencemag.org/content/352/6293/1573
  6. The Moral Machine (MIT)
  7. orf.at - Die Zuseher auf der Schöffenbank. Artikel vom 17. Oktober 2016, abgerufen am 17. Oktober 2016.
  8. Vgl. Marc. D. Hauser: Moral Minds. How Nature Designed Our Universal Sense of Right and Wrong, HarperCollins 2006
  9. Vgl. Larry Alexander / Michael Moore: Deontological Ethics, Stanford Encyclopedia of Philosophy, 2007
  10. Vgl. Larry Alexander / Michael Moore: Deontological Ethics, Patient-Centered Deontological Theories, Stanford Encyclopedia of Philosophy, 2007
  11. Kühl, Christian: Strafrecht. Allgemeiner Teil. § 18 Rn 134.
  12. BVerfGE 115,118. abrufbar unter Urteil des BVerfG vom 15. Februar 2006 zum Luftsicherheitsgesetz (1 BvR 357/05)
  13. Wessels, Johannes / Beulke, Werner; Strafrecht Allgemeiner Teil, Rn 452.
  14. aA Jakobs, AT, § 20 Rn 41, Roxin AT Bd.1 § 22 Rn 157.
  15. Jäger ZStW 115 (2003) S. 780.