Integrierte Stichwahl

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Möglicher Stimmzettel

Instant-Runoff-Voting oder Wahl mit integrierter Stichwahl (englisch Instant-runoff voting, in Großbritannien auch alternative vote) ist eine Rangfolgewahl, also eins der Wahlsysteme, bei denen der Wähler eine Rangfolge der von ihm bevorzugten Kandidaten angeben kann: Er kennzeichnet auf dem Stimmzettel, welchen der Kandidaten er am liebsten im Amt haben möchte, welchen am zweitliebsten – falls der erste nicht gewählt wird – und so weiter. So kann er seine Präferenzen wesentlich genauer zum Ausdruck bringen als bei der klassischen Mehrheitswahl.

Bei öffentlichen Wahlen für die Besetzung nur eines Postens gibt es manchmal eine Stichwahl. Den Aufwand für diese kann man durch nur eine „Ersatzstimme“ beim einzigen Wahlgang einsparen – ein einfacher Sonderfall.

Die ermittelte Rangfolge kann auch zur Besetzung mehrerer Mandate eingesetzt werden, ob für gleichberechtigte Mitglieder eines Gremiums oder etwa für einen Amtsinhaber, seinen ersten und seinen zweiten Vertreter. Dieses verwandte Problem wird durch das System der übertragbaren Einzelstimmgebung zu lösen versucht. Das hier vorgestellte Instant-Runoff-Voting und übertragbare Einzelstimmgebung sind identisch, wenn nur ein Sitz zu vergeben ist.

Das Verfahren

Aus den Rangfolgen in allen Wählerstimmen wird eine einzige Rangfolge als Wahlergebnis ermittelt. Grundgedanke ist eine Wahl mit nachfolgenden Stichwahlen, wo bei jedem Wahlgang der Bewerber mit den wenigsten Stimmen ausscheidet. Die Anzahl der (hier virtuellen) Wahlgänge ist also gleich der Anzahl der Kandidaten, die nicht gewählt werden.

Es läuft wie folgt ab:

  1. Jeder Wähler kann einen Kandidaten auf Platz 1 setzen, einen auf Platz 2 und so weiter. Er weist also keinem, einigen oder allen Kandidaten Positionen in einer Rangordnung zu.
  2. Bei der Auszählung wird nun bestimmt, welcher Kandidat die wenigsten Platz-1-Stimmen bekommen hatte. Dieser wird aus allen Wahlzetteln gestrichen, und die nachgeordneten Kandidaten rücken auf.
  3. Das Verfahren wird ab Schritt 2 wiederholt, bis nur noch zwei Kandidaten übrig sind. Davon gewinnt der mit der höheren Stimmenzahl.

Wenn nur ein Mandat zu vergeben ist, kann das Verfahren beendet werden, sobald ein Kandidat mehr als die Hälfte der Platz-1-Stimmen hat, denn auch durch die Auszählung der Stimmen weiterer Ränge könnte ihn keiner überholen. Die weiteren Schritte können nur die Rangfolge der übrigen Kandidaten (Zweit-, Drittplatzierter usw.) beeinflussen.

Daneben gibt es einfachere Auswertungsverfahren; sie führen bei einem kleinen Teil der Wahlergebnisse zu anderen Sitzzuteilungen.

Vorteile

Instant-Runoff-Voting erlaubt, die erste Stimme auch für praktisch aussichtslose Kandidaten abzugeben und trotzdem bei der Wahl zwischen den aussichtsreichsten mitzuwirken. Manchmal große, manchmal kleine Parteien können von der Wahl mit sofortiger Stichwahl profitieren,

  • große, weil aussichtslose Kandidaten ihnen kaum noch Stimmen wegnehmen können (vielleicht dann, wenn mehrere aussichtslose Kandidaten vor einem aussichtsreichen stehen);
  • kleine, weil ihre Wähler für ihre Lieblingskandidaten stimmen können und trotzdem, wenn diese Stimme wirkungslos bleibt, bei den großen mitbestimmen.

Instant-Runoff-Voting versucht, die Popularität der Kandidaten oder Parteien genauer zu erkunden und zu nutzen als die Mehrheitswahl.

Anwendung in der Welt

Instant-Runoff-Voting wird angewendet in Australien, in Irland, bei Präsidentschaftswahlen in Sri Lanka und in der kalifornischen Stadt San Francisco. Im Vereinigten Königreich gilt sie seit 1999 bei Wahlen von erblichen Peers in das House of Lords. Die Idee, das System auch für die Wahlen zum House of Commons einzuführen, scheiterte hingegen in einem am 5. Mai 2011 abgehaltenen Referendum (siehe Wahlrechtsreferendum im Vereinigten Königreich). Im US-Bundesstaat Maine wurde Instant-Runoff-Voting nach zwei Referenden in den Jahren 2016 und 2018 erstmals bei den Midterm elections im November 2018 angewandt. Nach einem erfolgreichen Referendum 2020 wird auch der Bundesstaat Alaska 2022 erstmals Wahlen mit Instant-Runoff-Voting abhalten.

Instant-Runoff-Voting gewinnt besonders in Ländern und Gebieten an Popularität, wo die Politik von einigen wenigen mächtigen Parteien beherrscht wird (siehe Zweiparteiensystem). Es wird in den USA als Alternative zur dortigen Mehrheitswahl diskutiert: Bei den Präsidentschafts­wahlen 2000 in Florida (USA) hat die Grüne Partei möglicherweise den Sieg der Demokraten verhindert. Um so etwas möglichst zu vermeiden, werden viele Wähler in den USA den Kandidaten derjenigen großen Partei wählen, die ihnen als das kleinere Übel erscheint, und nicht den Kandidaten, mit dem er sich am stärksten identifiziert. Instant-Runoff-Voting macht diese Notlösung unnötig.

Eigenschaften

In der Sozialwahltheorie gibt es einige Kriterien, um die Qualität eines Wahlsystems zu bestimmen, unter denen Instant-Runoff-Voting wie folgt abschneidet:

Instant-Runoff-Voting erfüllt das Majoritätskriterium, das Condorcet-Verlierer-Kriterium, die Unabhängigkeit von Klon-Alternativen sowie das Later-no-harm-Kriterium.

Instant-Runoff-Voting verletzt das Condorcet-Kriterium, die Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen, das Konsistenzkriterium, das Partizipationskriterium, das Monotoniekriterium, das Reversal symmetry-Kriterium sowie das Favorite betrayal-Kriterium.

Erfüllung des Later-no-harm-Kriteriums

Da die niedrigere Rang-Information eines Wahlzettels nur abgefragt wird, wenn ein Kandidat höheren Ranges ausgeschieden ist, ändert das Ausfüllen von niedrigeren Rängen nicht die Chancen der höheren Ränge. Weder zum Positiven (diese Immunität wird Later-No-Help genannt) noch zum Negativen (diese Immunität wird Later-No-Harm genannt). Daraus folgt, dass es keinen taktischen Vorteil bringt, Konkurrenz übertrieben tief zu platzieren (zu „begraben“), eine Taktik, unter der besonders Rang-Wahl und Borda-Wahl leiden und zu einem gewissen Grad auch Condorcet-Methoden. Allerdings kann es einen taktischen Vorteil bringen, Konkurrenz übertrieben hoch zu platzieren. Dies ist eine Folge der Verletzung des Monotoniekriteriums.

Verletzung des Monotoniekriteriums

Wenn ein Wähler einen Kandidaten auf dem Wahlzettel besser platziert, kann das dazu führen, dass er die Wahl nicht gewinnt, während er die Wahl bei einer schlechteren Platzierung gewinnt.[1] Wahlsysteme, bei denen dieses Paradoxon nicht vorkommt, erfüllen das sogenannte Monotonie-Kriterium. Entscheidend für das Auftreten dieses Paradoxons beim Instant-Runoff-Voting ist die Tatsache, dass die Reihenfolge der Eliminationen entscheidend ist für den Ausgang der Wahl. Gelingt es, einen nah am eigenen Favoriten gelegenen Kandidaten frühzeitig zu eliminieren, so kann der eigene Favorit in der Regel seine Stimmen übernehmen.

Wieder ein amerikanisches Beispiel zu diesem strategischen Wählen:

Angenommen, ein Wähler ist ein Anhänger der Demokraten. Weiter wird angenommen, die Grünen wären die stärkste „kleinere“ Partei und ihre Wähler haben als Zweitpräferenz die Demokraten, während die Republikaner die Grünen als Zweitpräferenz haben. Die weiteren Präferenzen sind für das Ergebnis irrelevant und werden in der Tabelle kursiv dargestellt. Irgendwann im Auszählprozedere werden alle Parteien außer den Demokraten, den Republikanern und den Grünen eliminiert.
Wenn die Republikaner die wenigsten 1.-Rang-Stimmen haben, so werden die Kandidaten der Republikaner ausgeschlossen und ihre Stimmen zu den Grünen transferiert. Und so könnten die Grünen die Demokraten schlagen. Als Anhänger der Demokraten müsste der Wähler also dafür sorgen, dass die Republikaner später ausscheiden. Er müsste seine Stimme den von ihm nicht gewollten Republikanern geben, damit die von ihm favorisierten Demokraten gewinnen.
Verdeutlicht wird das mit folgendem Zahlenbeispiel. Mit den „ehrlichen“ Werten kommt es zu folgendem Ergebnis:
49 % der Bürger
Dems
26 % der Bürger
Grüne
25 % der Bürger
Reps
1. demokratisch 1. grün 1. republikanisch
2. republikanisch 2. demokratisch 2. grün
3. grün 3. republikanisch 3. demokratisch
Hier werden als erstes die Republikaner gestrichen. Nun haben die Grünen mehr Stimmen und gewinnen mit 51 % gegenüber 49 %.
Wenn aber stattdessen 2 % der Demokratenwähler den Republikanern ihre Erstpräferenz geben, ergibt sich folgende Tabelle:
47 % der Bürger
Dems
2 % der Bürger
taktische Dems
26 % der Bürger
Grüne
25 % der Bürger
Reps
1. demokratisch 1. republikanisch 1. grün 1. republikanisch
2. republikanisch 2. demokratisch 2. demokratisch 2. grün
3. grün 3. grün 3. republikanisch 3. demokratisch
Hier werden als erstes die Grünen gestrichen. Das wollte der Wähler eigentlich nicht, aber so kommen die zweiten Stimmen der Grünen-Wähler zum Einsatz und die Demokraten gewinnen die Wahl mit 73 % zu 27 %. Das Ergebnis entspricht also dem angenommenen Wählerwillen – entgegen dem ersten Szenario. Dafür musste der Wähler seine Stimme aber genau nicht denen geben, die er bevorzugt.

Verletzung des Condorcet-Kriteriums

Instant-Runoff-Voting verletzt auch das Condorcet-Kriterium, demgemäß ein Condorcet-Sieger die Wahl gewinnen muss, falls ein solcher existiert. Im folgenden Beispiel ist dies nicht gegeben:

42 % der Bürger 26 % der Bürger 15 % der Bürger 17 % der Bürger
1. A 1. B 1. C 1. D
2. B 2. C 2. D 2. C
3. C 3. D 3. B 3. B
4. D 4. A 4. A 4. A

B ist Condorcet-Sieger: Mit 42 % + 26 % = 68 % gewinnt er seine Zweikämpfe gegen C und D, mit 26 % + 15 % + 17 % = 58 % gegen A.

Mit IRV gewinnt allerdings nicht B die Wahl:

Im ersten Wahlgang wird C mit nur 15 % der Stimmen ausgeschlossen. Im zweiten Wahlgang scheidet B mit 26 % aus, da D nun 32 % der Stimmen auf sich vereint. Im dritten Wahlgang gewinnt D mit 58 % der Stimmen gegen A.

Beispiel

Angenommen, in einer kleinen Klasse mit 12 Schülern soll der Klassensprecher gewählt werden. Es werden vier Kandidaten nominiert: Alex, Berta, Christoph und Doris. Um Alex gibt es eine Gruppe, die ihn unterstützt, im Rest der Klasse ist er jedoch eher unbeliebt. Jeder Schüler schreibt nun die Anfangsbuchstaben (A, B, C und D) in der Reihenfolge auf einen Zettel, die angibt, wie gut er einen Kandidaten findet. Die Wahl fällt folgendermaßen aus und wird in drei Runden ausgewertet:

1. Runde
Zettel 1. Platz 2. Platz 3. Platz 4. Platz
1 C D B A
2 A D B C
3 A B C D
4 D B A C
5 A D B C
6 C D B A
7 B A C D
8 B D C A
9 C D A B
10 D A B C
11 A B D C
12 D C A B

„Platz 1“-Stimmen:

Alex: 4
Berta: 2
Christoph: 3
Doris: 3

Bei einer relativen Mehrheitswahl hätte Alex nun die Wahl gewonnen. Weil Berta am wenigsten Stimmen erhalten hat, wird sie gestrichen und die Zweitstimmen auf die jeweiligen Kandidaten verteilt: Der Wähler mit dem Wahlzettel 7 würde Alex wählen, falls Berta nicht gewählt wird; und der Wahlzettel 8 bevorzugt Doris, falls Berta nicht gewählt wird. So erhalten Alex und Doris je eine Stimme mehr.

2. Runde
Zettel 1. Platz 2. Platz 3. Platz 4. Platz
1 C D A
2 A D C
3 A C D
4 D A C
5 A D C
6 C D A
7 A C D
8 D C A
9 C D A
10 D A C
11 A D C
12 D C A

„Platz 1“-Stimmen:

Alex: 5
Christoph: 3
Doris: 4

Christoph wird also gestrichen und das Verfahren fortgesetzt: Jeder, der gerne Christoph als Sieger gesehen hätte, bevorzugt nun Doris als zweitbeste Klassensprecherin. Doris erhält drei zusätzliche Stimmen.

3. Runde
Zettel 1. Platz 2. Platz 3. Platz 4. Platz
1 D A
2 A D
3 A D
4 D A
5 A D
6 D A
7 A D
8 D A
9 D A
10 D A
11 A D
12 D A

„Platz 1“-Stimmen:

Alex: 5
Doris: 7

Doris gewinnt die Wahl, weil sie nun die größte Stimmenzahl erhalten hat – obwohl Alex bei den Erststimmen der populärste Kandidat war.

Siehe auch

Weblinks

Einzelnachweise

  1. RangeVoting.org - Monotonicity and Instant Runoff Voting. In: RangeVoting.org. Abgerufen am 13. September 2015.