Radiologisches Notfallmanagement

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 12. Oktober 2023 um 09:29 Uhr durch Vfb1893 (Diskussion | Beiträge) (BKL IMIS aufgelöst). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Das radiologische Notfallmanagement in Deutschland bezieht sich auf ungeplante Ereignisse, die Expositionen mit ionisierender Strahlung zur Folge haben, die sich nachteilig auf Menschen, die Umwelt oder Sachgüter auswirken können. Solche Ereignisse sind radiologische Notfälle im Sinn von § 5 Abs. 26 des Strahlenschutzgesetzes (StrlSchG). Durch sie entstehende Lagen sind Notfallexpositionssituationen im Sinn von § 2 Abs. 3 des StrlSchG.

Veranschaulichung des radiologischen Notfallmanagements nach Teil 3 des Strahlenschutzgesetzes (StrlSchG)

Der Strahlenschutz bei Notfallexpositionssituationen bzw. das radiologische Notfallmanagement erfolgt nach den besonderen Maßstäben von Teil 3 des StrlSchG „Strahlenschutz bei Notfallexpositionssituationen“.

Fallunterscheidungen

Von Notfallexpositionssituationen zu unterscheiden sind „geplante“ und „bestehende“ Expositionssituationen.

Eine Notfallexpositionssituation endet, wenn sich die Lage stabilisiert hat. Sie geht in eine bestehende Expositionssituation über. Gemäß Definition des StrlSchG muss diese bereits bestehen, wenn eine Entscheidung über ihre Kontrolle getroffen werden muss. Ein Beispiel wäre die Entscheidung, nach einer gewissen Wartezeit in ein zuvor evakuiertes Gebiet wieder zurückzukehren. Der Strahlenschutz bei einer bestehenden Expositionssituation erfolgt nach den besonderen Maßstäben von Teil 4 des StrlSchG „Strahlenschutz bei bestehenden Expositionssituationen“.

Bei radiologischen Notfällen wird gem. § 5 Abs. 26 StrlSchG unterschieden zwischen:

  • Überregionaler Notfall: Ein Notfall im Bundesgebiet, dessen nachteilige Auswirkungen sich voraussichtlich nicht auf ein Bundesland beschränken werden, in dem er sich ereignet hat, oder ein Notfall außerhalb des Bundesgebietes, der voraussichtlich innerhalb des Geltungsbereichs des StrlSchG nicht nur örtliche nachteilige Auswirkungen haben wird.
  • Regionaler Notfall: Ein Notfall im Bundesgebiet, dessen nachteilige Auswirkungen sich voraussichtlich im Wesentlichen auf das Bundesland beschränken werden, in dem er sich ereignet hat.
  • Lokaler Notfall: Ein Notfall, der voraussichtlich im Geltungsbereich des StrlSchG im Wesentlichen nur örtliche nachteilige Auswirkungen haben wird.

Kategorien des Strahlenschutzes in allen Expositionssituationen sind die

  • Exposition der Bevölkerung,
  • berufliche Exposition,
  • medizinische Exposition.

Von Bedeutung für das radiologische Notfallmanagement sind hiervon die Exposition der Bevölkerung sowie der Einsatzkräfte mit ihrer besonderen Form der beruflichen Tätigkeit unter Strahlenexposition[1].

Radiologische Notfallschutzgrundsätze

Generell gilt der Strahlenschutzgrundsatz, dass die Exposition der Bevölkerung und der Einsatzkräfte sowie die Kontamination der Umwelt bei einem radiologischen Notfall unter Beachtung des Standes der Wissenschaft und unter Berücksichtigung aller Umstände des Notfalls durch angemessene Maßnahmen auch unterhalb der Referenzwerte so gering wie möglich zu halten sind (§ 92 Abs. 3 StrlSchG).

Zum Schutz der Bevölkerung gilt für die Exposition von Einzelpersonen ein Referenzwert für die effektive Dosis von 100 mSv im ersten Jahr nach Eintritt des Notfalls (§ 93 Abs. 1 StrlSchG).

Einsatzkräfte sollen in Analogie zu „beruflich exponierten Personen“ durch ihren Einsatz keine effektive Dosis über 20 mSv erhalten (§ 114 Abs. 1 i. V. m. § 78 Abs. 1 StrlSchG). Wenn es zum Schutz von Leben oder Gesundheit erforderlich ist, kann in Verbindung mit strengen Auflagen ein höherer Referenzwert (100 mSv) angewandt werden (§ 114 Abs. 2 StrlSchG).

Integriertes Krisenmanagement in Deutschland

In Deutschland ist die Aufbau- und Ablauforganisation des Krisenmanagements von Notfällen vielfältig. Es liegt nicht in einer Hand. Gleichwohl hat die Zusammenarbeit zwischen den

  • für das Krisenmanagement zuständigen Bundesbehörden,
  • für die Durchführung von Schutzmaßnahmen zuständigen Katastrophenschutzbehörden der Bundesländer sowie
  • den unterstützenden Kräften in Gestalt des Technischen Hilfswerks (THW), der Polizei, der Feuerwehr, weiteren Hilfsorganisationen und von Fachstellen

ein hohes Niveau erreicht und wird laufend verbessert. Das gilt auch für die jeweils zur Verfügung stehenden technischen Voraussetzungen. Das zugrunde liegende Risikomanagement ist ebenfalls entsprechend integriert. Tragendes Instrument dieser Zusammenarbeit ist das gemeinsame Melde- und Lagezentrum (GMLZ) des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK). Dieses Lagezentrum ist ständig in Bereitschaft. Gesetzliche Grundlagen sind u. a. das Zivilschutz- und Katastrophenhilfegesetz (ZSKG) auf Bundesebene und die Katastrophenschutzgesetze in Verbindung mit den Gesetzen über die öffentliche Sicherheit und Ordnung sowie dem Polizei- und Ordnungsrecht auf Länderebene.

Radiologische Notfallvorsorge

Das radiologische Notfallmanagement nach dem StrlSchG stützt sich auf dieses eingespielte, integrierte System des Krisen- und Risikomanagements. Es ergänzt dieses zudem um eine weitere radiologische Komponente, einschließlich der Strahlenschutzvorsorge, die seit Tschernobyl nach dem inzwischen außer Kraft getretenen Strahlenschutzvorsorgegesetz aufgebaut wurde.

Maßgebende Elemente der radiologischen Notfallvorsorge sind die gemäß dem StrlSchG zu erstellenden Notfallpläne. Sie betrachten definierte Referenzszenarien und umfassen

  • einen allgemeinen Notfallplan des Bundes (§ 98 StrlSchG),
  • besondere Notfallpläne bestimmter Bundesbehörden (§ 99 StrlSchG) und
  • allgemeine und besondere Notfallpläne der Bundesländer (§ 100 StrlSchG).

Das StrlSchG macht dazu inhaltliche Vorgaben. Bis zum Erlass der Notfallpläne gelten vorhandene einschlägige Dokumente als vorläufige Notfallpläne (vgl. § 97 Abs. 5, Anl. 4 und Anl. 5 StrlSchG).

Übergreifend gibt das StrlSchG zudem Kriterien vor für folgende Notfallschutzreaktionen:

  • Aufforderung zum Aufenthalt in Gebäuden.
  • Verteilung von Jodtabletten oder Aufforderung zur Einnahme von Jodtabletten.
  • Evakuierung.

Diese Kriterien bestehen aus Notfall-Dosiswerten, die aufgrund des § 94 Abs. 1 StrlSchG in der Notfall-Dosiswerte-Verordnung (NDWV) konkret ausgeführt sind. Sie quantifizieren die Angemessenheit der vorgenannten Notfallschutzreaktionen, über die in einer frühen Phase nach Eintritt eines radiologischen Notfalls zu entscheiden wäre.

Die Notfall-Dosiswerte haben nicht den Charakter von Grenz- oder Referenzwerten. Sie beziehen sich auf die Dosis, die eine fiktive Bezugsperson nach Eintritt des Notfalls ohne Schutzmaßnahmen bei ununterbrochenem Aufenthalt im Freien innerhalb von sieben Tage theoretisch erhalten würde.

Das StrlSchG enthält ferner eine Ermächtigung zum Erlass von Rechtsverordnungen über Kontaminationswerte (insbesondere von Lebens- und Futtermittelm), die erforderlichenfalls lagebezogen erlassen werden können (§ 94 Abs. 2). Europäische Rechtsakten sind dabei vorrangig, und solche Verordnungen, die bei einem Notfall umgehend in Kraft gesetzt werden können, liegen bereits seit längerem vor[2][3].

Wenn es die Lage erfordert, können auf der Grundlage des StrlSchG auch befristete Eilverordnungen durch bestimmte Bundesministerien erlassen werden.

Zur radiologischen Notfallvorsorge gehört auch, die Bevölkerung über

  • die Notfallpläne,
  • dort berücksichtigte Notfälle bzw. Referenzszenarien und deren Folgen für Bevölkerung und Umwelt sowie
  • Grundbegriffe der Radioaktivität und ihre Auswirkungen auf den Menschen und die Umwelt aktiv und systematisch

zu informieren (§ 105 StrlSchG).

Notfallreaktion

Erste Reaktion nach Eintritt eines radiologischen Notfalls ist eine sachkundige Lagebeurteilung.

Hierfür bildet das Bundesumweltministerium (BMU) bei Eintritt des Notfalls zusammen mit verschiedenen Bundesbehörden das Radiologische Lagezentrum des Bundes (§ 106 StrlSchG). Nur bei einem lokalen Notfall und unter Umständen bei einem regionalen Notfall könnte darauf verzichtet werden. Voraussetzung wäre, dass eine Beurteilung durch das betroffene Bundesland in Verbindung mit dem Betreiber der ggf. betroffenen kerntechnischen Anlage den Schutz der Bevölkerung hinreichend gewährleistet.

Mitglieder des Radiologischen Lagezentrums des Bundes sind neben dem BMU

Das BfS erstellt im Rahmen des radiologischen Lagezentrums ein radiologisches Lagebild (§ 108 StrlSchG). Darin sind alle wichtigen Informationen zum Unfallgeschehen, vorliegende Messergebnisse aus der Umweltüberwachung (insbesondere durch das integrierte Mess- und Informationssystem zur Überwachung der Radioaktivität IMIS), Dosisabschätzungen (§ 111 StrlSchG) und Prognosen zusammengefasst.

Auf der Basis dieses Lagebilds schätzt das radiologische Lagezentrum die Auswirkungen auf die betroffene Bevölkerung und die Umwelt ab und empfiehlt alle notwendigen Notfallschutzmaßnahmen. Dazu bewertet es das Lagebild

  • in Umsetzung der vorsorglich erstellten, szenarienspezifischen Notfallpläne
  • unter Anwendung der mit der radiologischen Notfallvorsorge definierten Kriterien und
  • unter Beachtung der radiologischen Notfallschutzgrundsätze.

Die Empfehlungen des radiologischen Lagezentrums fließen zur weiteren Entscheidung, welche Maßnahmen zu treffen sind, in das integrierte Krisenmanagement (siehe o.a. Abschnitt "Integriertes Krisenmanagement in Deutschland") ein (vgl. § 109 StrlSchG).

Die getroffenen Entscheidungen berücksichtigen auch den weiteren, über die radiologischen Aspekte hinausgehenden Rahmen. Dazu gehören insbesondere die für die Maßnahmen geltenden Rechtsvorschriften einschließlich europäischer Rechtsakten, die Versorgungssicherheit der Bevölkerung, die öffentliche Sicherheit, gesellschaftspolitische, gesundheitspolitische und volkswirtschaftliche Aspekte und sonstige Sachzwänge.

Durchführung

Die Unterrichtung der betroffenen Bevölkerung bei einem radiologischen Notfall und die Durchführung getroffener Maßnahmenentscheidungen erfolgen in Abstimmung, erforderlichenfalls auch mit Unterstützung durch den Bund auf Länderebene. Dies geschieht durch die – je nach Charakter des Notfalls (lokal, regional oder überregional) – zuständigen Behörden. In erster Linie sind dies die Katastrophenschutzbehörden der Bundesländer. In zweiter Linie unterrichtet bei regionalen oder überregionalen Notfällen das BMU und gibt Verhaltensempfehlungen (§ 112 Abs. 3 StrlSchG).

Für die Unterrichtung der Bevölkerung gibt das StrlSchG inhaltliche Vorgaben.[4]

Mess- und Informationssysteme

Das IMIS ist die wichtigste Quelle für die im radiologischen Lagebild benötigten Messdaten. Es stellt permanent und flächendeckend Messergebnisse in Form der Gamma-Ortsdosisleistung bereit. Gemessen und überwacht werden außerdem die Ausbreitung von radioaktiven Stoffen durch Luft und Wasser sowie die Kontamination des Bodens und von Lebens- und Futtermitteln.

Zu den Messnetzen des IMIS tragen bei:

  • Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) mit etwa 1.800 Messstellen zur Überwachung der bodennahen Gamma-Ortsdosisleistung.
  • Deutscher Wetterdienst (DWD) mit 48 Messstellen zur Überwachung der Umweltradioaktivität von Luft und Niederschlag.
  • Bundesanstalt für Gewässerkunde (BfG) mit 40 Messstellen zur Überwachung der Bundeswasserstraßen (Flüsse und Kanäle).
  • Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrografie (BSH) mit 12 Messstellen zur Überwachung der Küstengewässer.
  • etwa 40 spezialisierte Labors der Länder zur Messung der Radioaktivitätskonzentration verschiedener Umweltmedien, beispielsweise Trinkwasser oder Lebens- und Futtermittel.

Zusätzlich verfügt das IMIS über mobile Messstellen des BfS und der Bundesländer.

Die Bundespolizei stellt in einem radiologischen Notfall dem BfS Hubschrauber zur Messung der am Boden abgelagerten Radioaktivität zur Verfügung. Sie werden mit Messgeräten des BfS bestückt.

Für Abschätzungen und Prognosen verfügt das IMIS über das digitale Fachinformationssystem und Entscheidungshilfemodell RODOS ("Realtime Online Decision Support System"). Es berechnet in einem radiologischen Notfall die zukünftige Umweltkontamination und die zu erwartenden Strahlendosen[5] der betroffenen Bevölkerung. Diese Prognosen bilden eine wichtige Grundlage für das radiologische Lagebild und die in der Folge zu treffenden Entscheidungen über Notfallschutzmaßnahmen.

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. vgl. § 5 Abs. 7 Satz 3 StrlSchG
  2. Verordnung (EURATOM) Nr. 2016/52 des Rates vom 15. Januar 2016 zur Festlegung von Höchstwerten an Radioaktivität in Lebens- und Futtermitteln im Falle eines nuklearen Unfalls oder eines anderen radiologischen Notfalls und zur Aufhebung der Verordnung (EURATOM) Nr. 3954/87 des Rates und der Verordnungen (EURATOM) Nr. 944/89 und (EURATOM) Nr. 770/90 der Kommission, Amtsblatt Nr. L 13 vom 20. Januar 2016 S. 2
  3. vgl. auch den Abschnitt "Ingestion" im Artikel Radiologischer Notfall
  4. Anlage 7 - Strahlenschutzgesetz (StrlSchG) auf buzer.de
  5. vgl. auch den Artikel Äquivalentdosis