Alte Schönhauser Straße 23/24

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Gebäudekomplex Alte Schönhauser Straße 23/24

Alte Schönhauser Straße 23/24 ist ein Wohn- und Geschäftshaus in Berlin-Mitte. Es wurde 1842 erbaut, 1865 umgebaut und nach 1990 saniert. Der Gebäudekomplex gehört zum denkmalgeschützten Bauensemble Spandauer Vorstadt.

Die Grundstücke Alte Schönhauser Straße 23 und 24 gehörten spätestens seit 1821 der wohlhabenden Grundbesitzerfamilie Bötzow.[1] 1842 wurde ein neues Gebäude auf beiden Grundstücken erbaut. 1865 ließ der Eigentümer Julius Albert Bötzow (1811–1873) Umbauten vornehmen. In dieser Zeit betrieb er dort auch eine Brauerei.[2] Diese verlegte er bald auf den Windmühlenberg an der Prenzlauer Allee, wo sie nach wenigen Jahren zur größten Brauerei Berlins wurde.

Das Scheunenviertel war in dieser Zeit eine Wohngegend für arme Leute. 1877 überließ Julius Bötzow (1839–1914) den Ärztinnnen Franziska Tiburtius und Emilie Lehmus eine Wohnung im Seitenflügel, wo diese die erste Gemeinschaftspraxis von Ärztinnen im Deutschen Reich eröffneten. Diese war vor allem für einkommensschwache Frauen und Kinder und bestand dort bis etwa 1901.

Das Gebäude wurde im 19. und frühen 20. Jahrhundert ansonsten vor allem von kleinen Gewerbetreibenden genutzt, die dort ihre Geschäfts- oder Wohnräume hatten. Das Gebäude überstand den Zweiten Weltkrieg weitgehend unbeschadet. Zu DDR-Zeiten wurde es als Wohnhaus genutzt. Nach 1990 wurde es umfassend saniert und wird seitdem als Wohn- und Geschäftshaus genutzt.

Historische Frauenpraxis

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1877 eröffneten die Ärztinnen Franziska Tiburtius und Emilie Lehmus eine Praxis für mittellose Frauen und Kinder in einer Wohnung im Seitenflügel im Erdgeschoss.[3][4] Dieses war (neben ihren Privatpraxen) die erste medizinische Einrichtung von Ärztinnen im Deutschen Kaiserreich überhaupt. Julius Bötzow hatte sie ihnen kostenlos zur Verfügung gestellt.

„Die seit etwa 4 Wochen durch die beiden weiblichen Ärzte Dr. Franziska Tiburtius und Dr. Emilie Lehmus eröffnete Armenklinik in der Schönhäuserstraße steht bereits im besten Flor. Von einem reichen Fabrikanten sind dort drei Zimmer unentgeltlich überlassen, in denen die Einrichtung, allerdings bis jetzt nur auf das Nothwendigste beschränkt ist. An der Thür ist ein Schild angeschlagen ‚Unentgeltliche Behandlung kranker Frauen und Kinder, Montags und Donnerstags von 4-6‘. Aus den vier Stunden wöchentlich werden aber, wie man erfährt, meist zwölf und vierzehn, so groß ist der Zudrang, und beide Damen müssen stets fleißig arbeiten, wenn sie bis 10 Uhr fertig werden wollen. (...) Einrichtung und Medikamente werden durch milde Gaben bestritten (...) . Der Arbeitslohn der beiden Aerztinnen besteht nur in der Bereicherung ihrer Erfahrungen, die sie auf diesem Wege sammeln und in dem freudigen Bewußtsein, so manches Weh lindern und vielfach Hilfe bringen zu können““[5]

(Es wurde möglicherweise die Praxis des Wundarztes und Geburtshelfers Dr. G. Fieber in diesem Haus mitgenutzt[6][7]) Die Patientinnen mussten lediglich 10 Pfennig bezahlen, wenn sie dazu in der Lage waren.

„Die Zahl der Patientinnen nahm täglich zu. Schließlich durften nicht mehr als vierzig Frauen für eine Sprechstunde angenommen werden, da wir ohnehin bin in die sinkende Nacht zu arbeiten hatten. Dr. Lehmus und ich haben die uns sehr liebe Arbeit weiterge- führt, auch nachdem längst von überflüssiger Zeit bei uns nicht mehr die Rede war.“[8]

Ab 1890 unterstützten weitere junge Ärztinnen die beiden. Allerdings musste noch in dieser Zeit Dr. Karl Tiburtius, der Bruder von Franziska Tiburtius, regelmäßig einige Formalitäten übernehmen, da die Frauen weiterhin im Deutschen Reich offiziell nicht als Ärztinnen anerkannt waren.[9] Um 1901 wurde die Praxis in die Gleditscher Straße 48 verlegt.

Gedenktafel

Eine Gedenktafel für Dr. Franzisa Tiburtius und Dr. Emilie Lehmus und ihre Praxis ist im Hochparterre zwischen zwei Fenstern angebracht.[10]

Außerdem gibt es mehrere Stolpersteine für ehemalige jüdische Bewohner des Hauses, die in den 1930er Jahren deportiert wurden.[11]

  • Berliner Adreßbücher, 1799–1943
Commons: Alte Schönhauser Straße 23/24 – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

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  1. Adressbuch Berlin, 1822–1880
  2. Otto Behrendt: Die Bötzows. Berliner Grundbesitzer. Teil B, in Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins, 38, 1921, S. 38–39 Text, mit einigen Angaben auch zu den Besitzungen der Familie Bötzow; vgl. Berliner Asreßbücher!
  3. Gaby Franger: Dr. Emilie Lehmus, in Fürther Geschichts-Blätter, 4/2020, S. 127–148, hier S. 134f. PDF, mit einigen Informationen und Zitaten
  4. Kristin Hoesch, Ärztinnen für Frauen. Kliniken in Berlin 1877–1914, 2016, S. 42–43; mit einigen grundlegenden Informationen; (und mit einigen kleinen historischen Ungenauigkeiten), so wurden z. B. der Begriff Klinik, bzw. Poliklinik, historisch für diese Praxis wahrscheinlich offiziell überhaupt nicht verwendet, sondern erst ab etwa 1908 für die Frauenklinik in der Kyffhäuserstraße; auch müssen die Erinnerungen von Franziska Tiburtius kritisch als subjektive Angaben bewertet werden, und nicht in jedem Fall als objektive Angaben (so hat zum Beispiel Julius Bötzow das Haus schon um 1881 verkauft, nach dem Adreßbuch, und konnte so die Frauen dort nicht viele Jahre unterstützen, wie Franziska Tiburtius angibt)
  5. Zweibrücker Zeitung vom 2. August 1877, S. 2 (rechts unten) Digitalisat; identischer Text in Amtsblatt für die königlichen Bezirksämter Forchheim und Ebermannstadt sowie für die Königliche Stadt Forchheim dann die Königlichen Amtsgerichte Ebermannstadt, Forchheim und Gräfenberg, Forchheim 1877, mit Nachrichtendatum 30. Juli 1877; zitiert in Gaby Franger: Dr. Emilie Lehmus, in Fürther Geschichts-Blätter, 4/2020, S. 127–148, hier S. 134 PDF
  6. Alte Schönhauser Straße 23/24. In: Berliner Adreßbuch, 1878, 2. Theil, S. 218.; auch schon 1876, es gibt in den Adressbüchern keinerlei Hinweise zu der Frauenpraxis von Dr. Tiburtius und Dr. Lehmus unter dieser Adresse, auch nicht in den folgenden Jahren bis 1897!, auch keine möglichen Mittelsmänner oder -frauen
  7. Fieber. In: Berliner Adreßbuch, 1878, S. 202. „Fieber, G., prakt. Arzt, Wundarzt und Geburtshelfer, C, Alte Schönhauserstraße 23.24. L 7–8, 3–4“. (öffentliche Sprechzeiten); die Ärztinnen hatten Sprechzeiten erst ab 4 (= 16 Uhr) und praktizierten meist bis 10 (= 22 Uhr), eine gemeinsame Nutzung einer Praxis wäre dafür eine schlüssige Erklärung; diese Möglichkeit wurde in der Forschung bisher nicht untersucht, da der Adreßbuch-Eintrag nicht bekannt war; möglicherweise war Dr. Fieber ein Bekannter von Dr. Karl Tiburtius; etwa seit 1881 hatte er seine Praxis an einer anderen Adresse
  8. Franziska Tiburtius, Erinnerungen, S. 183f., zitiert in Franger, 2020, S. 135
  9. Berliner Zeitung vom 1. Februar 1961, S. 8, Leserbrief von Erna Orth, zitiert in Emilie Lehmus und Franziska Tiburtius Gedenktafeln in Berlin; „Der Name Frau Dr. Tiburtius ist für mich seit frühester Kindheit ein fester Begriff. 1885 zog meine Großmutter mit ihrer jüngsten Tochter nach Berlin, und zwar in das Haus Alte Schönhauser Straße 23/24. Im Seitenflügel dieses Hauses befand sich jene Poliklinik von Frau Dr. Tiburtius. Da eine Frau damals jedoch nicht als leitende Ärztin tätig sein durfte, kam einmal wöchentlich der Bruder von Frau Dr. Tiburtius, um ‘nach dem Rechten zu sehen’. Das Haus hat den Krieg teilweise überstanden und es wäre doch nicht schlecht, dort eine Gedenktafel für die erste Ärztin Berlins anzubringen.” (eine der wenigen bekannten Zeitzeugenberichte über die Praxis in der Alten Schönhauser Straße)
  10. Emilie Lehmus und Franziska Tiburtius Gedenktafeln in Berlin, mit einigen Informationen
  11. Alte Schönhauser Straße 23/24 Stolpersteine in Berlin, mit 7 Stolpersteinen (Stand 2024)

Koordinaten: 52° 31′ 33,3″ N, 13° 24′ 24,8″ O