Benutzer:3mnaPashkan/Test: Genozid in Libyen

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Vergleiche mit dem Nationalsozialismus [NEUE VERSION][Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Mussolini und Hitler in München (1938)

Die italienischen Wüstenlager in der Cyrenaika waren die historisch ersten Konzentrationslager, die von einem faschistischen Regime errichtet wurden.[1] Im Vergleich mit den Lagern der anderen Kolonialmächte erwiesen sich jene in der Cyrenaika als „außergewöhnlich brutal“ (Nicola Labanca), und auch die Deportation einer gesamten Bevölkerung stellte verglichen mit dem Kolonialismus des liberalen Italien eine beispiellose Maßnahme dar.[2] Aufgrund ihrer hohen Sterberate (um 40 %) werden mindestens die fünf größten und brutalsten dieser Einrichtungen, in denen die meisten der Opfer umkamen, von Historikern auch als „Todeslager“ (death camps) oder „Vernichtungslager“ bezeichnet.[3] So hielt Aram Mattioli im Jahr 2003 in einem Artikel für Die Zeit fest: „Italien war das erste faschistische Regime, das ganze Volksgruppen deportierte und in Todeslagern zugrunde gehen ließ.“[4] Vereinzelt wird Italiens Genozid in der Cyrenaika auch in die Nähe der späteren nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gerückt, oder sogar von einem „italienischen Holocaust“ gesprochen.[5] Über die genauen Ursachen und Absichten des Völkermords wird in der Forschung zwar kontrovers diskutiert (so die Frage, ob der Genozid nun als „De-Facto-Politik“ einer rein militärischen Präventivmaßnahme erfolgte, oder ob er auch mit einer bewussten Absicht zusammenhing, Platz für italienische Siedlerfamilien zu schaffen).[6] Allgemein gelten die italienischen Konzentrationslager jedoch als „nicht vergleichbar“ mit den späteren „Vernichtungsfabriken“, wie sie das deutsche NS-Regime während des Zweiten Weltkrieges betrieben hat.[7] Außerdem betont Patrick Bernhard (2016), dass die einheimische Bevölkerung Libyens zwar massiv unter der italienischen Herrschaft litt, die Massenverbrechen des faschistischen Italiens jedoch im Gegensatz zum nationalsozialistischen Völkermord an den Juden nicht auf die totale Vernichtung eines „Rassenfeindes“ abzielten.[8]

Auch Wolfgang Schieder (1985) betont in diesem Zusammenhang, dass zwischen dem faschistischen Italien und dem nationalsozialistischen Deutschland ein deutlicher Unterschied bezogen auf die Massenvernichtung der Juden bestehe. Dieser Unterschied spreche jedoch vor dem Hintergrund der „faschistischen Vernichtungspolitik in Afrika“ nicht gegen einen „Vergleich des Vernichtungswillens“ beider Regimes: „Vielmehr ist festzuhalten, dass sich das Deutschland Hitlers und das Italien Mussolinis auf der Ebene der Verfolgung ihrer Opfer zwar in der Konsequenz und Unerbittlichkeit der Unterdrückung unterschieden, jedoch im Ansatz ähnlich waren.“[9] Die amerikanische Historikerin Ruth Ben-Ghiat (2004) erkennt einerseits an, dass es den italienischen faschistischen Verbrechen im Vergleich zu denen der Nationalsozialisten an Ausmaß und „kritischer Masse“ fehle. Angesichts des von den Italienern verübten Völkermords in Libyen, ihrer Beteiligung an ethnischen Säuberungen auf dem Balkan, des massenhaften Giftgaseinsatzes in Äthiopien und weiterer Verbrechen sieht sie andererseits die Notwendigkeit, den bildlichen Ausdruck vom „kleineren Übel“ des italienischen Faschismus kritisch zu überprüfen.[10] Laut Roman Herzog (2016) könne man bezogen auf das Vorgehen des Mussolini-Regimes in Afrika die Hypothese „von einer andersartigen Vernichtungspolitik aufstellen, die sich zwar grundsätzlich von der industriell geplanten Vernichtung der Nationalsozialisten unterschied, gleichwohl aber eine nicht unerhebliche Anzahl von Todesopfern zur Folge hatte und im Falle Äthiopiens wie Libyens genozidialen Charakter trug.“[11]

Kriegsflaggen der Verbündeten Deutschland und Italien (1943)

Der libysch-US-amerikanische Historiker Ali Abdullatif Ahmida (2009) wiederum beklagt ein „Schweigen der meisten vergleichenden Faschismusforscher“ zum Völkermord in Libyen und diagnostiziert einen „erschreckenden Fall historischer Amnesie“. Diese sei mitverantwortlich für den Mythos eines italienischen Faschismus, der anders als das NS-Regime nicht in Massenmorde verwickelt und daher „ein moderates, weniger böses oder sogar gutartiges Regime“ gewesen sei.[12] Die Kritiker des italienischen Faschismus fokussieren sich laut Ahmida (2020) zu sehr auf Italiens Rassengesetze von 1938, obwohl klar sei, dass sich der Antisemitismus unter den italienischen Faschisten erst spät durchgesetzt hat. Würden die in Libyen und Äthiopien begangenen Verbrechen nicht berücksichtigt, trage dieser Umstand zum Mythos eines „moderaten“ italienischen Faschismus bei.[13] Ebenfalls kritisiert Ahmida (2006) eine unterschiedliche Gewichtung von Opfern der deutschen Nationalsozialisten in Europa und Opfern der italienischen Faschisten in den afrikanischen Kolonien. Diese aufgrund kultureller Unterschiede vorgenommene Unterscheidung sei „eurozentristisch“.[14]

In seiner jüngsten Monographie zum Völkermord argumentiert Ahmida (2020), dass die „Entfernung“ der einheimischen Bevölkerung Libyens und die Bereitstellung ihres Landes für italienische Siedler den Nationalsozialisten als Vorbild für ihre eigenen Siedlungsplanungen in Osteuropa gedient habe. Damit folgt Ahmida den Thesen des deutschen Historikers Patrick Bernhard (2010), der eine tiefgehende Bewunderung der nationalsozialistischen Führung für die Libyenpolitik des faschistischen Italiens nachgewiesen hat. Laut Bernhard habe der NS-Staat bewusst den früheren Kolonialismus des Deutschen Kaiserreiches verworfen und sich stattdessen am italienischen Kolonialfaschismus orientiert. Zwischen 1938 und 1941 erschienen in Deutschland zahlreiche Bücher über den italienischen Siedlerkolonialismus, und der NS-Staat studierte das italienische „Erfolgsmodell“ eingehend. Einige Delegationen mit deutschen Wissenschaftlern, Städteplanern, Biologen und Agrarexperten wurden in die Kolonie entsandt, um „von der Effizienz und dem Erfolg des italienischen kolonialen Modells in Libyen“ zu lernen. Ebenso wurden Funktionäre der faschistischen Staatspartei zu Seminaren über Libyen nach Deutschland eingeladen.[15] Deutlich wird das deutsche Interesse auch an den Besuchen führender NS-Politiker wie Hermann Göring, Heinrich Himmler und Rudolf Heß, die 1937 und 1938 mit der Kolonialverwaltung in Libyen zusammentrafen. Dabei wurden unter maßgeblicher Mitwirkung Himmlers Trainingsprogramme für 150 SS-Offiziere an den italienischen Kolonialschulen in Tivoli und Rom organisiert. 1939 reisten Göring und Himmler erneut nach Libyen.[15]

Unter Verweis auf die Schlüsselrollen Görings und Himmlers bei der späteren Vernichtung der europäischen Juden sieht Ahmida sogar die Möglichkeit, dass der italienische Genozid in Libyen den Nationalsozialisten „als Modell für ihren eigenen Holocaust“ gedient haben könnte,[16] womit er an die Thesen Hannah Arendts über die Wurzeln des Holocaust im europäischen Kolonialismus anknüpft.[17] Dem Widerspricht klar Bernhard (2016), der eine historische Kontinuität nur bei der Siedlungspolitik der beiden Regime sieht und konstatiert: „Der Holocaust markierte einen grundlegenden Unterschied zwischen dem deutschen und dem italienischen Regime, nicht aber das von den Deutschen im Schatten des Holocaust geplante und teilweise realisierte Siedlungsprogramm.“[18]

  1. Abdulhakim Nagiah: Italien und Libyen in der Kolonialzeit: Faschistische Herrschaft und nationaler Widerstand. In: Sabine Frank, Martina Kamp (Hrsg.): Libyen im 20. Jahrhundert. Zwischen Fremdherrschaft und nationaler Selbstbestimmung. Hamburg 1995, S. 79.
  2. Nicola Labanca: Italian Colonial Internment. In: Ruth Ben-Ghiat, Mia Fuller (Hg.): Italian Colonialism. Palgrave Macmillan, New York 2005, S. 27–36, hier S. 27 u. 31 f.
  3. Ali Abdullatif Ahmida: Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History. London/ New York 2020, S. 9, 47 u. 61; Angelo Del Boca: Faschismus und Kolonialismus. Der Mythos von den „anständigen Italienern“. In: Fritz-Bauer-Institut (Hrsg.): Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 2004, S. 193–202, hier S. 195 f; Roman Herzog: Zur Topographie des italienischen Lagerkosmos unter dem Faschismus. Ergebnisse des Forschungsprojekts www.campifascisti.it. In: Henning Borggräfe (Hg.): Freilegungen. Wege, Orte und Räume der NS-Verfolgung. Göttingen 2016, S. 106–118, hier S. 116 f; Aram Mattioli: Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941. Zürich 2005, S. 51.
  4. Aram Mattioli: Libyen, verheißenes Land. In: Die Zeit. 15. Mai 2003, abgerufen am 30. März 2015.
  5. Ali Abdullatif Ahmida: The Making of Modern Libya. State Formation, Colonization and Resistance, 1830–1932. New York 2009, S. 135; Angelo Del Boca: Faschismus und Kolonialismus. Der Mythos von den „anständigen Italienern“. In: Fritz-Bauer-Institut (Hrsg.): Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 2004, S. 193–202, hier S. 195 f; Roman Herzog: Zur Topographie des italienischen Lagerkosmos unter dem Faschismus. Ergebnisse des Forschungsprojekts www.campifascisti.it. In: Henning Borggräfe (Hg.): Freilegungen. Wege, Orte und Räume der NS-Verfolgung. Göttingen 2016, S. 106–118, hier S. 116 f; Aram Mattioli: Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941. Zürich 2005, S. 181; Samuel Totten, Paul R. Bartrop: Dictionary of Genocide: Volume 1: A–L. Greenwood Press, London 2008, S. 259.
  6. Roman Herzog: Zur Topographie des italienischen Lagerkosmos unter dem Faschismus. Ergebnisse des Forschungsprojekts www.campifascisti.it. In: Henning Borggräfe (Hg.): Freilegungen. Wege, Orte und Räume der NS-Verfolgung. Göttingen 2016, S. 106–118, hier S. 116 f; Aram Mattioli: Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941. Zürich 2005, S. 51.
  7. Aram Mattioli: Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941. Zürich 2005, S. 51.
  8. Patrick Bernhard: Hitler's Africa in the East: Italian Colonialism as a Model for German Planning in Eastern Europe. In: Journal of Contemporary History. Band 51, Nr. 1, 2016, S. 61–90, hier S. 87.
  9. Wolfgang Schieder: Das Deutschland Hitlers und das Italien Mussolinis. Zum Problem faschistischer Regimebildung. In: Gerhard Schulz (Hrsg.): Die große Krise der dreißiger Jahre. Vom Niedergang der Weltwirtschaft zum Zweiten Weltkrieg. Göttingen 1985, S. 57.
  10. Ruth Ben-Ghiat: A Lesser Evil? Italian Fascism in/and the Totalitarian Equadation. In: Helmut Dubiel, Gabriel Motzkin (Hg.): The Lesser Evil. Moral Approaches to Genocide Practices. Routledge, London/New York 2004, ISBN 0-7146-8395-7, S. 137–153, hier S. 148 und die Anmerkungen zu Ben-Ghiats Studie bei Ali Abdullatif Ahmida: When the Subaltern speak: Memory of Genocide in Colonial Libya 1929 to 1933. In: Italian Studies. Band 61, Nummer 2, 2006, S. 175–190, hier S. 180.
  11. Roman Herzog: Zur Topographie des italienischen Lagerkosmos unter dem Faschismus. Ergebnisse des Forschungsprojekts www.campifascisti.it. In: Henning Borggräfe (Hg.): Freilegungen. Wege, Orte und Räume der NS-Verfolgung. Göttingen 2016, S. 106–118, hier S. 116 f.
  12. Ali Abdullatif Ahmida: The Making of Modern Libya. State Formation, Colonization and Resistance, 1830–1932. New York 2009, S. 146; Ali Abdullatif Ahmida: When the Subaltern speak: Memory of Genocide in Colonial Libya 1929 to 1933. In: Italian Studies. Band 61, Nummer 2, 2006, S. 175–190, hier S. 179.
  13. Ali Abdullatif Ahmida: Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History. London/ New York 2020, S. 71.
  14. Vgl. Ali Abdullatif Ahmida: When the Subaltern speak: Memory of Genocide in Colonial Libya 1929 to 1933. In: Italian Studies. Band 61, Nummer 2, 2006, S. 175–190, hier S. 176.
  15. a b Ali Abdullatif Ahmida: Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History. London/ New York 2020, S. 10, 119 f. u. 172 f; Patrick Bernhard: Die „Kolonialachse“. Der NS-Staat und Italienisch-Afrika 1935 bis 1943. In: Lutz Klinkhammer, Amedeo Osti Guerazzi, Thomas Schlemmer (Hrsg.): Die „Achse“ im Krieg. Politik, Ideologie und Kriegsführung 1939–1945. Paderborn u. a. 2010, S. 147–175, hier S. 157 f, 170 f u. 174 f.
  16. Ali Abdullatif Ahmida: Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History. London/ New York 2020, S. 120.
  17. Ali Abdullatif Ahmida: Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History. London/ New York 2020, S. 10 ff, 171–173.
  18. Patrick Bernhard: Hitler's Africa in the East: Italian Colonialism as a Model for German Planning in Eastern Europe. In: Journal of Contemporary History. Band 51, Nr. 1, 2016, S. 61–90, hier S. 61 u. 87.