Benutzer:HerbertErwin/Gerechtigkeit

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Philosophische Zugänge[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Frage nach der Natur der Gerechtigkeit ist seit der griechischen Antike Gegenstand intensiver philosophischer Debatten. Den Begriff der Gerechtigkeit untersucht insbesondere der Zweig der Moralphilosophie bzw. Ethik und soweit Gerechtigkeit auf religiöse Vorstellungen zurückgeführt wird, die Moraltheologie. Als philosophischer Begriff kann Gerechtigkeit von zwei Seiten betrachtet werden: die persönliche oder subjektive Gerechtigkeit (als Tugend) und die politische oder institutionelle Gerechtigkeit, also die Gerechtigkeit von Recht, Staat und Politik.

Antike[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In der vorklassischen Zeit wird das griech. Wort „dike“ (Recht) häufig personifiziert. So spricht Hesiod von der Göttin Dike als der vergeltenden, insbesondere der strafenden Gerechtigkeit.

Platon bestimmt in der Politeia die Gerechtigkeit (dikaiosysne) sowohl im politischen wie im indivuduellen Bereich als eine der vier Kardinaltugenden. Während die anderen drei Tugenden jedoch einem Stand oder einem Seelenteil zugeordnet werden, wird die Gerechtigkeit als deren Grundlage und Zusammenfassung bestimmt. Im Staat wird Gerechtigkeit“ mit der sog. „Idiopragieformel“ definiert: Das Seinige tun und nicht vielerlei treiben ist Gerechtigkeit. [1].

Aristoteles führt in der Nikomachischen Ethik eine Klassifizierung von Gerechtigkeitskonzeptionen ein, die im Prinzip bis heute Gültigkeit hat:

  • Gerechtigkeit als Gesetzes- oder Regelgemäßheit
In diesem Sinne ist gerecht das, was dem Gesetz bzw. bestimmten Regeln entspricht. Diese können durch bloße Konvention oder von Natur geben sein. Entscheidend ist für Aristoteles dabei, dass man nicht bloß gerecht handelt, sondern dieses gerechte Handeln auch wolle [2] - also die Haltung der handelnden Person, ihre „Moralität“ (Kant).
  • Gerechtigkeit als Ausgleich oder Wiederherstellung
Diese Gerechtigkeitsauffassung sieht vor, dass ein bestimmter ethischer Zustand aufrechtzuerhalten bzw. wiederherzustellen ist. Diese Form von Gerechtigkeit bezieht sich auf den Verkehr zwischen den Menschen, sei er freiwilliger (z.B. Gütertausch) oder unfreiwilliger Art (z.B. bei Mord und Täuschung). Im ersten Fall soll auf den ordnungsgemäßen Austausch von Güttern geachtet werden (Tauschgerechtigkeit), im zweiten Fall geht es um die Regeln fairer Strafe (korrektive Gerechtigkeit).
  • Gerechtigkeit als Verteilungsgerechtigkeit
Wird Gerechtigkeit als Verteilungsgerechtigkeit (distributive Gerechtigkeit) verstanden, geht es darum, dass eine Person oder Institution Güter unter Empfängern nach bestimmten Regeln verteilt. Aristoteles sieht das Kriterium der Verteilungsgerechtigkeit darin, dass „Gleichen Gleiches und Ungleichen Ungleiches“ zukomme. Dabei ist es aus seiner Sicht notwendig, dass das zu Verteilende in einer angemessenen Relation zum Empfänger stehen muss (geometrische Proportionalität).

Eine der klassischen Definitionen von Gerechtigkeit stammt vom spätantiken römischen Juristen Ulpian: Honeste vivere, alterum non laedere, suum cuique tribuere (Ehrenhaft leben, andere nicht kränken oder schädigen, jedem das Seine zugestehen). Dem vielzitierten Grundsatz suum cuique tribuere (jedem das Seine) liegt der Begriff der Verteilungsgerechtigkeit und Verhältnismäßigkeit zugrunde.

Mittelalter[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Im Mittelalter wird Gerechtigkeit im dreifachen Sinne verstanden:

  • als Gerechtigkeit Gottes
  • als Rechtfertigung des Sünders
  • als sittliche Gerechtigkeit

Die mittelalterliche Theologie bzw. Philosophie des Augustinus betrachtete Gerechtigkeit eher als persönliche Tugend denn als politische Systemeigenschaft.

Neuzeit[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Gegenwart[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Rawls[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Großen Einfluss auf die jüngere philosophische Diskussion hatte der liberale Denker John Rawls, der sich vor allem in Abgrenzung zum Utilitarismus mit der Gerechtigkeit politischer Systeme befasste. Sein Hauptwerk „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ zählt zu den meistdiskutierten ethischen Werken der Gegenwart. Es führt die Linie der Vertragstheorien fort und wendet sich gegen den ebenfalls die zeitgenössische Diskussion beherrschenden Utilitarismus.

Rawls versteht unter Gerechtigkeit in erster Linie soziale Gerechtigkeit. Diese definiert er als „die Art, wie die wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen Grundrechte und –pflichten und die Früchte der gesellschaftlichen Zusammenarbeit verteilen“ (TG, S. 23). Er kritisiert dabei am Utilitarismus, dass dieser die Gerechtigkeit im Sinne des „größten Glücks der größten Zahl“ nur als eine Funktion des gesellschaftlichen Wohlergehens gesehen habe. Dies werde den Freiheitsrechten der einzelnen Individuen nicht gerecht. Jedem Individuum müsse man „eine auf der Gerechtigkeit - oder wie manche sagen, dem Naturrecht - beruhende Unverletzlichkeit“ zusprechen, „die auch im Namen des Wohles aller anderen nicht aufgehoben werden kann. Es ist mit der Gerechtigkeit unvereinbar, dass der Freiheitsverlust einiger durch ein größeres Wohl aller gutgemacht werden könnte“ (TG, S. 46).

Der Urzustand und der „Schleier der Unwissenheit“[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Auf der Suche nach den legitimen Gerechtigkeitsprinzipien, entwirft Rawls - wie die Vertragstheoretiker vor ihm - das Gedankenexperiment des Urzustandes. In ihm sollen faire Bedingungen herrschen, die niemanden benachteiligen oder bevorzugen. Jedes Individuum sei dabei mit einem „Schleier der Unwissenheit“ (veil of ignorance) umgeben. In diesem Zustand kennt

„niemand seinen Platz in der Gesellschaft, seine Klasse oder seinen Status; ebensowenig seine natürlichen Gaben, seine Intelligenz, Körperkraft usw. Ferner kennt niemand seine Vorstellung vom Guten, die Einzelheiten seines vernünftigen Lebensplanes, ja nicht einmal die Besonderheiten seiner Psyche wie seine Einstellung zum Risiko oder seine Neigung zu Optimismus oder Pessimismus. Darüber hinaus setze ich noch voraus, daß die Parteien die besonderen Verhältnisse in ihrer eigenen Gesellschaft nicht kennen, d. h. ihre wirtschaftliche und politische Lage, den Entwicklungsstand ihrer Zivilisation und Kultur. Die Menschen im Urzustand wissen auch nicht, zu welcher Generation sie gehören“ (TG, S. 160).

Erst diese totale Unwissenheit über die eigenen Fähigkeiten und Interessen garantiert für Rawls, dass die Menschen die zur Wahl stehenden Gerechtigkeitsprinzipien „allein unter allgemeinen Gesichtspunkten beurteilen“ (TG, S. 159).

Die beiden Gerechtigkeitsprinzipien[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Unter den von Rawls als Gedankenexperiment angenommenen Bedingungen des Urzustandes würden die Menschen sich nun auf zwei Gerechtigkeitsprinzipien einigen:

„1. Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist.
2. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, dass (a) vernünftigerweise zu erwarten ist, dass sie zu jedermanns Vorteil dienen und (b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen“ (TG, S. 81).

Das erste Gerechtigkeitsprinzip bezieht sich auf die „Grundfreiheiten“, zu denen Rawls politische und individuelle Freiheiten zählt. Diese seien für alle gleich zu verteilen. Anders sieht es mit den im zweiten Grundprinzip angesprochenen wirtschaftlichen und sozialen Gütern aus. Hier könne eine Ungleichverteilung dann gerechtfertigt sein, wenn sie von allgemeinem Interesse ist. Im Falle eines Konfliktes zwischen beiden Gerechtigkeitsprinzipien habe der Schutz der Freiheit Vorrang. Eine Verletzung der Grundfreiheiten könne selbst dann nicht in Kauf genommen werden, wenn dadurch „größere gesellschaftliche oder wirtschaftliche Vorteile“ (TG, S. 82) entstehen könnten.

Differenzprinzip und demokratische Gleichheit[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die im zweiten Gerechtigkeitsprinzip erlaubte sozioökonomische Ungleichheit ist nach Rawls nur dann zulässig, wenn sie zur Verbesserung der Aussichten der am wenigsten begünstigten Mitglieder der Gesellschaft beiträgt. So sei z. B. die Ungleichheit zwischen Unternehmer- und Arbeiterklasse nur dann zu rechtfertigen, „wenn ihre Verringerung die Arbeiterklasse noch schlechter stellen würde“ (TG, S. 98f.). Rawls bezeichnet die durch das Differenzprinzip charakterisierte Ordnung als „System der demokratischen Gleichheit“. Dieses sei den „gesellschaftlichen und natürlichen Zufälligkeiten“ (TG, S. 95) entgegenzusetzen, so dass „unverdiente Ungleichheiten ausgeglichen werden“ (TG, S. 121)

Auf John Rawls A Theory of Justice, die 1971 veröffentlicht wurde, gab Robert Nozick 1974 mit seinem Buch Anarchy, State, and Utopia die libertäre Antwort.

Philosophische Zugänge alt[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Aristoteles’ Unterscheidungen zur Gerechtigkeit

Auch für Aristoteles ist die Gerechtigkeit die höchste aller Tugenden. Gesamttugend ist sie allerdings nur, insofern sie das Verhalten zu den Mitmenschen ordnet. Aristoteles unterscheidet grundsätzlich zwei Verwendungen des Ausdrucks „gerecht“:

  • im objektiven bzw. institutionellen Verständnis werden damit Regeln, Gesetze und Institutionen verstanden
  • im subjektiven bzw. personalen Verständnis geht es um die Einstellung von Personen.

Für Aristoteles hat das subjektive Verständnis von Gerechtigkeit Vorrang. In diesem Sinne bedeutet Gerechtigkeit für ihn, dass man durch sie nicht bloß zum Gerechten fähig sei und gerecht handle, sondern es überdies wolle [3]. Entscheidend ist also die Haltung der handelnden Person, ihre „Moralität“ (Kant).

Gerechtigkeitsbegriff Bestimmung
Gerechtigkeit schlechthin Die subjektive, personale Gerechtigkeit
allgemeine G. Die Gerechtigkeit, insoferen sie die ganze Tugend (hole arete) ausmacht (die Gerechtigkeit in Bezug auf andere)
besondere G. die Gerechtigkeit, die sich mit den äußeren Gütern befasst
Verteilungs-G. (nemetikon dikaion) Die Zuteilung von Ehre und Geld
Ordnende G. (diorthotikon) die Tauschgerechtigkeit
G. in Institutionen Die objektive Gerechtigkeit
nicht-politische G. Z.B. die Gerechtigkeit in der Hausgemeinschaft
politische G. Z.B. die Selbstregierung freier Bürger
Die Gerechtigkeitsbegriffe des Aristoteles

Laut Aristoteles ist Gerechtigkeit ein Maßstab für die Angemessenheit eines Verhaltens. Er unterschied abstrakt zwischen ausgleichender (kommutativer) und austeilender (distributiver) Gerechtigkeit. Letzteres lässt sich mit "Jedem das Seine" (also das, was seinem Wesen und den individuellen Umständen entspricht) zusammenfassen. Seit Aristoteles wird Gerechtigkeit häufig mit Proportionalität gleichgesetzt.

Anmerkungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Platon, Politeia, IV, 433 a
  2. Vgl. Aristoteles, Nikomachsche Ethik, V 1, 1129a8f.
  3. Vgl. Aristoteles, Nikomachsche Ethik, V 1, 1129a8f.