Benutzer:Magiers/US-amerikanisch oder amerikanisch: Eine Fallstudie
Ich bin weder Amerikanist noch Amerikanist. Ich schaue gerne American Football, glaube aber nicht an den American Dream und lebe nicht nach dem American Way of Life. An der amerikanischen Kultur (gibt es die in der Wikipedia nicht?), dem amerikanischen Film, amerikanischer Musik und amerikanischer Literatur bin ich eher am Rande interessiert, zumeist nur an einzelnen herausragenden Vertretern, die der europäischen Kultur (die gibt es immerhin auch nicht) nicht allzu fern stehen. Doch wenn man anfängt, in der Wikipedia mitzuschreiben, kommt man nicht umhin, zur Gretchenfrage per excellence Stellung zu beziehen: amerikanisch vs. US-amerikanisch.
Gerade für einen Anfänger kann diese Frage, die sich ihm eigentlich nie von alleine gestellt hätte, zu einem echten Problem werden. Ich hatte 2008, als ich nach der Mitarbeit in einem Wiki-Speziallexikon meine ersten Gehversuche in der großen Schwester unternahm, das Wort „US-amerikanisch“ nie, aber auch wirklich nie irgendwo außerhalb der Wikipedia bewusst wahrgenommen. Das mag an meinem nicht stark ausgeprägten Interesse an Amerika und seiner Kultur zu tun haben, es hat aber sicher mindestens ebensoviel damit zu tun, dass es das Wort im normalen, alltäglichen Sprachgebrauch schlicht nicht gibt. Ich hätte nicht mal gewusst, wie man dieses merkwürdige Krüppelwort aus Großbuchstaben, Bindestrich und einem Adjektiv korrekt schreiben soll und glaube in meinem Innersten jetzt noch nicht, dass „US-amerikanisch“ inhaltlich, sprachlich oder ästhetisch akzeptabel ist.
Als ich meinen ersten Artikel mit Bezug zum amerikanischen Film anlegte, nämlich den zum Independent-Filmemacher Henry Jaglom, grübelte ich stundenlang über dieses merkwürdige Adjektiv nach, das die Einleitung seines großen Kollegen Woody Allen wie so ziemlich aller zum Vergleich aufgerufenen amerikanischen Regisseure ziert. Ich bemühte Google und die Literatur und fand fast immer nur „amerikanisch“, wo in der Wikipedia „US-amerikanisch“ steht. Nun möchte man als Neuling, der ohnehin das Gefühl hat, dass seine Beiträge weniger willkommen als nach allen Regeln der Wikipedia falsch sind, nicht gegen solche scheinbar zentralen Konventionen wie „Wir schreiben ‚US-amerikanisch‘, egal, was der Rest der Welt macht! Und wenn es Dir nicht passt, dann geh doch nach drüben!“ verstoßen. Also war es für mich eine echte Erleichterung, als ich feststellte, dass Jaglom gebürtiger Brite ist und ich Adjektiv samt Rüffel vermeiden kann.
Doch aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Mit meinem ersten Schreibwettbewerbs-Beitrag Die Glasglocke stellte sich das Problem neu und dieses Mal gar auf offener Bühne vor den Augen einer Jury. Vielleicht war es die zeitgleiche Kandidatur des Artikels Rip van Winkle vom Kollegen Janneman (ja der, bei dem Thema kein Wunder), die mich bestärkt hat. Vielleicht waren es andere ausgezeichnete Literaturartikel, die sich ebenfalls das „amerikanisch“ herausnahmen. Vielleicht war es sogar der Artikel Amerikanische Literatur selbst, der sich erdreistet den Fachbegriff zu verwenden statt eine wikipedianische Begriffsfindung wie US-amerikanische Literatur zu schaffen. Jedenfalls wagte ich zu einem Zeitpunkt, als Sylvia Plath noch „US-Amerikanerin“ war, sie in meinem Artikel als „Amerikanerin“ zu bezeichnen. Natürlich wurde das von einem Juror sogleich geändert. Wer wäre ich schon gewesen, einem allwissenden Juror zu widersprechen. Das hat dann ein anderer kommentarlos übernommen.
Angespornt durch den Erfolg beim Schreibwettbewerb mache ich mich an den zweiten Artikel zu einem Werk Sylvia Plaths: Ariel (Lyrik). Und ich mache die gleiche Erfahrung: Die Amerikanerin wird zur US-Amerikanerin. Einzig immer derselbe Kollege setzt die Änderung zurück. Irgendwann ist man so weichgekocht oder kopiert bloß noch gedankenlos, dass man den Standard in eigenen Artikeln übernimmt. Erst 5 Jahre nach Anmeldung bin ich so weit im Projekt verwurzelt, dass ich mich an den väterlichen Ratschlag „Lass dich niemals von irgendwem rumschubsen, mein Sohn!“ erinnere und in den von mir ausgebauten Artikeln Sylvia Plath und Philip Roth zurückschubse.
Fazit: So wie mir ist es wahrscheinlich zahlreichen Neulingen gegangen. Arglos verwenden sie ein korrektes, sowohl umgangssprachlich als auch in der Fachliteratur verwendetes Adjektiv und werden postwendend „korrigiert“. Und natürlich nehmen sie die Korrekturen hin wie die zahllosen anderen Veränderungen, die von fleißigen Korrektoren durchgeführt werden und deren Regeltreue sie aus Mangel an Regelkenntnis nicht hinterfragen können. Ein einmal in der Wikipedia etablierter Standard (durch einige wenige meinungsstarke Benutzer, durch Botläufe, durch Voreinstellungen in Tools) kann nicht mehr verändert werden, auch wenn er noch so sehr dem normalen wie dem fachlichen Sprachgebrauch widerspricht und im Falle von „US-amerikanisch“ schon fast einer Begriffsetablierung gleich kommt. Ein neuer Benutzer, sofern er nicht ein außerordentlicher Querkopf ist, hat keine Chance, sich der Welle der Standardisierung in den Weg zu stellen. Er wird auf ihr mitschwimmen und die Artikel der nach ihm Kommenden mit der scheinbar allein gültigen Formulierung fluten. Der ein oder andere Fachmann hingegen, den es unter den Wikipedia-Laien hin und wieder geben mag, wird bloß kopfschüttelnd von seinem einzig verbürgten Recht für Autoren Gebrauch machen.