Benutzer:Mautpreller/HWL2

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Exkurs: Horst-Wessel-Lied und Humanismus

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Wie Klemperer zeigt, kann eine philologische Zergliederung des Textes auf eine politische Kritik hinauslaufen. Walter Jens erinnert sich tatsächlich an eine solche Kritik: Der Lehrer Ernst Fritz am Hamburger Johanneum ließ seine elfjährigen Schüler, darunter Jens, im Jahre 1934 das Horst-Wessel-Lied ins Lateinische übersetzen. Dabei zielte er auf die angesprochene Uneindeutigkeit der Konstruktion „die Rotfront und Reaktion erschossen“. Diese muss im Lateinischen nach einer Richtung, also als Nominativ oder Akkusativ, aufgelöst werden. Fritz ließ seine Schüler beide Möglichkeiten ausprobieren, was zwei völlig verschiedene politische Aussagen ergibt. Dazu kamen Anspielungen auf die mehrdeutige Zeitform von „erschossen“:

So nahm er, das werde ich nie vergessen, im Latein-Unterricht das Horst- Wessel-Lied durch: „Kameraden, die Rotfront und Reaktion erschossen, marschier'n im Geist in unsern Reihen mit" – wer erschießt hier wen? Die Kameraden die Rotfront – das kann Horst Wessel doch nicht gemeint haben. Umgekehrt klingt's aber äußerst mißglückt. Sei dem, wie dem sei, wir wollen das Lied ins Lateinische übersetzen: Sodales qui necaverunt oder: Sodales qui necati sunt oder vielleicht sogar: Sodales qui necabant – andauernde Vergangenheit, das heißt: die Kameraden von der SA töten immer noch. Das war politische Grammatik.[1]

Zwischen der klassischen Philologie und dem Lied von SA-Marschierern bestand unzweifelhaft eine große sprachliche und soziale Distanz. Ludwig Berlin beschrieb sie aus seiner Kindheit an einem humanistischen Gymnasium:

Da standen sie, die Humanisten, die mit Homer und Horaz aufgewachsen waren, und sangen das Lied der braunbehemdeten Straßenkrakeeler, die Arme hochgereckt zu dieser geistlosen Geste. ... Die Nazis unter den Lehrern waren zweite Wahl, Possenreißer ohne Fähigkeit oder Persönlichkeit, die weder lehren noch Ordnung halten konnten.[2]

Doch diese Unterscheidung war keineswegs klar und durchgängig – immerhin hatte Horst Wessel selbst ein humanistisches Gymnasium besucht. Eine vollständige lateinische Übersetzung des Horst-Wessel-Liedes, die im Jahrgang 1933 der Zeitschrift Das humanistische Gymnasium erschien, löste die oben angesprochenen Uneindeutigkeiten in die vom Autor intendierte und politisch gewünschte Richtung auf und ließ jegliche Ironiesignale vermissen. Der Autor, Arthur Preuß, gab den Text in einer geradlinigen, metrisch gebundenen, aber zumindest auf die gängige Melodie nicht singbaren Fassung wieder. Die beiden Verse, die Ernst Fritz für seine Kritik benutzt hatte, lauten bei ihm:

Et quos rubra acies adversaque turba cecidit,
Horum animae comites agmina nostra tenent.[3]

Neben dieser „neulateinischen“ Version des Horst-Wessel-Liedes, die mit Neologismen wie „rubra acies“ („rote Schlachtreihe“ = Rotfront) und „adversa turba“ („widrige Menge“ = Reaktion) aufwartete, enthielt der Jahrgang weitere Übersetzungen von deutschen Gedichten ins Lateinische, etwa von Goethe, Eichendorff und Hölderlin.[4] Und diese Latinisierung der NSDAP-Hymne war offensichtlich kein Einzelfall: eine weitere lateinische Übersetzung des Liedes, von Lateinschülern aus Amöneburg angeregt, erschien im Völkischen Beobachter; beide Werke wurden 1934 in der Zeitschrift Societas Latina nachgedruckt, die sich der Förderung von Latein als lebendige Sprache verschrieben hatte.[5]

Preuß' Übersetzung hatte viel später ein kurioses Nachspiel: Die rechte Zeitschrift Etappe druckte sie in ihrer 16. Nummer (2001/2002) als Faksimile unter der Überschrift „Cultur-Curiosa“ nach, im selben Heft erschienen zwei politikhistorische Aufsätze von Peter Krause. Als dieser 2008 zum thüringischen Kultusminister ernannt werden sollte, wurde er mit heftiger öffentlicher Kritik konfrontiert. Die Kritiker verwiesen darauf, dass am unkommentierten Nachdruck des Werks der rechtsradikale Charakter der Etappe unmissverständlich deutlich werde, während Krause selbst anführte, es habe sich dabei um eine „satirisch-ironische“ Bezugnahme gehandelt.[6]

  1. Walter Jens: Und bleibe, was ich bin: ein Scheiß-Liberaler. Interview in der ZEIT vom 5. März 1993. Online
  2. Jugenderinnungen an Nürnberg von Ludwig Berlin. [1]
  3. Das humanistische Gymnasium, 44. Jahrgang, 6. Heft, S. 235.
  4. Vgl. den Auszug aus dem Inhaltsverzeichnis des Jahrgangs: [2]
  5. Vgl. Uwe Dubielzig: Die neue Königin der Elegien. Hermann Wellers Gedicht „Y“. [3], insbes. Fußnote 35.
  6. Vgl. z.B. [4].