Benutzer:Mautpreller/IG

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„Sie ist eine sehr präzise schreibende Autorin“ (Gabriel Engert, Kulturdezernent der Stadt Ingolstadt, zur Verleihung des Marieluise-Fleißer-Preises an Ines Geipel).

… werde mit Ines Geipel eine Schriftstellerin geehrt, die „im Sinne von Fleißer mit literarischer Genauigkeit die Wirklichkeit auslotet“ (Dorothea Deneke-Stoll, Zweite Bürgermeisterin der Stadt Ingolstadt).

Er lobte Geipel als eine Frau, die auf Fragen keine bequemen Antworten gebe, die selbst frage und Wert auf Genauigkeit lege und deshalb unbedingt poetisch sei. Denn: „Poesie ist genaues Sprechen“ (Hauke Hückstädt in seiner Laudatio).

Klingt ja gut, dass Poesie "genaues Sprechen" sei. Präzises Schreiben klingt auch gut. Aber was bedeutet das? Es soll offenbar etwas möglichst genau, präzise, exakt formuliert werden, damit es Poesie und preiswürdig ist. Nur was soll so formuliert werden? Eine Empfindung? Eine Schlussfolgerung? Eine Idee? Eine Position? Etwas, was wirklich stattgefunden hat, im Sinn eines Berichts? Auf jeden Fall soll etwas getroffen werden, so genau wie irgend möglich.

Das möchte ich prüfen. Anhand einer Passage aus Umkämpfte Zone. Das ist, wie Ines Geipel selbst sagt, eine "Hybride", also eine Mischung aus Poesie, persönlicher Erinnerung, Fakten und Wertungen. Je nachdem, welche Textsorte bzw. Quelle man zugrunde legt, könnte Präzision bzw. Genauigkeit etwas Verschiedenes bedeuten. Es könnte heißen, dass eine Empfindung oder eine Schlussfolgerung sehr treffend und unverwechselbar wiedergegeben wird. Es könnte heißen, dass ein Ereignis oder ein "Faktum" sehr exakt und in allen seinen Facetten beschrieben wird.

Die Passage lautet: „Die Nullerjahre. Neben äußerem Aufbau, Neukonsolidierung und Bauboom waren das laut Statistik für die Postdiktatur Ost vor allem Jahre drastisch steigender Gewalt, zunehmender Kinderarmut, einer dreifach höheren Zahl innerfamiliärer Tötungsdelikte als im Westen oder dem um vier Jahre früher liegenden Drogeneinstiegsalter bei Jugendlichen“ (Umkämpfte Zone, S. 225).

Da stellen sich ein paar Fragen. Die erste: Was ist die „Statistik für die Postdiktatur Ost“? Sie wird hier als Quelle und Gewähr für eine düstere Gesellschaftsdiagnose hergenommen. Die Autorin ruft eine Statistik als Zeugin herbei. Eine Statistik, die offenbar exakte Zahlen zu bieten hat ("dreifach höhere Zahl", "vier Jahre früher"). Sie steuert hier also selbst eine bestimmte Art von Genauigkeit oder Präzision an, eine statistisch abgesicherte Genauigkeit. Ihre persönliche Wahrnehmung genügt ihr nicht, sie möchte auf etwas zahlenmäßig Exaktes verweisen. Kann sie das?

So etwas wie eine offizielle „Statistik für die Postdiktatur Ost“ habe ich vergeblich gesucht. Offenbar soll es sich teilweise um eine Zeitreihe handeln („drastisch steigend“, „zunehmend“), teilweise um eine vergleichend angelegte Statistik („als im Westen“). Eine statistische Untersuchung, die diese recht disparaten Zwecke verfolgt, ist nicht zu identifizieren. Es scheint sich hier um eine Zusammenstellung ganz verschiedener Untersuchungen zu handeln. Aber auch unter dieser Maßgabe habe ich nur für eine dieser Behauptungen eine Quelle finden können. Diese allerdings ist eine Sache für sich.

Schritt für Schritt: Die "dreifach höhere Zahl innerfamiliärer Tötungsdelikte" dürfte zurückgehen auf verschiedene Äußerungen des Kriminologen Christian Pfeiffer in diversen Medien, zuerst Anfang August 2005. Exemplarisch: „Nach seinen Worten ist das Risiko von Kindern unter sechs Jahren, einem Gewaltverbrechen zum Opfer zu fallen, fast dreimal höher als im Westen“ (https://www.rundschau-online.de/raetselraten-ueber-die-gruende-11423692?cb=1637582885469&). Zunächst mal ist festzuhalten, dass es hier nicht um "innerfamiliäre Tötungsdelikte" insgesamt geht, sondern um Tötung kleiner Kinder, also eine Teilmenge. Präzision, Genauigkeit? Aber eine Aussage in Tageszeitungen wird auch dann nicht zur Statistik, wenn sie mehrfach getroffen wird. Suchen wir also die Statistik, die diesen Aussagen zugrundeliegt. Offenbar handelte es sich um eine Auswertung der Polizeilichen Kriminalstatistik. Es gibt tatsächlich (spätere) wissenschaftliche Veröffentlichungen zum Kindsmord, die sich unter anderem mit dieser Frage befassen.

Fündig wird man zum Beispiel hier. Berichtet wird in dieser 68 Seiten starken Expertise unter anderem über ein Projekt Tötungsdelikte an Kindern, das vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen durchgeführt wurde. Das damals noch nicht abgeschlossene Forschungsvorhaben behandelte generell Tötungsdelikte in der Bundesrepublik an unter sechsjährigen Kindern, eine „kleine, doch sehr heterogene Deliktsgruppe“. Die größte Gruppe darunter sind die Neonatizide, also die Tötung Neugeborener (meist durch die Mutter). Auf genau zwei Seiten der Expertise werden Zahlen aus Ost- und Westdeutschland verglichen. Das Ergebnis wird angemessen vorsichtig formuliert: „Im gesamten Zeitraum (mit Ausnahme des Jahres 2003) ist auf der Basis der Daten der PKS für die untersuchten Delikte eine höhere Belastung der neuen Bundesländer festzustellen … Ob dieser Befund einen tatsächlichen Unterschied abbildet und welche Gründe es hierfür ggf. gibt, ist Gegenstand heftiger medialer Debatten gewesen. Zunächst ist festzuhalten, dass bei einem insgesamt seltenen Delikt und einer vergleichsweise kleinen Zahl möglicher Opfer (Anzahl der Geburten im entsprechenden Gebiet und Zeitraum) schon wenige Delikte ausreichen, um die Opferziffer deutlich zu beeinflussen. So ist etwa der sehr hohe Wert für die neuen Länder in 2006 wesentlich auf einen absoluten Ausnahmefall mit neun tot aufgefundenen Neugeborenen in Brandenburg zurückzuführen.“ Die Autorinnen gehen davon aus, dass diese Unterschiede fast ausschließlich auf Neugeborenentötungen zurückgehen. Sie reflektieren ausführlich die Probleme der Polizeilichen Kriminalstatistik, die für eine solche Analyse eigentlich nicht geeignet ist, weil dort "Kindstötung" und erst recht "Neugeborenentötung" als Kategorien gar nicht existieren. „Im Ergebnis bleibt zur Frage der Häufigkeit von Neugeborenentötungen in den neuen und den alten Ländern festzuhalten, dass einiges für eine gewisse Höherbelastung in den neuen Ländern spricht. Die Datenlage ist jedoch mit zahlreichen Unsicherheiten behaftet, Erfassungsunterschiede sind nicht völlig auszuschließen. Über die Ursachen möglicher Unterschiede lässt sich nur spekulieren. Betont sei allerdings, dass sich die Tatverläufe und -dynamiken nach allen unseren bisherigen Auswertungen regional nicht unterscheiden, und insbesondere die in der öffentlichen Debatte gelegentlich suggerierte planvolle Tötung von Neugeborenen in allen Regionen nur in absoluten Ausnahmefällen vorkommt.“ Auf den restlichen über 60 Seiten wird auf dieses Thema nicht mehr eingegangen.

Es gibt jedoch einen neueren Stand. Das Projekt wollte nämlich mittels einer Vollerhebung aller aktenkundig gewordenen Kindstötungsfälle die "Tötungsdelikte an Kindern" näher untersuchen. Der Bericht liegt seit 2015 vor. Da sieht es wieder anders aus. Übrig bleibt letztlich zum Thema Ost/West ein Befund: Im Teilbereich der Neugeborenentötungen (und nur dort) gab es im Untersuchungszeitraum in vier ostdeutschen Bundesländern eine etwas erhöhte Rate bei insgesamt extrem niedrigem und weiter sinkendem Niveau. Ob das tatsächlich auf eine erhöhte Inzidenz zurückgeht, wagen die Bearbeiterinnen gar nicht mit Sicherheit zu sagen.

In welchem Sinn ist Geipel hier genau und präzise? Offensichtlich nicht im Sinn einer exakten Wiedergabe von Forschungsergebnissen oder statistischen Analysen. Sie kontaminiert nicht nur die Rate der Neugeborenentötungen mit der "Zahl innerfamiliärer Tötungsdelikte" (worunter ja eine große Zahl von Tötungen des Partners/der Partnerin fallen müsste), sie unterlässt auch jeglichen Hinweis darauf, dass es sich entsprechend um sehr kleine absolute Zahlen handelt und dass diese Zahlen mit großen Unsicherheiten behaftet sind. Und es handelt sich auch nicht um eine "Statistik für die Postdiktatur Ost", sondern um eine allgemeine Untersuchung von Kindstötungen in der Bundesrepublik Deutschland, bei der am Rande auch ein statistischer Unterschied zwischen einigen ostdeutschen Bundesländern und den westlichen Bundesländern festgestellt wurde.

In welchem Sinn dann? Dazu ist es nötig, die Genese dieser Textpassage zu verfolgen. Und das ist möglich, denn diese Angaben hat sie mit Variationen schon weit öfter veröffentlicht. Die erste Veröffentlichung, die ich auffinden konnte, war in der Berliner Zeitung vom 5. August 2005, also zum Zeitpunkt des Erscheinens der Umkämpften Zone bereits 14 Jahre alt. In diesem Zeitungsartikel schreibt Geipel, ganz im Sinn der aktuellen Passage: „Sprachlosigkeit, zunehmende Kinderarmut, eine drastische Gewalt- und Missbrauchsbereitschaft, die dreifach höhere Zahl innerfamiliärer Tötungsdelikte oder der um vier Jahre tiefer liegende Drogeneinstieg von Jugendlichen - das sind Fakten des Ostens gegenüber dem Westen, die ausreichen sollten, um öffentlich über die längst bekannte Gesellschaftswüste zu sprechen.“ Acht Tage später sagt sie's in der WELT: „Von einer drastischen Gewalt- und Mißbrauchsbereitschaft in den Familien, der dreifach höheren Zahl innerfamiliärer Tötungsdelikte, dem um vier Jahre tiefer liegenden Drogeneinstieg bei ostdeutschen Jugendlichen, der höheren Zahl von getöteten Ausländern, einer zunehmenden Faschisierung der Ostprovinzen ist mittlerweile überaus deutlich die Rede. Fakten eines Erosionsprozesses der ostdeutschen Gesellschaft, die längst auf den Tisch gehören und in eine seriöse gesamtdeutsche Debatte.“ Ein Verwertungsende ist nicht abzusehen: 2020, im neuen Nachwort zu Generation Mauer, taucht der Satz wortgleich wie in der Umkämpften Zone wieder auf. Ebenso in einem neuerlichen Essay, 2020 „exklusiv für die radioTexte auf Bayern 2 geschrieben“ (https://www.br.de/kultur/ines-geipel-ueber-dreissig-jahre-einheit-100.html). (Was man dort auch findet, ist das interessante Eingeständnis: „Zahlen sind immer schwierig, aber …“). Wortidentisch erneut 2021 in einem Essay Geipels in Thomas Mirows Sammlung "Demokratie in Bedrängnis".

Zunächst mal wird daran offensichtlich, dass die oben angegebenen Untersuchungen für Geipels Angabe keine Rolle gespielt haben können. Sie lagen im August 2005 noch nicht mal vor, als die Autorin das erste Mal ihre Formel von der "dreifach höheren Zahl innerfamiliärer Tötungsdelikte" an die Öffentlichkeit brachte. Damals lagen nur Aussagen Pfeiffers in Tageszeitungen vor. Dass es ihr auf die "Statistiken" nicht ankam, ist auch unschwer daran zu sehen, dass sie kein Interesse daran gezeigt hat, die Veröffentlichungen der einschlägigen Forschungsergebnisse zu recherchieren. Ihre Formel stand bereits im August 2005 fest und wurde nurmehr recycelt, Prüfungs- oder Korrekturbedarf sah die Autorin nicht.

Aufschluss über den Sinn dieser Formulierung gibt ihre Urszene 2005. Geipel schaltete sich damit in eine öffentliche Debatte ein. Der brandenburgische Innenminister Jörg Schönbohm war in einem Tagesspiegel-Interview am 3. August 2005 zu einem spektakulären Fall von Kindstötung befragt worden: In Brieskow-Finkenheerd waren neun Babyleichen gefunden worden. Die Kinder waren, wie sich herausstellte, von ihrer Mutter gleich nach der Geburt umgebracht worden, wohl über die Jahre verteilt seit 1988. Er stellte einen Zusammenhang her zu anderen Ereignissen: einem Fall von tödlich geendeter Kindesvernachlässigung 1999 in Frankfurt/Oder, einem ähnlichen Fall in Cottbus 2004 und einem von rechtsextremistischen Jugendlichen begangenen Mord 2002. Und er äußerte die Auffassung, "dass die von der SED erzwungene Proletarisierung eine der wesentlichen Ursachen ist für Verwahrlosung und Gewaltbereitschaft". Es ist anzumerken, dass diese Äußerungen im Bundestagswahlkampf getätigt wurden. Gerhard Schröder hatte im Bundestag die Vertrauensfrage gestellt und im Juli waren vorgezogene Neuwahlen angesetzt worden, für die der eben aus PDS in "Die Linke" umbenannten Partei gute Ergebnisse vorhergesagt wurden. Schönbohm erntete dafür scharfe Kritik aus allen Parteien, aber auch Zustimmung.

Am selben Tag behauptete Christian Pfeiffer in einem rbb-Gespräch, Kindsmorde träten in Ostdeutschland gehäuft auf und die Ursachen dafür müssten näher untersucht werden (zu den Grundlagen dieser Behauptung siehe oben). In diversen Medienzitaten wurde seine Angabe einer dreimal höheren Opferziffer bei Kindstötungen wiedergegeben, die auf eine Analyse der Polizeilichen Kriminalstatistik zurückgehe (dazu ebenfalls siehe oben). Am Folgetag veröffentlichte Frank Jansen, der bereits das Tagesspiegel-Interview mit Schönbohm geführt hatte, in derselben Zeitung einen Artikel, der bereits fast alle Zutaten von Geipels einen weiteren Tag später folgenden Wortmeldung in der Berliner Zeitung enthielt (mit einer Ausnahme: der kontrafaktischen Behauptung, das Drogeneinstiegsalter im Osten liege vier Jahre niedriger als im Westen - woher das stammen soll, ist mir trotz ausgedehnter Recherche völlig schleierhaft). Überschrieben war er "Tote Seelen". Er schrieb: " Doch wer sich mit Brandenburg über einen langen Zeitraum befasst, sieht nicht nur idyllische Landschaften, sanierte Städte, Dörfer und Straßen. Man stößt auch auf eine Topografie des Horrors. Des eklatanten Mangels an Mitgefühl, der mentalen Verwahrlosung, der Gewalt bis hin zum Exzess." Schönbohms Schuldzuweisung enthalte "eine der vielen bitteren Wahrheiten …, die Teile der politischen Klasse und der Bevölkerung verdrängen". Zur Beglaubigung dieses düsteren Bildes nennt er die "erschreckende" Pfeiffer'sche Zahl. In der Folge ist davon die Rede, dass "sich in Brandenburg mit seinen gerade mal 2,5 Millionen Einwohnern exzessive Gewaltverbrechen so auffällig häufen wie nirgendwo sonst in der Republik".

Genau diese Kerbe ist es, in die Geipel tags darauf schlägt. Was ihr bis in die Gegenwart konserviertes finsteres Bild konstitutiert, ist der Diskurs dieser Augusttage: ein Bild aus einer Erregungswelle des Wahlkampfs 2005, aber in seinen gegenwärtigen Wiederholungen abgeschnitten von allen konkreten Kontexten, in denen es stand. Die "Statistik für die Postdiktatur Ost" steht für eine Stimmung, die Geipel offenbar für weiterhin gültig hält, und einen Diskurs, in dem eine "Statistik" als wissenschaftliche Beglaubigung dieser Stimmung angeführt wurde. Man kann sagen: "Präzise" ist nicht Geipels Angabe, "präzise" ist nicht die Aussage über die ostdeutsche Gesellschaft, "präzise" daran ist vielmehr, dass ein Stimmungsbild ein ums andere Mal fortgeschrieben wird. Auf den "personal essay" bezogen: Geipel gibt hier wieder, was sie an Presseartikeln damals beschäftigt, aufgeregt und zur Diskursteilnahme bewogen hat. Sie gibt nicht statistische Daten wieder, nicht Ereignisse oder gar Fakten, obwohl sie dies vorgibt; sie gibt eine persönliche Empfindung, eine Diskursstimmung wieder. Das waren für sie die "Nullerjahre".

Was aber ist es, das ihr an dieser Stimmung so konservierungswürdig erscheint? Warum glaubt sie, dass diese dekontextualisierten Wiederholungen etwas heute Relevantes treffen, was will sie mit ihnen sagen, und warum kommen sie an und werden als "präzise" gewertet? (In seinem 2022 erschienenen Buch "Nullerjahre", ähnlich wie Geipels Werk als "personal essay" aufgemacht, zitiert Hendrik Bolz genau diese Stelle. Er hat sicher nicht die "Statistik für die Postdiktatur Ost" recherchiert, aber er scheint zu meinen, dass dieses Zitat etwas trifft.)

Es gibt einige Hinweise auf eine Antwort. Denn eine der Konstanten im damaligen (und nicht nur damaligen) Diskurs war der Begriff des Opfers. Insbesondere der Partei Die Linke wurde vorgeworfen, sie stilisiere "die Ostdeutschen" zum Opfer, der Treuhand, einer Kolonisierung, sie verkaufe sich als die Partei der Zu-kurz-Gekommenen. Michael Kumpfmüller hat das in der Zeit damals auf den Punkt gebracht ("Die Schuldfrage"). Und Ines Geipel sieht es auch so: Der Osten brauche "die faire Chance, aus seinem politischen Objektstatus herauszukommen". Überraschend an dieser Kritik ist freilich, dass der Opferbegriff in Geipels Reden keineswegs verschwindet, sondern sogar noch stärker akzentuiert wird. Das hat eine gewisse Logik: Die Ostdeutschen suchen sozusagen die Täter, die ihnen das angetan haben, an der falschen Stelle. Sie sollten sich als Opfer des Kommunismus sehen (der praktischerweise nicht mehr vorhanden ist), nicht als Opfer einer westdeutschen Kolonisierung. An Geipels Standardthema, dem staatlich organisierten Doping im Osten, sieht man das sehr gut: Sie widerspricht vehement dem Versuch, die Tatbeiträge der (dopenden/gedopten) Sportler auszuleuchten, sie sind nichts als Opfer kommunistischen Zwangsdopings.

Wichtiger noch ist aber wohl die Konsequenz: Diese Opfergeschichte soll ja nicht passiv sein. Sie lässt sich auch nicht durch materielle Gratifikationen ausgleichen ("Aufbau, Neukonsolidierung und Bauboom"). Die angerichtete Gesellschaftswüste verlangt von ihnen Aufarbeitung, Therapie. Die Opfer sollen, wie es die Autorin ihnen in ihren Büchern vormacht, sich mit ihrer Geschichte aktiv auseinandersetzen. Und das bedeutet nicht: mit dem, was sie getan haben, sondern: mit dem, was ihnen angetan wurde. Das Vokabular ist psychoanalytisch, die Therapie aber nicht, denn es geht nicht um die eigene Identifikation, das eigene Handeln, die eigene Zustimmung. Wie ihre Fragebatterie deutlich macht: "Warum sich nicht gemeinsam hinsetzen und so verantwortlich wie nötig das vorhandene Wertevakuum des Ostens in den Blick nehmen? Wie lebt es sich dauerhaft in einem Käfig? Weiß jemand, wie lange das Ausatmen autoritärer Strukturen dauert? Was geben Menschen später weiter, wenn ihnen in den Schulen immerzu gesagt wird, sie hätten ihre Kinder zum Hass zu erziehen? Wie groß kann eine Welt in den Köpfen überhaupt werden, wenn sich die reale in jeglicher Abwesenheit des Fremden einzurichten hat? Wie kommt der Einzelne zu einem eigenen inneren Raum, zu innerer Souveränität, wenn das Recht auf diesen Raum durch das Hineinleben der anderen immerzu torpediert wird?" Wertevakuum, Käfig, autoritäre Strukturen, "ihnen wird gesagt", das muss man, so Geipel, aufarbeiten. Es ist diese innere Reinigung von der Kontamination mit der schlechten Vergangenheit, die Heilung verspricht.

Eine recht schlichte Geschichte. Jürgen Große hat kommentiert, dieses geschichtstheologische Erzählmuster habe seine Blütezeit im Kalten Krieg erlebt, erweise sich aber heute offensichtlich wieder als attraktiv und werde in den Feuilletons geradezu "andächtig" gefeiert. Und ich kenne es als Westler auch sehr gut, dieses Erlösungsmotiv: Kommen wir erst all den Verletzungen auf die Spur, die uns die Welt und nicht zuletzt unsere Eltern (inkl. Vater Staat) zugefügt haben, dann können wir Befreiung finden. Ein Motiv freilich auch, das zur Selbsterkenntnis nicht sonderlich geeignet ist, eher zur Illusionsbildung. Mit der "Statistik für die Postdiktatur Ost" hat das nichts zu tun, sie spielt keine tragende Rolle in dieser Erzählung, nur eine stützende. Vielleicht kommt es daher, dass sich kein einziger Rezensent zu fragen scheint, ob es denn eigentlich stimmt, was da steht.

Literatur:

  • Jürgen Große: „Unversorgte Seelenwunden.“ Traumageschichte, Erlösungswissen und personal essay bei Ines Geipel. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Jg. 94 (2020), H. 1, S. 103–120.
  • Kathleen Heft: Kindsmord in den Medien. Eine Diskursanalyse ost-westdeutscher Dominanzverhältnisse. Budrich Academic Press, Opladen/Berlin/Toronto 2020.
  • Theresia Höynck, Ulrike Zähringer, Mira Behnsen: Neonatizid. Expertise im Rahmen des Projekts „Anonyme Geburt und Babyklappen in Deutschland – Fallzahlen, Angebote, Kontexte“. Deutsches Jugendinstitut, München 2012.
  • Theresia Höynck, Mira Behnsen, Ulrike Zähringer: Tötungsdelikte an Kindern unter 6 Jahren in Deutschland. Eine kriminologische Untersuchung anhand von Strafverfahrensakten (1997–2006). Springer VS, Wiesbaden 2015.

Quellen:

  • tso: Schönbohm: SED-Regime mitverantwortlich. Der Tagesspiegel, 2. August 2005, [1] (Interview mit Schönbohm)
  • Frank Jansen: „Da befällt einen die wilde Schwermut“. Innenminister Schönbohm sucht nach Erklärungen für Gleichgültigkeit und Verwahrlosung. Der Tagesspiegel, 3. August 2005, [2] (dasselbe Interview mit anderem Aufmacher)
  • Sven Kästner/AP: Säuglingstötungen. Ist die DDR mitschuldig? Stern, 4. August 2005. [3] (mit Pfeiffers Aussagen)
  • Frank Jansen: Tote Seelen. Immer wieder ist Brandenburg Schauplatz unvorstellbarer Tragödien. Eine Topografie des Horrors. Der Tagesspiegel, 4. August 2005, [4]
  • Ines Geipel: Was ist da los? Neun tote Babys und das Wertevakuum im Osten. Berliner Zeitung, 5. August 2005. [5] (archivierte Fassung)
  • Stefan Wirner: „Die Verrohung nimmt nicht zu.“ Jungle World, 10. August 2005. [6] (Interview mit Pfeiffer)
  • Michael Kumpfmüller: Die Schuldfrage. Die Diskussion um die Kindstötungen in Frankfurt/Oder macht deutlich: Es ist fatal, wenn sich der Osten Deutschlands fortwährend als Opfer begreift. Zeit, 11. August 2005. [7]
  • Ines Geipel: Im Land der verordneten Liebe. Welt, 13. August 2005. [8]
  • Ines Geipel: Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass. Klett-Cotta, Stuttgart 2019
  • Ines Geipel: Generation Mauer. Ein Porträt. 2. Auflage. Klett-Cotta, Stuttgart 2020
  • Ines Geipel: Ost wie West als Phantomgeschichte. BR KulturBühne, 1. Oktober 2020. [9], archiviert unter [10]
  • Ines Geipel: Demokratie unter der Last der Gedächtnisblockaden. Von der Unwucht ostdeutscher Geschichtsversöhnung. In: Thomas Mirow (Hrsg.): Demokratie in Bedrängnis. Warum wir jetzt gefragt sind. Berichte zur Lage der Nation. Murmann, Hamburg 2021
  • Hendrik Bolz: Nullerjahre. Jugend in blühenden Landschaften. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022